Rainer Baasner

DIGITALISIERUNG – GEISTESWISSENSCHAFTEN – MEDIENWECHSEL?
HYPERTEXT ALS FACHGERECHTE PUBLIKATIONSFORM

In der CD-ROM-Reihe »Epochen der deutschen Literatur« ist das erste Volumen Aufklärung und Empfindsamkeit im Oktober 1998 als Verlagsprodukt erschienen. Es handelt sich um eine der ersten fachorientierten Anwendungen, die weitgehend auf einer internen Hypertextstruktur beruhen. Über zwei Jahre Entwicklungsarbeit haben so ein für die Autoren und das gesamte Team erfreulich positives Ende gefunden. Die Vielfalt der Anforderungen, die von einem solchen Projekt ausgehen, hat sich trotz gewisser Schwierigkeiten als beherrschbar erwiesen. Eine traditionelle Monographie zu schreiben, ist im Vergleich sehr entspannend. Dazu kommt bei der aufwendigeren Medienproduktion die kostenseitige Komponente, die gewisse marktgesetzliche Erwägungen erzwingt. Ganz ohne Initialförderung wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen, ein durch das Hochschul-Sonderprogramm III geförderter Internet-Prototyp gab wichtige Hinweise für das weitere Vorgehen. Die Reihe wird fortgesetzt, andere Projekte sind ebenfalls in Planung: Jetzt scheint es an der Zeit, aus der Erfahrung heraus einmal mehr auch in allgemeinen Erwägungen Partei für die Publikation in Hypertext-Form zu ergreifen.

0. ZUM STAND DER DIGITALISIERUNG

Computer bestimmen – überwiegend als vernetzte oder alleinstehende Personalcomputer – den Arbeitsalltag, zunehmend auch in den Geisteswissenschaften. Die anfängliche Skepsis, ja Ablehnung ihnen gegenüber scheint auch dort allgemein überwunden, einige letzte aufrechte Verächter und Verweigerer gemahnen uns nur noch mit Außenseiterstatus an andere mediale Zeitalter. Und trotzdem herrscht im Umgang mit digitalen Medien weiterhin ein gereizter Ton. Digital gespeicherte Wissensbestände, vor allem aber die kommunikativen Möglichkeiten der Vernetzung, die unter dem Schlagwort ›Internet‹ geradezu sprichwörtlich geworden sind, rufen Unsicherheit, Unwillen und nicht selten neue Ablehnung hervor. Geisteswissenschaftliche Kompetenzen, in Curricula zu ›Schlüsselqualifikationen‹ mystifiziert, werden nur zögernd um den Programmpunkt ››Medienkompetenz Computer‹‹ erweitert.

Diesem Schritt gehen, wenn er denn erfolgt, in den seltensten Fällen grundlegende Reflexionen oder wenigstens Bestandsaufnahmen über die spezifischen medialen Merkmale voraus – mehr resignativ reagierend als selbstgewiß konzipierend wirkt das Verfahren. Und wissenschaftlich fundierte inhaltlich-methodische Projekte zur Computer-Applikation in den Geisteswissenschaften verschleißen sich derzeit noch in Legitimationsdebatten, in die sie von der notorisch großen Nachhut der ›Papiertiger‹ aus den eigenen Fächern verwickelt werden. Das Problem wird ansonsten von den Wissenschaften ausgelagert an eine Medienpädagogik, die ihrerseits mit der Vermittlung von inhaltsbezogener Kompetenz überfordert ist.

In derartigen Debatten wird zunächst eines übersehen: Es steht längst nicht mehr in der Macht geisteswissenschaftlicher Fachrepräsentanten, die kommunikativen Strukturen mitzubestimmen, sei es in der scientific community, in einer fachlich interessierten Öffentlichkeit oder gar im globalen Wissenshaushalt. Wer dramatische Metaphern liebt, pflegt zu sagen, der ›Zug sei abgefahren‹. Um im Bild zu bleiben, müßte man dann auch schlußfolgern, daß sich die Geisteswissenschaftler nun, gelegentlich des öffentlichen Wandlungsdrucks eingedenk, am stillgelegten Bahnhof treffen, um Reisepläne zu machen. Das aber kann und soll nicht so bleiben.

In der Frage, ob und wie weit in den Geisteswissenschaften computergestützte Verarbeitungs- und Informationssysteme zugelassen, empfehlend eingeführt, ja für die einzelnen Wissensgebiete konsequent und spezialisiert entwickelt werden sollen, hat die soziale Umgebung längst zwingende Maßstäbe gesetzt. Es steht den Geisteswissenschaften nicht mehr frei, sich aus den wandlungsintensiven Bedingungen der Kommunikation herauszuhalten. Und wenn dies, wie es gegenwärtig noch gelegentlich der Fall zu sein scheint, von einer Mehrheit im Stillen oder lautstark gefordert wird, dann um den Preis der Selbstmarginalisierung. Vereinfachend gesagt: Was jetzt im Internet als Wissensbestand und Geltungsanspruch nicht angemessen markiert wird, kann mittelfristig bereits von der Weltkarte der geläufigen Kenntnisse verschwunden sein. Es gerät, wenn es für eine computergestützte Benutzung nicht in mediengerechter Form zur Verfügung steht, an den Rand jenes Feldes, das als Raum des allgemein Wissenswerten betrachtet werden kann. Stoffe, die darin nicht vorhanden sind, werden schnell zum Spezialwissen, zum Gegenstand für Sammler, zum Arkanum für Sonderlinge. Das kann man für die Geisteswissenschaften natürlich in Kauf nehmen, etwa mit der Begründung, daß eine postmoderne ›Informationsgesellschaft‹ ohnehin den Sinn für eine geisteswissenschaftlich orientierte Kultur verlieren werde. Als Konsequenz freilich böte sich dann auch die Tilgung aus den Curricula an, denn die Kanonisierung von Wissensbeständen im Bildungssystem, die zugleich in der Konkurrenz der Informationen als überflüssig eingeschätzt werden, wäre ein wenig plausibles Kuriosum.

Diesem kulturpessimistischen Standpunkt soll hier ein gegenteiliger entgegengesetzt werden: Indem sich Geisteswissenschaften an der Präsentation ihrer Gegenstände und Methoden im digitalen Informationsraum beteiligen, können ihre spezifischen Angebote und Leistungen in einem größeren Rahmen Geltung beanspruchen. Die Möglichkeiten dazu sowie die Voraussetzungen sind allerdings gründlich zu prüfen und zu überdenken.

Vor jedem Versuch einer zukunftsorientierten Reflexion scheint zunächst jedoch eine Bestandsaufnahme angebracht.

1. COMPUTER ALS SCHREIB- UND DRUCKWERKZEUGE

Wenn die Grenzziehung zwischen einer traditionellen Buchkultur und einer neuartigen Computerkultur habituell bemüht wird, bleibt dabei eines meist geflissentlich unerwähnt: Satz, Gestaltung und Druck von Büchern sind ohne computerbasierte Technik nicht mehr denkbar. Das gilt in besonderem Maße für den Bereich geisteswissenschaftlicher Fachliteratur. Mit dem zunehmenden Zwang zur Ablieferung reprofähiger Vorlagen (in der Regel als Ausdrucke auf dem Laserdrucker) werden sogar die wissenschaftlichen Akteure selbst zur Anwendung dieser Technik gedrängt. Daher scheint es problematisch zu behaupten, Bücher bildeten einen grundsätzlichen Gegensatz zu Darstellungen auf Computern; sie seien nur der auf Papier wiedergegebene Inhalt von Computerpräsentationen. Verräterisch, was die Treue und Sachkenntnis der Bücherliebhaber in ihrem Traditionsmedium im Hinblick auf handwerkliche und ästhetische Standards angeht, sind die in den Geisteswissenschaften verwendeten Printmedien allemal: Graphische, besonders typographische Lösungen haben sich gegenüber den Zeiten professionellen Licht- oder gar Bleisatzes systematisch verschlechtert. Das mag zusammenhängen mit den geringen technischen Fähigkeiten mancher verwendeten PC-Programme oder mit der geringen Bereitschaft ihrer Anwender, sich auf das Problem einzulassen. (Daß auch im PC-Bereich schon Anfang der 1990er-Jahre ansprechende und handwerklich befriedigende Lösungen möglich waren, beweisen die Arbeiten engagierter Verlage wie zum Beispiel Wallstein).

Daß wissenschaftliche Akteure weder über die Kenntnisse noch den kritischen Blick von Graphikern, Setzern und Druckern verfügen, ist kein Wunder, der pure Zwang zur Herstellung eigener Druckvorlagen kann Ausbildung und Berufserfahrung aus diesem Bereich nicht über Nacht ersetzen. Bemerkenswerter an dieser Situation jedoch bleibt, daß die vielen emphatischen ›Gutenberg-Jünger‹, die sich allenthalben gegen die Computer und für eine Buchkultur stark machen, zu keinem Zeitpunkt Alarm geschlagen haben: ungeeignete Schriftschnitte, lesefeindlicher Durchschuß, unpassende typographische Zeichen, ungeschickter oder unästhetischer Satzspiegel, augenfeindliche Papierfarben und vieles andere mehr. Nichts, aber auch gar nichts in der Erscheinung der Fachbücher konnte die sogenannten Buchfreunde zum Widerspruch, zum Veto aus einem Bewußtsein kultureller Besitzstandwahrung heraus aufstacheln.

Die Buchpublikation in den Geisteswissenschaften hängt also fast ausschließlich von Computern ab. Deren Technik hat sich nicht nur durchgesetzt, sie setzt nun auch die (fragwürdigen und weithin unnötig unbefriedigenden) Standards der Schriftgestaltung.

2. DIGITALISIERTE TEXTE

Unter der Voraussetzung, daß praktisch alle auf Papier zu druckenden Texte mittlerweile zuerst auf dem Computer erfaßt sind, wäre ihre Präsentation als digitale Konvolute naheliegend. Diese Darbietungsform gewinnt jedoch erst langsam an Bedeutung. Dabei steht aber nicht im Vordergrund, neue Texte und Textfassungen bei ihrem ersten Erscheinen schon auf Computer oder wenigstens in zwei Formaten – auf Papier und digital – anzubieten, häufiger vorgenommen wird die Re-Digitalisierung älterer, bewährter Print-Ausgaben (zum Beispiel Lexika, Werkausgaben).

Die Anwendungsbereiche der beiden Publikationsformen sind dabei sehr unterschiedlich: Papier dient eher der zusammenhängenden Lektüre (die am Bildschirm unangenehm, ja medizinisch bedenklich ist), die digitalen Dateien ermöglichen hingegen das schnelle Auffinden bestimmter Stellen sowie insgesamt die rasche und einfache Weiterverarbeitung auf dem Computer. Als Bedingung für die letzteren Verwendungen gilt freilich, daß eine geeignete Maschine ohnehin zur Verfügung steht und nicht für jeden Zugriff extra gestartet werden muß – dann nämlich kann von schnellem Zugriff gegenüber einem kopräsenten papierenen Nachschlagewerk nicht mehr die Rede sein. Neben der problemlosen Suchmöglichkeit bieten die digitalen Fassungen weiterhin den Vorteil, weniger Lagerraum einzunehmen – bei dem gleichzeitigen Nachteil, daß sie pflegeintensiv sind und ihre Lagerfähigkeit insgesamt unsicher bleibt (respektive angesichts fehlender Langzeiterfahrungen umstritten ist).

3. BIBLIOTHEKSSYSTEME UND DATENBANKEN

Alle Datenbanken bieten auf Computern große Vorzüge gegenüber papierenen Nachschlage- und Findsystemen. Mit der Menge der aufgenommenen Daten wächst im Vergleich die relative Leichtigkeit des Zugriffs überproportional an. Die Durchsetzung solcher Systeme hat sich innerhalb kürzester Zeit auf breitem Terrain bewährt. Die Anzahl der spezifisch geisteswissenschaftlichen Anwendungen dabei bleibt vergleichsweise gering, da deren einschlägige Datensätze in der Regel auch Bestandteil von Datenbanken mit allgemeinerem Zuschnitt sind. Die Leitung der Exploration und praktischen Erschließung dieses Feldes liegt in der Hand zentraler Bibliotheks- und Informationseinrichtungen, die sich als Dienstleister für die Wissenschaften verstehen.

Letztere haben in Deutschland selten selbst Anregung für eine weitergehende Entwicklung gegeben, auch die zentralen Forschungsförderungseinrichtungen haben sich den Problemen der geisteswissenschaftlichen Netzpräsenz und Datenbankeinführung verschlossen. Aus der Sicht der Germanistik sind die Folgen unerfreulich, ja für die eigenen Arbeiten frustrierend: Der große und in vielerlei Hinsicht marktführende Datenbankanbieter Chadwyck-Healey bietet mit seinem kostenpflichtigen kombinierten Datenbank-Volltext-Angebot (zur Zeit etwa ››German Poetry‹‹) genau jene informativen und philologischen Datensätze weltweit an, die deutsche Einrichtungen, wenn sie denn einen Geltungsanspruch in der Präsentation deutschen kulturellen Wissens erheben wollten, längst hätten vorlegen müssen. Von einer solchen Einsicht und dem Bewußtsein eines kulturellen Auftrags jedoch scheinen koordinierende Stellen oder andere Organisationen, die über hinreichend Einfluß und Reichweite verfügen, weit entfernt.

4. MULTIMEDIA UND HYPERTEXT

Die bisher in Erinnerung gerufenen computergestützten Lösungen bei der Vermittlung von Texten und Daten zur geisteswissenschaftlichen Nutzung treten selten als Konkurrenten zur monographischen Wissensvermittlung durch Bücher auf. Sie stehen damit im Studien- und Forschungskontext außerhalb der gewöhnlichen Kommunikationsströme. Um darin ihren Platz zu finden, müssen sie die medialen Strukturen, die sie monosequentiellen Buchdarstellungen überlegen machen, erst noch für fachliche Belange adäquat entwickeln. Derzeit gibt es für Nutzer nur wenig Anreiz, sich auf solche fachspezifischen Informationssysteme einzustellen, da ihre Zahl insgesamt verschwindend gering ist.

Dieser Zustand markiert die Situation der Geisteswissenschaften im aktuellen medialen Wandel hin zur vielbeschworenen ›Informationsgesellschaft‹: während in fast allen Bereichen alltäglicher und spezialisierter Kommunikation der Computer als Instrument selbstverständlich in den Vordergrund tritt, beschränkt sich die geisteswissenschaftliche Diskussion noch häufig auf einschlägige Debatten zu grundlegenden Bedingungen der Möglichkeit. Zwar sind die Schlagwörter von der ›medialen Revolution‹ und dem ›Internet‹ auch hier in aller Munde, doch verharrt die angesprochene Neuerung im Bereich ebenso vager wie unverbindlicher medientheoretischer – also gezielt folgenloser – Erwägungen, anstatt handlungsleitend zu werden.

Die Notwendigkeit, digitale Dateiformate jenseits einfallsloser und m. E. wenig medienadäquater Digitalisierung bereits gedruckter Texte zu nutzen, läßt sich dabei aus einfachen Überlegungen heraus herleiten: Durch die zunehmende Dichte und den hohen Nutzungsgrad gerade des Internet (diese Einrichtung stehe hier mit ihrem Namen als Platzhalter für weitere existierende und noch zu erfindende Formen digitaler Vernetzungen mit unterschiedlichsten Reichweiten) beginnt sich die Auffassung zu verbreiten, alles wichtige Wissen sei im Netz vertreten. Der Umkehrschluß wird in der Praxis schnell gezogen: Was nicht im Netz vertreten ist, ist entsprechend unwichtig oder nonexistent. Das schließt mit Sicherheit auch die Erwartungen nachwachsender Generationen im Bildungssektor ein. Programme wie ››Schulen am Netz‹‹ sowie die internationalen Fortschritte auch bei der hochschuldidaktischen Einbindung des Netzes bestärken diese Erwartung.

Wenn sich also geisteswissenschaftliche Fächer nicht aufraffen, ihre Inhalte medienadäquat darzustellen, versinken sie rasch als marginale Bereiche des Wissensuniversums in Vergessenheit, zumindest aber in Bedeutungslosigkeit. Erschwerend kommt bei diesem absehbaren Prozeß hinzu, daß der Verlust sozusagen erst bemerkt wird, wenn er längst eingetreten und damit kaum mehr reversibel ist. Solange nämlich noch eine Mehrheit der Fachvertreter allein auf Bücher als Medien setzt, wird der Mangel im Netz kaum auffallen. Und nachwachsende Generationen ihrerseits werden dereinst, da ihre Wahrnehmung durch das Netz vorstrukturiert sein wird, keine Lücke mehr erkennen, weil sie das nicht-digitale Wissensuniversum nicht mehr als Vergleichsgröße heranziehen. So könnte, wenn man denn das Modell einmal zuspitzt, ein innovationsunwilliger Wissensbereich sozusagen in der Differenz der Mediensysteme mittelfristig verloren gehen.

Aus dieser Überlegung heraus ist die Forderung nach eigenen geisteswissenschaftlichen Anwendungen zusätzlich zu begründen. Die technischen Voraussetzungen sind gegeben, sie sind zahlreich und bieten unterschiedliche Möglichkeiten. Eine Anwendbarkeit besteht in Abhängigkeit vom jeweiligen Verbreitungsgrad (der die Schwierigkeiten der Anwendung, die Kostenfaktoren, die Akzeptanz bei Nutzern et cetera regelt), kann aber in den bekannten Grenzen allgemein als umstandslos realisierbar gelten. Allen technischen Voraussetzungen und Möglichkeiten ist darüber hinaus jedoch gemein, daß ihre – zunächst einmal grundlegenden – medialen Strukturen untersucht und reflektiert werden müssen, bevor überhaupt in der Anwendung auf ein bestimmtes Fachgebiet eine passende Repräsentation auf Computermedien entwickelt werden kann.

Unter den diversen Typen möglicher Gestaltung sind zunächst global die Konzepte von Multimedia und Hypertext hervorzuheben. Konzeptionell liegen beide nicht auf einer gemeinsamen Ebene. Multimedia ist der weiterreichende Sammelbegriff, der jedoch als Terminus eingeführt ist und deshalb sinnvollerweise verwendet wird. In echten Multimedia-Anwendungen wirken in einem Computerprogramm Schrift, Graphik, Sprache, Musik zusammen. Oft steigert Bewegung (Animation, Video, Filmsequenzen) der Elemente die Eindringlichkeit der Darstellung. In landläufig als Multimedia bezeichneten Applikationen sind jedoch nicht immer alle Elemente eingesetzt. Solange Text, Bild und Ton zusammenkommt, kann der Terminus benutzt werden (ausgegrenzt sein soll hier allerdings die unzulässig weite Verallgemeinerung, die jeder computergestützten Kommunikation bereits multimediale Eigenschaften zubilligt). Hypertext bezeichnet hingegen eine computerbasierte Textform, in der ein Text nicht monosequentiell oder linear fortläuft, sondern aus mehreren (kleineren) Sequenzen besteht, die miteinander in unterschiedliche Kombinationen eintreten können. Nicht jede Multimedia-Anwendung beruht in ihren Textteilen auf Hypertext, wie auch nicht jeder Hypertext multimedial eingebettet sein muß. Beide jedoch können ihrerseits Graphik einbinden. Abbildungen vermitteln einen visuellen Eindruck von Artefakten und Menschen, weiterhin aber auch – besonders in historischen Anwendungen – visuelle Ausschnitte aus anderen medialen Umwelten und Systemen.

Bunte Graphik, animierte Comics, Videosequenzen, Musik, dreidimensionale graphische Räume – alles, was die ›Cyber-World‹ der Computerspiele und des populären sogenannten Info- oder Edutainments für Jugendliche, Heranwachsende und notorische Computerfreaks auf den ersten Blick besonders reizvoll macht, verbietet sich für die meisten, auch populären geisteswissenschaftlichen Darstellungen. Es hat neben seiner anfänglich reißerischen Qualitäten auch viele Nachteile: Es verschleißt sich in seiner positiven Wirkung rasch und führt dann zum Überdruß, es fordert zu geschmacksgesteuerten Haltungen der Nutzer heraus (die nicht immer positiv ausfallen), es erfordert für komplexe Gegenstände sehr aufwendige Modellbildungen, die ebenso aufwendig graphisch darzustellen sind. Darüber hinaus verbietet es sich für jede Anwendung, die nur für den deutschsprachigen Markt produziert wird, durch horrende Kosten .

Aus den genannten Gründen wird hier empfohlen, aufwendige Multimedia-Lösungen zunächst zu vernachlässigen, um bescheideneren Hypertext-Systemen den Vorzug zu geben. Wenn sie sich auf Textelemente und rein informative statt dekorative Graphiken beschränken, bieten sie günstige Voraussetzungen für eine Realisierung: Sie sind in den Produktionskosten leichter beherrschbar und erfordern weniger technischen Aufwand. Das ist jedoch nur eine äußerliche Bedingung; prinzipiell gilt: Hypertext-Systeme bieten als Computer-Anwendungen die Möglichkeit, geisteswissenschaftliche Inhalte in internetkompatiblen Formen zu präsentieren ferner grundsätzlich Darstellungsweisen zu wählen, die denen von Büchern überlegen sind. Das bedeutet keine prinzipielle Priorität für Hypertexte vor monographischer Printpublikation, sichert dem Computer aber eine eigene starke Stellung in der Medienkonkurrenz.

Die zentrale Strukturierung von Hypertext auf dem Computer entsteht durch die Vernetzung, durch den Absprungsanker im Text, der auf Cursorstellung und Klickbefehl hin den Übergang zum Zielanker einer anderen Textstelle führt. Sprünge dieser Art (Hyper-Links) können Graphiken ebenfalls einbeziehen, insofern ist Hypertext nicht allein auf Textstrukturen im engen Sinn beschränkt. Diese bekannte Beschreibung gilt sowohl für Elemente innerhalb einer Anwendung, als auch für anwendungsüberschreitende Verbindungen. Als Extremfall kann man sich den gesamten Kosmos des Internets als den einen großen Hypertext vorstellen. Diese weite Fassung des Gebietes führt jedoch für eine geisteswissenschaftliche Dienstbarmachung hypertextueller Strukturen nicht weiter. Zur Diskussion stehen hier fachlich begrenzte Strukturen , die kontrollierbar und thematisch eingehegt sind. Ob die Bestandteile freilich auf einer CD-ROM, auf einem Netzserver oder auf deren vielen abgelegt sind, ist tatsächlich unerheblich.

Die einfachsten Nutzungen von Hyperlinks bestehen in Sprüngen zu kurzen kommentierenden oder präzisierenden Texten (Fußnoten/Anmerkungen, Stellenkommentare). Internet-Links, die eine Netzadresse enthalten und den Nutzer mit einem völlig neuen anderen Textfenster konfrontieren, funktionieren im Vergleich dazu sehr unpräzise: Der Stellenkommentar beispielsweise bezieht sich auf kleinstem Raum unmittelbar auf die Stelle, die der Nutzer eingesehen hat, als er den Sprung auslöste, und der Rücksprung führt ebenso wieder an die richtige Stelle im vorausgehenden (Haupt-)Text. Gegenüber einer Buchausgabe wäre hier der Vorteil, daß – wenn bereits die Entscheidung für eine Lektüre am Bildschirm gefallen ist – Anmerkungen und Kommentare schneller, leichter und mit präziserer Plazierung im Blickfeld angesteuert werden können. Es entfallen die von der philologischen Lektüre her bekannten und gelegentlich verspotteten Vorgänge des Blätterns oder Suchens im Anmerkungsteil der Druckseite.

Einen eigentlichen Gewinn im Hinblick auf Strukturierung, Anpassungsfähigkeit an kontextgebundene Lektüre, Geschwindigkeit der Auffindung und Weiterverarbeitung erzielt computergestützter Hypertext gegenüber dem monosequentiellen Buch jedoch erst mit der Anlage gleichberechtigter vernetzter Textelemente. Jeder Vergleich mit einem Buch beginnt hier erheblich zu hinken – ein deutliches Zeichen für die mediale Selbständigkeit und Innovation: Es handelt sich bei den gleichberechtigten Elementen des Hypertextes nicht um chronologische Kapitel wie im Buch und auch nicht um hierarchielose Lexikoneinträge. Erstere stehen in einer festgelegten Reihenfolge und nutzen diese Festlegung für die Argumentation, letztere haben keinen Zusammenhang, da ihre Anordnung durch rein äußerliche Ordnungskriterien (alphabetische Reihenfolge et cetera) geregelt ist. An Hypertext gemahnen bestenfalls ihre internen Querverweise, die mit Hyperlinks verglichen werden können. Ein explizit als solcher verfaßter und strukturierter Hypertext muß diese Vernetzung jedoch in größerem Rahmen nutzen.

Ein Charakteristikum geisteswissenschaftlicher Monographien ist die zusammenhängende Darstellung von Gegenständen erheblicher Komplexität. Deshalb sind Lexika alleine grundsätzlich nicht in der Lage, geisteswissenschaftliches Wissen angemessen darzustellen. Es geht vielmehr um die Entwicklung von Zusammenhängen, aus denen schließlich Bedeutung entfaltet wird, die erst aus der internen Strukturierung des Textes – die methodisch reflektiert vor sich zu gehen hat – entsteht. Hier bietet Hypertext eine große Chance, die jedoch zugleich problematisch bleibt. Die Lektüregewohnheiten der ›Informationsgesellschaft‹ fordern kurze, komplexitätsreduzierte Darstellungen. Wenn eine hypertextuelle Darstellung geisteswissenschaftlicher Stoffe dieser Erwartung durch ihre mosaikförmige Struktur aus kurzen Texteinheiten entgegenkommt, so ist dies zu begrüßen. Auf der anderen Seite muß jedoch darauf geachtet werden, daß das Zerbrechen zusammenhängender Strukturen der Darstellung nicht zur Auflösung des Problemhorizontes, ja der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, führt.

Die Schwierigkeit eines angemessenen Vorgehens, in dem die Komplexität des Gegenstandes und seiner methodischen Darstellung durch hypertextuelle Verknüpfungen aus einem scheinbaren Kaleidoskop gleichrangiger Textstücke erzeugt werden muß, ist durch das entsprechende Scheitern vieler CD-ROMs belegt. In der Regel wird ein – sagen wir beispielsweise historischer – Zusammenhang als Ensemble überlieferter Artefakte und einzelner Ereignisse aufgefaßt, die in einem musealen Raum nebeneinander einzeln zu betrachten sind. Hilflose Programmierer greifen mit erschreckender Einfallslosigkeit zur Metapher des Museums, der Ausstellung. Das ist der beste Beweis für ihre Hilflosigkeit, gerade im graphischen Bereich Historie zusammenhängend zu visualisieren.

Aus diesem Grund scheint es angeraten, geisteswissenschaftliche Darstellungen zunächst auf Textstrukturen aufzubauen. Im Text sind an fast jeder Stelle (zusammenhang- und sinnstiftende) Anschlüsse unterschiedlicher Art möglich. Wenn die syntaktischen und semantischen Strukturen zwischen den verschiedenen Textelementen einer Hypertext-Anwendung invariabel gehalten werden, ferner die Syntax bildschirmgerecht einfach gerät, sind Sprünge aus dem Text in den Kontext eines neuen Fensters leicht möglich und sinnvoll durchführbar. Ziel muß sein, daß das Weiterlesen nach einem Sprung den Lesefluß nicht wesentlich unterbricht. Dies sicherzustellen ist schwierig, hat aber zugleich den Vorteil, daß narrative (Groß-)Formen, wie sie oft in geisteswissenschaftlichen Darstellungen verwendet werden, überwunden werden. Weder ihre Suggestionskraft noch ihre gewöhnliche Redundanz kann in Hypertextstrukturen übersetzt werden. Das stellt in Verbindung mit der nötigen Anschlußfähigkeit bei jedem Sprung Anforderungen an die Autoren von Hypertext-Systemen. Die Sinnerzeugung liegt zu nicht unwesentlichen Teilen in der Anlage geeigneter Hyperlinks. Zwar legen die Nutzer ihre eigenen, individualisierten Pfade während ihrer idiosynkratischen Lektüre an, doch tragen letztlich die Autoren weitgehend die Verantwortung für das Gelingen der Sinnkonstitution.


Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) [Zurück zum Inhaltverzeichnis]