Jürgen Daiber
In einer Zeit der überbordenden Informationsfluten wählt, wer Aufmerksamkeit erregen will, am sinnvollsten das bewährte Mittel der Provokation: Wer laut schreit, wird am ehesten gehört und Klappern gehört zum Handwerk.
Ich stelle an den Anfang meiner Überlegungen zwei Zitate, die unter diese rhetorische Strategie zu subsumieren sind. Zitat eins stammt von Mark Amerika, einem der momentan bekanntesten Hyperfiction-Autoren.[1]
Der Autor, der mit The Kafka Chronicles (1993) und Sexual Blood (1995) immerhin zwei Romane in Buchform veröffentlicht hat, wird in der Ausgabe von Die Zeit vom 8.04.98 griesgrämig blickend abgebildet. Bildunterschrift: »Mark Amerika lehnt Bücher ab.« Die Begründung folgt auf dem Fuße:
Der simple Akt, ein Buch zu lesen und beginnend mit dem Anfang der ersten Seite, von links nach rechts, von oben nach unten, Seite um Seite, bis zum Ende, in einer fortlaufenden und festgelegten Bewegung fortzufahren, ist langweilig und einschnürend geworden.[2]
Die These ist nicht neu. Sie zielt gegen die Festlegung auf Linearität[3], der jeder Leser bei der Lektüre eines Buches angeblich unterworfen ist und die ihn zwingt, den Text auf einer vorgegebenen Route zu durchqueren.
Zitat zwei stammt von Heiko Idensen, einem der führenden Theoretiker deutscher Hypertextkultur und der an sie gekoppelten Debatte. In dem im Duktus eines Manifests gehaltenen Hypertext als Utopie[4] konstatiert Idensen:
Die Mythen der Textgesellschaft - geschlossener Text, Autorenschaft, Legitimation im Kontext der ›großen Erzählungen‹ (Ideologien) - zerfallen in den Interfaces der Informationsmedien, in der Zirkulation unendlich gegeneinander austauschbarer Informationspartikel. Die ästhetische und symbolische Herausforderung der Informationsnetze anzunehmen heißt, endlich mit der Linearisierung der Diskurse, Texte, Medienschaltungen aufzuhören, nicht-referentielles Denken zu produzieren: Hypertext.[5]
Protagonisten des Hypertext-Zeitalters wie Idensen leben im Bewußtsein, an einer Epochenschwelle zu stehen, die zur Auslöschung alles Bisherigen führen wird. Es ist die Welt des World Wide Web, in der nach Angaben des Euro Marketing Associates Institutes bereits im Herbst 1998 12,5 Millionen Netzbenutzer deutschsprachige Angebote wahrnehmen.[6] Das hinter derartigen Expansionszahlen stehende Argument lautet nüchtern formuliert: Die Dominanz eines neuen Schlüsselmediums (Computer, elektronisches Netz) werde zur Abwertung und/oder Auslöschung eines bereits etablierten Schlüsselmediums (Buch, lineare Erzählweise) führen.[7]
Ich habe im folgenden nicht im Sinn, in die vage Diskussion über einen möglichen Todesstoß für die Gutenberg-Galaxis durch die elektronischen Netzwerke einzusteigen, den Medientheoretiker wie Norbert Bolz kassandraartig und weitgehend unbelastet von empirischem Belegmaterial beschwören.[8]
Meine Absicht ist eine andere und vergleichsweise bescheiden. Sie geht in folgende Richtung: Auffällig oft werden die im Moment noch eher spärlichen Produktionen an literarischen Hypertexten[9] genannt und als künstlerischer Ausdruck postmoderner Kulturtheorie gefeiert. George Landow kann hier als jener Theoretiker gelten, der als erster die These einer Konvergenz zwischen Hypertexten und der poststrukturalistischen Literaturtheorie vertreten hat.[10] Landows Hypertext genießt mittlerweile kanonischen Status, für den deutschen Sprachraum werden seine Thesen von Idensen,[11] Bolz,[12] und Gabriel[13] aufgegriffen.
Die Argumentation läßt sich – obschon sie mit fragwürdigen Vereinfachungen operiert[14] – auf drei zentrale »Konvergenz-Thesen« reduzieren, die bereits in obigem Zitat von Heiko Idensen anklingen:
a) Die Nicht-Linearität der Hyperfictions dekonstruiert die Illusion eines geschlossenen, konsistenten, linearen Textes. b) Der Autor eines Hyperfiction-Textes ist nur ein winziger Schnittpunkt in einem gigantischen Netzwerk von Diskursen. Sein Text wird zum Puzzlestück in einem Meta-Text, der jeden Gedanken an ein intentional handelndes, zentriertes Autoren-Ich obsolet erscheinen läßt. c) Der Rezipient ist nicht länger bloßer Literaturkonsument. Er ist vielmehr Mitgestalter, Mitschöpfer und damit aktiver Beteiligter an der Entstehung von Hyperfictions.
Im folgenden soll es darum gehen, einen Teil dieser doch sehr spekulativ anmutenden Thesen an konkretem Textmaterial etwas genauer zu betrachten.
Gefragt wird dabei ausschließlich nach Punkt a).[15] Inwiefern unterscheidet sich traditionelle Literatur, wie sie uns in Buchform vorliegt, im Hinblick auf den Darstellungs- und Rezeptionsmodus der Linearität von der in den digitalen Räumen des Netzes entstehenden Hyperfiction?
Anders gesagt: Bietet Netzliteratur mit ihrer vorgeblich nicht-linearen Darstellungsform etwas, was Buchliteratur nicht bieten kann? Wenn ja, worin besteht dieser Mehrwert?
Und, dieser sich anschließenden Frage ist der dritte Teil meiner Untersuchung gewidmet: Wie verhält sich die Literaturwissenschaft gegenüber diesem vorgeblichen Mehrwert ›nicht-linearer Literatur‹. Denn daß Hyperfictions nicht ausschließlich mit den herkömmlichen Analysekriterien der Interpretation ›traditioneller‹ Literaturwissenschaft (Erzählposition, Zeitgerüst, Motivgeflecht, Figurenanalyse et cetera) angegangen werden können, ist evident. Wenn also nicht nach diesen Kriterien, nach welchen Kriterien dann? Oder, wenn nach diesen Kriterien, welche zusätzliche Kriterien müssen hinzukommen? In diesen Punkten betritt die Literaturwissenschaft Neuland.
Meine Untersuchung gliedert sich in drei Abschnitte:
I) Zunächst wird es darum gehen, den Begriff der ›Nicht-Linearität‹ als mögliche Organisationsform von Informationseinheiten zu erläutern und ihn dem der klassischen, linearen Wissenspräsentation gegenüberzustellen.
II) In einem zweiten Schritt sollen die herausgearbeiteten Merkmale nicht-linearer Darstellungsformen auf ihre Funktion für die Textsorte ›Hyperfiction‹ untersucht werden.
III) Der dritte, noch sehr tastende Schritt, berührt schließlich die angesprochene Frage, inwieweit die Literaturwissenschaft mit ihrem klassischen Instrumentarium etwas zur Interpretation von literarischen Hypertexten beitragen kann. Ich stelle in diesem Unterkapitel einige Überlegungen an, wie eine Erweiterung dieses Instrumentariums aussehen könnte.
Ruth Nestvold hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahl der zur Netzliteratur erschienenen Studien die Zahl der real existierenden Hyperfictions um ein Vielfaches übersteigt.[16] Dies läßt keinerlei logischen Schluß auf Sinn oder Unsinn der neuen Textsorte zu. Es ist aber zumindest ein Indiz dafür, daß der Weg ins Gelobte Land mit einigen Jahren Aufenthalt in der Wüste verbunden sein wird, oder, um es mit den Worten Hilmar Schmundts, Herausgeber des elektronischen Literaturmagazins Softmoderne[17] zu sagen, die Wahrheit zwischen dem »Cyblabla von den Globalen Dörfern an einem und dem Kulturverfall durch Computerliteratur am anderen Ufer« [18] liegen dürfte. Aber der Reihe nach.
Von den vielen Definitionsvorschlägen für den überstrapazierten Begriff ›Hypertext‹ ist meines Erachtens die Kennzeichnung von Hypertext als einem »Medium der nicht-linearen Organisation von Informationseinheiten«[19] am treffendsten. Nicht-Linearität bedeutet dabei schlicht, daß dem Leser mehrere Möglichkeiten der Lektüre beim Gang durch den Text offenstehen, da dieser sich aus verschiedenen Informationseinheiten zusammensetzt.
Bei den verschiedenen Informationseinheiten kann es sich um »Erläuterungen, biographische Informationen, Kommentare, Quellenhinweise, Querverweise« handeln.[20] Diese Informationseinheiten können zudem aus verschiedenen Medien- Text-, Bild-, Tonmedium bestehen, die mehrere Sinneskanäle gleichzeitig integrieren.[21] Der Leser kann mittels sogenannter »Links«, (auch »hotwords« oder »words that yield« genannt) zwischen diesen unterschiedlichen Informationsebenen hin- und hermanövrieren und auf diese Weise seinen eigenen Weg, seine ›Leselinie‹ durch den Hypertext wählen.
Wichtig für den Akt der Lektüre ist dabei, wie stark der Hypertext strukturiert ist, also welchen Status die Art der Verknüpfungen zwischen den einzelnen Informationseinheiten besitzen. Die Verknüpfungen können »typisiert«, das heißt thematisch, argumentativ und hierarchisch aufeinander bezogen sein. Oder aber sie sind »referentiell«, das heißt sie stehen eher in einem losen, assoziativen Zusammenhang zueinander. Es existieren ferner Hyperlinks, also Verbindungen, die aus dem Hypertext heraus zu anderen Texten führen, und sogenannte »offene Links«, also Verbindungen, die vom Rezipienten ›gefüllt‹ werden können, das heißt, die es dem Hypertext-Leser möglich machen, eigene Notizen und Kommentare als Bausteine in den vorgegebenen Autorentext zu integrieren.[22]
Worin nun bestehen die Vorteile einer nicht-linearen Wissensorganisation bei Hypertexten gegenüber der herkömmlichen Wissenspräsentation im Medium Buch?
A1) Vertreter der nicht-linearen Organisation von Information verweisen zunächst einmal übereinstimmend darauf, daß Hypertext mit seiner Form der Informationsvermittlung die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses adäquat abbilde und daher als Präsentationsform von Wissen besonders geeignet sei. Mit anderen Worten: Das in unserem Gehirn gespeicherte Wissen sei in vernetzten topologischen, nicht-linearen Strukturen organisiert. Diese Nicht-Linearität der Wissensorganisation werde von Hypertexten auf Textebene gestalterisch nachgebildet. Dazu Ted Nelson, einer der bekanntesten Hypertexter, dessen »Xanadu«-Projekt[23] den ambitionierten Versuch unternahm, einen Hypermedia Information Server zu schaffen, in dem jede Art medialen Materials gespeichert und untereinander verknüpft ist.
Hypertext ist eine sehr biologische Art der Informationsvermittlung, da er nachahmt, wie unser Gehirn Information verarbeitet, organisiert und wiederfindet. Er schafft einen organischen Informationsraum, im Gegensatz zu dem künstlichen linearen Format, das vom Druckparadigma erzwungen wurde.[24]
Nun dokumentieren aktuelle neurophysiologische Untersuchungen in der Tat, daß die menschliche Informationsverarbeitung parallel und auf unterschiedlichen Ebenen läuft: Die Analyse der Sinneswahrnehmungen, die Abgleichung mit den Gedächtnisinhalten, die Umsetzung der Analyse in Gedanken, Gefühle und Handlungen – all dies verlangt in der Tat eine Form der Informationsorganisation, die auf den ersten Blick hypertextuell zu sein scheint.[25]
Die gezogene Analogie, so einleuchtend sie auf den ersten Blick auch scheint, enthält jedoch einige sachliche Ungereimtheiten. Die mentale Gewinnung und Repräsentation der Information ist parallel, die Umsetzung dieser Information in Sprache – und damit hat es Hypertext zu tun – jedoch erfolgt seriell und linear. Sprache gibt es nur, wenn Wort auf Wort folgt, Satz auf Satz gesetzt wird. Mit anderen Worten: Der Vergleich zwischen Hypertextstruktur und mentaler Wissensrepräsentation vermengt die Ebenen von textueller Strukturierung (die sprachlich und damit linear ist) und neuronaler Organisation von Wissen.[26]. Linear bleibt die Produktion und Rezeption von Sprache immer, wie man es auch dreht und wendet. Lediglich die Organisation der sprachlich produzierten Information vermag nicht-linear zu erfolgen. Dazu Rainer Kuhlen, einer der einflußreichsten Hypertext-Theoretiker im deutschen Sprachraum:
Eine Hypertextbasis stellt sich als nicht linear organisiert dar. Die faktischen Pfade, die ein Hypertextleser real in einer bestimmten Hypertextsitzung durch Auswahl der Angebote einschlägt, sind im Sinne des reinen Abfolgearguments natürlich linear.[27]
A 2) Nun bieten – so das zweite, aus obiger Überlegung abgeleitete Pro-Argument – fein strukturierte Hypertexte die Möglichkeit, Information über verschiedene Ebenen, in unterschiedlichen Zusammenhängen zu erfassen. Bei dieser Art der Informationsaufnahme ist Schnelligkeit und Unmittelbarkeit des Informationszugriffs ein zentraler Gesichtspunkt, der für Hypertext spricht. Kein langes Blättern, kein Griff in ein überbordendes Bücherregal, kein vergebliches ›Rennen in die Bibliothek‹, keine mühsamen Fernleihbestellungen.
Ein Mausklick oder ein Tastendruck genügen, um die Verfügbarkeit der Information im Moment der Konzentration und des spontanen Interesses zu gewährleisten. In diesem sogenannten »informationellen Mehrwert«[28] besteht im Sinne der Befürworter ein unschätzbarer Vorteil von Hypertext gegenüber herkömmlicher Informationsbeschaffung.
Ein Beispiel: Bei der Hypertext-Lektüre des Rilke-Gedichts Der Panther bestünde der informationelle Mehrwert beispielsweise darin, durch Anklicken des Autorennamens über einen Link unmittelbar zu einer Kurzbiographie Rilkes geleitet zu werden, eine Information über die Stellung des Gedichts im Zyklus Buch der Bilder zu erhalten, eine Bilddatei mit dem Konterfei Rilkes oder des Jardin du Luxembourg einzusehen, in dem die Raubtierkäfige placiert waren, von dessen Insassen sich der Dichter inspirieren ließ.
Weitere Hotlinks könnten Zugang zur Sekundärliteratur verschaffen, die Adresse plus Homepage der Rilke-Gesellschaft könnte vom Benutzer unmittelbar angesteuert werden, eine Newsgroup, die sich zu Debatten über Rilkes Lyrik entschlossen hat, könnte mitvernetzt sein und so weiter, und so weiter. Die Möglichkeit von Hypertext, diese sogenannte »Fish Eye View«[29] auf ein spezifisches Informationsfeld zu bieten, läßt natürlich kühnste Träume der Hypertext-Visionäre wuchern.
Gegen diese Annahme, daß eine solch vernetzte Wissensrepräsentation die Aufnahme von Fakten erleichtere, werden in der Forschungsliteratur – soweit ich dies sehe – zwei wesentliche Argumente ins Feld geführt.
Zum einen: Die angebliche Unmittelbarkeit des Informationszugriffs bei Hypertext werde dadurch relativiert, daß sich der Hypertext-Leser seine ›Leselinie‹ durch das Netz erst selbst bahnen müsse, was zusätzlich Zeit und Energie koste. Er klickt ein Hot Word an und erkennt, daß die hier gebotene Information nicht die von ihm gewünschte ist. Er muß zurück zum Ausganstext. Er probiert einen weiteren Link aus, der ihn ebenfalls auf ein falsches Informationsgleis führt, die Prozedur beginnt von neuem und so weiter.
Um in der Logik des entwickelten Beispiels zu bleiben: Ich klicke bei der Lektüre des Panther-Gedichts den Autoren-Namen an, um eine Kurzbiographie Rilkes einzusehen, und werde statt dessen auf die Homepage der Rilke-Gesellschaft geleitet, oder schlimmer noch auf die Seite einer Bierbrauerei, deren Flaschenetikett das Antlitz des verehrten Dichters ziert.
Das zweite Gegenargument kehrt letztlich das Pro-Argument von A 1) um. Weshalb sollte, so die These, die Integration von vernetztem Hypertext-Wissen in ein vernetztes Gehirn einfacher sein, als die Integration von einfachem, linearem Wissen in das ›Wissensnetz Gehirn‹. Hinter dieser These steht die Annahme, »daß zwei Netze, zumal wenn sie polyhierarchisch strukturiert sind, schwieriger zu integrieren sind als eine lineare Struktur in ein bestehendes Netz.«[30].
Über so etwas läßt sich natürlich trefflich streiten. Empirische Studien zum Vergleich von linearen und nicht-linearen Formen der Informationsrepräsentation und der Frage ihrer Rezeption liegen erst in geringem Maße vor (Intermedia[31], Schnotz[32], Gordon[33], McKnight/Dillon/Richardson[34]) und kommen in diesem Punkt zu keinem einheitlichen Ergebnis.[35] Was sich trotz widersprüchlicher Ergebnisse jedoch als gemeinsamer Nenner des empirischen Materials herauszukristallisieren scheint, ist die Tatsache, daß eine nicht-lineare Form der Wissensorganisation vor allem von jenen Rezipienten effizient genutzt wird, die a) über einen hohen Stand an Vorwissen in dem von ihnen bearbeiteten Wissensgebiet und b) über Erfahrungskompetenz im Navigieren durch die Datenbasis des Hypertextes verfügen. In diesen Fällen scheint die nicht-lineare Form der Wissensaufbereitung Vorteile für den Rezipienten mit sich zu bringen.
Nicht-Linearität jedoch als das neue Paradigma im Umgang mit Information für das 21. Jahrhundert, als den Ausbruch aus der »technokratischen Vereinheitlichung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse«[36] zu feiern, für derart vollmundige Verheißungen lassen sich zumindest aus empirischer Perspektive momentan noch keine Belege erbringen.
Wenn von nicht-linearen Strukturen in Hyperfictions die Rede ist, so nutzt der Hyperfiction-Autor die oben beschriebene Möglichkeit von Hypertexten, das Textgebilde an jeder beliebigen Stelle betreten und verlassen und auf verschiedenen Routen mit verschiedenen Lesarten durchqueren zu können.
Ziel ist also, jede beliebige Stelle des Textes zum Einstiegsort werden zu lassen, von dem aus jeweils andere, immer neue Lektüren möglich werden. Dahinter steht die Überlegung, das vielfältige Netzwerk der Bezüge und Verweise wecke die Spannung der Lektüre stets aufs neue und fördere in der ›Dechiffrierarbeit‹ je nach Assoziationsgrad, Kenntnisstand und Einstiegsort des Lesers dessen kreatives Potential.
Der ästhetische Reiz der Lektüre besteht mit anderen Worten in einer Art produktiven Rezeption, im Aufdecken der verdeckten Referenzen des Textes. Kanonischen Status haben in diesem Zusammenhang die Hyperfiction Romane Afternoon [37]und Twelve Blue[38] des Amerikaners Michael Joyce erreicht.[39]
Daran unmittelbar angeschlossen sei die Gegenthese. Sie lautet: Der Verzicht auf lineare, chronologische Linien innerhalb der Erzählung fördere keinesfalls das Leserinteresse. Das Unternehmen, auf lineare Strukturen innerhalb der Linie der Erzählung zu verzichten, erwecke im Leser nicht gesteigertes Dechiffrierinteresse, sondern schlicht und ergreifend Langeweile angesichts ausbleibenden Textverständnisses.[40]
Bereits Umberto Eco hat in seiner berühmten Definition des offenen Kunstwerks darauf aufmerksam gemacht, daß der Versuch, mehrere Bedeutungsebenen zu konstruieren und das Werk dadurch zu »öffnen«, stets mit der Gefahr gekoppelt ist, daß Unverständnis oder gar keine Bedeutung zustande kommt, da das Interesse des Rezipienten allzu schnell erlahmt.[41]
Aus hermeneutischer Perspektive gilt der bekannte Grundsatz, daß Leserinteresse nur über eine schrittweise Abnahme der Erkenntnisdifferenz zwischen Text und Rezipienten zu leisten ist. Der Leser unterzieht sich nur dann der Mühe der Rekonstruktion einer ihm unbekannten Weltversion, wenn der Text aus einem Wechselspiel von Bekanntem und Unbekanntem, von kontingenten und kohärenten Bausteinen besteht. Diese für die Buchliteratur gültige ›Binsenweisheit‹ behält möglicherweise auch für Hyperfiction eine gewisse Gültigkeit und läßt sich nicht ohne weiteres aushebeln.
Gedruckte Literatur und die mit ihr verbundene Kunst des Erzählens kennt seit langem Mittel und Wege, die strikte Linearität der Erzählung[42] zu durchbrechen: Rückblenden, Vorausdeutungen, simultane Erzählstränge, wechselnde Figurenperspektiven et cetera. All dies macht letztlich jedoch nur Sinn, wenn die Flut der Information auf einen rezipierbaren Algorithmus hin gefiltert wird. Einfacher ausgedrückt: Jeder Text muß die Exkurse auf ein Thema zurückleiten, er benötigt einen (oder mehrere) rote Fäden, sonst verlieren wir allzu schnell das Interesse an seiner Rezeption.
Es ist noch unklar, ob die Linearität der Erzählung ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Algorithmus' ist. Einiges spricht jedoch dafür, daß der traditionell lineare Ablauf unserer Lektüre – Anfang, Mitte, Ende – mehr ist, als lediglich eine liebgewordene Gewohnheit. Der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer stellt beispielsweise die These auf, die »Linearität der Erzählung« entspreche »aufs humanste unserer Erfahrungsweise«. Zimmer weiter:
Die Linearität ist nun aber kein Fluch, den die lesende Menschheit nicht bald genug abschütteln kann [...]. Wir leben und denken und nehmen wahr und handeln in der Zeit, und Zeit bedeutet Sequenz, und Sequenz begründet die Erzählung [...]. Geschichten sind linear, selbst wenn ihr Gegenstand es oft nicht ist, und sie bleiben auch dann linear, wenn sie unchronologisch erzählt werden.[43]
Um These beziehungsweise Gegenthese gleichermaßen aus der Sphäre bloßer Spekulation herauszumanövrieren, bedarf es noch einer Vielzahl empirischer Studien, die Aufschluß über ein möglicherweise verändertes Rezeptionsverhalten bei der Lektüre von Hyperfiction-Literatur geben. Exakt diese empirischen Studien fehlen jedoch bis dato. Grund dafür ist nicht zuletzt eine mangelnde Basis an Textkorpora. Hypertext ist ein sehr junges technisches Instrumentarium, Beispiele von Netzliteratur, die diesen Namen verdient, sind – zumal für den deutschen Sprachraum – entsprechend rar.[44]
Der erste Hypertext-Roman in deutscher Sprache, der 1996 auf dem World Wide Web abgelegt wurde, ist Die Quotenmaschine[45] des in New York lebenden Autors Norman Ohler. Sehr viele Texte, welche die Bezeichnung ›Roman‹ verdienen, sind ihm noch nicht gefolgt.
Im folgenden soll ein Schritt unternommen werden, über dessen Unvollkommenheit und Vorläufigkeit sich der Autor im klaren ist. Gegenstand der Untersuchung sind Die Quotenmaschine und vier weitere von mir gesichtete Hyperfiction-Romane[46], die zusätzliches Belegmaterial liefern. An diesen digitalisierten Romanen soll geprüft werden, inwieweit sie a) die Möglichkeit der nicht-linearen Informationsaufbereitung, die Hypertext bietet, nutzen und inwieweit sich b) aus der Art und Weise der Verwendung beziehungsweise Nicht-Verwendung nicht-linearer Darstellungsformen Kriterien für die Beurteilung von Hyperfictions herausdestillieren lassen.
Ich wende mich zunächst dem Norman-Ohler-Roman Die Quotenmaschine zu. 1996 im Netz abgelegt, handelt es sich um einen Pionier in Sachen Hyperfiction, der auch weitgehend alle Kinderkrankheiten des neuen Mediums zeigt.
Die Quotenmaschine erzählt die Geschichte des stummen Detektivs Maxx Rutenberg, der ein Abbruchhaus am Ufer des Hudson in New York bewohnt. Maxx kommuniziert mit seiner Umwelt nur noch per E-Mail. Er schreibt die Geschichte seines Lebens in ein Powerbook, wobei ein Großteil seiner Gedanken um einen Mord kreist, den er selbst begangen hat. Rutenberg macht diese Notizen der Öffentlichkeit zugänglich, indem er sie Stück für Stück im Internet publiziert.
Nach anfänglichem Interesse für die möglichen Motive seiner Tat, erlahmt das Leserinteresse in dem von Umberto Eco konstatierten Sinne. Zu undurchsichtig bleibt die Verbindung der einzelnen Notizen, zu schnell wechselt der Gang der Handlung auf divergierende inhaltliche Felder, die es kaum möglich machen, sich Erwartungen über einen Fortgang der Handlung zu bilden. Die Lage ähnelt der Beschäftigung mit einem Kreuzworträtsel: Ab und zu sollte der Benutzer durch eine ihm bekannte Informationseinheit die Leerstellen der Spalten füllen können, ansonsten animiert ihn auf Dauer nichts, die Mühen der Enträtselung fortzusetzen.
Ich wende mich dem Organisationsmodus Nicht-Linearität zu und frage, inwieweit die mittels dieser Struktur verknüpften Text- und Bildbausteine an dem schnell abflachenden Interesse seitens des Rezipienten beteiligt sein könnten.
I. Multimedialität. Die Quotenmaschine nutzt so gut wie gar nicht die vom Computer bereitgestellten Möglichkeiten, andere Medien mit dem Text zu kombinieren (Illustrationen, Tonbeispiele, Filmausschnitte, Videosequenzen). Die wenigen Graphiken, mit denen der Text arbeitet (ein Stadtplan, der die Lebensumgebung des blinden Detektivs zeigt, ein mit wenigen Strichen skizziertes Mikadospiel), legen weitaus eher von visueller Armut als von optischer Bereicherung Zeugnis ab.
Beispielsweise bleibt die von Netscape als ›kleinster gemeinsamer Nenner‹ gebotene Standardpalette mit 216 Farben in der Bildgestaltung weitgehendst ungenutzt.[47] Die kartografische Illustration des Stadtplans ist in der Wahl der Farbkontraste und der in der Wechselwirkung der benutzten Farbkombinationen von geringem Schauwert. Zusätzlich bildet die Illustration des Stadtplans keine visuelle Ergänzung des im Text Gesagten und wird daher auch nicht zu einem unverzichtbaren inhaltlichen Element der Geschichte.
Man muß Ohler zugute halten, daß die spärliche Integration der Bildelemente sichtlich von dem Bemühen getragen ist, die Größe der Bilddateien niedrig zu halten, um die Wartezeiten beim Aufbau der Seite für den Benutzer nicht unnötig zu verlängern und dem Klischee vom WWW als dem »World Wide Wait« neue Nahrung zu geben. Die poetische Konzeption seines Romans steht in der Tradition der von Michael Joyce entwickelten Hyperfiction: ein navigierbarer Text mit einer komplexen nicht-linearen Struktur, unter Verzicht auf multimediale Bestandteile. Ineinander verschachtelte Textebenen, aber eben nur Text.
Netzliteratur jedoch, die auf multimediale Elemente verzichtet, ist nach Auffassung des Autors auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Denn wer am Bildschirm liest, dies wird von den Hypertext-Apologeten allzugern übersehen, liest signifikant langsamer, behält weniger vom Gelesenen und ermüdet schneller als bei der Lektüre eines Buches.[48] Das phosphoreszierende, permanent leuchtende Display und die niedrige Auflösung des Bildschirms lassen zwar eine akzeptable Bild- und Grafikqualität zu, sind aber ungeeignet, Schrift ›randscharf‹ darzustellen.[49] Ein längerer Text wird am Bildschirm daher nur rezipiert, wenn er nicht in gedruckter Form zugänglich ist oder aber eben Bestandteile enthält, die ein Buch nicht zu enthalten vermag. Ein Leser, der ohne Not Musils Der Mann ohne Eigenschaften am Monitor rezipiert, wenn er den Text im Bücherregal stehen hat, dürfte die Ausnahme sein. Am Bildschirm wird gnadenlos weggeklickt, was nicht unmittelbar die Aufmerksamkeit des Rezipienten mit Beschlag belegt.[50]
Daß eine ›Multimedia-Koppelung‹ für Netzliteratur wirkungsvoll eingesetzt werden kann und als Erweiterung der Gattung auch dramaturgisch Sinn macht, zeigen die Romane Das Einstein-Bose-Kondensat[51] von Burkhard Schröder und Olivia Adlers Begehbarer Roman.[52]
Schröders Kriminalroman spielt im Jahre 2001. FBI und Europol suchen sogenannte »Cypherguerillas«, drei Internet-Terroristen, die militärische Geheimnisse ausgekundschaftet haben und nun im Netz für jeden zugänglich machen. Schröder inszeniert ein Verwirrspiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, bei dem graphische Elemente von entscheidender Bedeutung für das Jonglieren mit den Lesererwartungen sind. So arbeitet der Autor mit täuschend echt gestalteten Steckbriefen aus dem angeblichen FBI-Archiv, er kopiert die Machart von Europol-Files und integriert fiktive Zeitungsartikel und angebliche Leser E-Mails in seine labyrinthische Handlung, die – und dies scheint mir entscheidend – am Ende auch eine Auflösung findet.
Noch in weitaus höherem Maße nutzt Olivia Adlers Begehbarer Roman die Möglichkeiten des Mediums. Die hier erzählte Geschichte wurde 1995 als reiner ASCII-Text ins Internet gestellt, ohne jede Formatierung, als reiner Fließtext. Schrittweise nutzte die Autorin in den kommenden Jahren danach die wachsenden Designmöglichkeiten von HTML, um die Geschichte der Cyberingenieurin Irina und ihre Treffen im virtuellen Raum des Cyber-Cafés Nirwana nicht lediglich zu erzählen, sondern als »Hypertext-Labyrinth«[53] zu gestalten. Der Text wird 1996-1997 mit Illustrationen und Tönen aufgelockert, die dem Leser einerseits Überblick verschaffen, an welcher Stelle des Pfades er sich befindet, andererseits ihn in Form von Chat, Messageboard zum Mit- und Weiterschreiben der Geschichte einladen. Schließlich integrierte Adler 1998 in den Roman eine fiktive Suchmaschine, mit deren Hilfe der Leser den Gang der Geschichte erst recherchieren muß. Das Spiel zwischen Schein und Sein wird auf die Spitze getrieben. Die Figuren des Romans haben eigene Homepages, sie schreiben E-Mails und werden ihrerseits von Suchmaschinen gesucht, die von virtuellen Räumen der Cyberingenieure gelenkt sind. Hinter alledem steckt natürlich nach wie vor ein Autor, der, eine Art Puppenspieler, die Fäden in der Hand hält, auch wenn man als Leser ab einem bestimmten Punkt einfach nicht mehr erkennen kann, wohin die Reise geht.
Trotz gelungener Integration multimedialer Elemente dokumentiert auch Adlers Hyperfiction-Roman deutlich die erwähnte Schwierigkeit, mit dem das neue Medium und seine nicht-lineare Darstellungsform sich auseinandersetzen muß. Es zeigt sich auch hier, daß eine überbordende Verschachtelung und Verrätselung des Hypertextes nicht unbegrenzt kombinatorisches Interesse und Dechiffriergenuß beim Rezipienten erweckt, sondern das Interesse am Fortgang der Geschichte erlahmt. Hieran ändern weder bunte Bilder noch ein unterlegter Klangteppich etwas.
II. Eine empirisch festzumachende Ursache, die in den Romanen für diese ›überbordende Verschachtelung‹ und die daraus resultierende allzu schnelle Erlahmung des Leserinteresses sorgt, liegt mit Einschränkung in der mangelnden Link-Semantik zahlreicher Hyperfictions.
Mangelnde Link-Semantik bedeutet vereinfacht gesagt zunächst einmal, daß die Verbindungen zwischen den einzelnen Ebenen des Textes für den Leser nicht transparent werden. Bei der Navigation durch die Hyperfictions kann sich diese fehlende Transparenz in der Verbindung zusammengehöriger Text- und Bildebenen auf unterschiedliche Arten zeigen.
Jedes der von mir im folgenden aufgelisteten Probleme mit der Link-Semantik, die beim Lauf durch einen Hypertext entstehen können, wird an einem Hyperfiction-Beispiel in der zugehörigen Fußnote durchgespielt. Als Quelle dienten mir Beiträge, die am Pegasus 98, dem momentan renommiertesten deutschen Internet-Literaturpreis, teilgenommen haben.
a) Der Leser ist sich unklar darüber, wie er den besten Einstieg in die Hypertextbasis findet.[54]
b) Der Leser erkennt nicht ohne weiteres, an welcher Stelle des Hypertextes er sich gerade befindet.[55]
c) Der Leser hat Schwierigkeiten zu realisieren, welche Teile der Hypertextbasis im Verlauf der Recherche von ihm bereits besucht worden sind.[56]
d) Der Leser vermag nicht zu rekonstruieren, wie er an die aktuelle Stelle des Hypertextes gelangt ist.
e) Der Leser stößt auf sogenannte »Lost-In-Hyperspace-Links«, also Verbindungen, die nicht weiterführen und von denen er auch nicht zurückgelangt. Ihm bleibt nur übrig, zurück zum Einstieg der Geschichte zu gehen, was zumeist mittels einer Navigationsleiste auch möglich ist.[57]
f) Der Leser vermag nicht abzuschätzen, wieviele ›Knoten‹ im Netzwerk des Hypertextes noch durchzusehen sind.[58]
g) Der Hypertext zeigt eine zu starke Vernetzung der Teile, mit der Folge, daß man bald auf schon Gelesenes oder Angeschautes stößt.[59]
h) Das Verhältnis zwischen typisierten, referentiellen, Hyperlinks und offenen Links ist unausgewogen, so daß dem Leser die Zusammenhänge der Erzählproportionen beziehungsweise Bild- und Toneinlagen uneinsichtig bleiben.[60]
Nun bieten gängige WWW-Browser wie etwa der Netscape Navigator oder der Internet Explorer dem Anwender Navigationshilfen wie Backtracking[61] , Lesezeichen[62] oder Sitzungshistorien[63], die eine Orientierung im Hypertext zunehmend erleichtern und die in Zukunft bei fortschreitender technischer Entwicklung zusehends immer leichter werden. Wachsender technischer Standard wird hier jedoch nicht alle Probleme mangelnder Link-Semantik auffangen können.
Norman Ohlers Die Quotenmaschine kann auch hier als gutes Beispiel dienen. Der Roman bietet dem Leser einen mühelosen Einstieg in die Hypertextbasis. Ein Link namens »Zum Überblick«, der am Ende jeder Texteinheit gelegt ist, führt den Leser zu einer sogenannten »Web View«, das heißt einer Art elektronischem Inhaltsverzeichnis, das dem navigierenden Anwender den gesamten Hypertext in einer Liste zeigt und ihm die Stelle angibt, an der er sich gerade befindet. Allerdings zeigt diese Web View in Die Quotenmaschine nur einen verschwindend geringen Teil aller verknüpften Texteinheiten an, bietet also nur eine sehr grobe Orientierung.
Ein weiteres Problem in Ohlers Text besteht darin, daß er einige Lost-In-Hyperspace-Links aufweist. Da die einzelnen Texthinweise fast durchgängig nur in einem losen und häufig willkürlich scheinenden Zusammenhang stehen, entsteht durch derartige Links im Leser zusätzlich das Bewußtsein mangelnder Textkohärenz, was wiederum die Einstellung befördert, nicht allzu lange in diesem Hyperraum seine Zeit zu vergeuden.
Möglicherweise tritt auch hier die bereits beschriebene Sehnsucht nach Linearität durch die Hintertür des Hypertextes wieder ein. Lösen sich die miteinander vernetzten Erzählproportionen aus einer für den Rezipienten erkennbaren und wie auch immer gearteten Netzstruktur heraus, entsteht informelle Konfusion. Der Leser weiß nicht, in welche Beziehung er die vorliegende Text- und/oder Bildpassage zum Kontext setzen soll, was sich worauf bezieht und zu welchem ›Ende‹ (Linearität) das Ganze ihn denn bringen soll. Der geistige Spagat, die Autonomie einzelner Textbausteine zu rezipieren und dabei gleichzeitig diese Textbausteine nach Verweisen auf andere Ebenen des Hypertextes zu durchforsten, scheitert.
Er gelingt – wenn überhaupt – nur bei einer für den Rezipienten vollkommen transparenten Verweisstruktur. Fehlt eine solch klar verständliche Navigation in der Benützerführung, erlahmt das Leseinteresse aufgrund von kontextueller Desorientierung.
Eventuell bildet eine derartige Struktur kontextueller Desorientierung und informeller Konfusion im Sinne der Postmoderne adäquat den Geisteszustand der Spezies Mensch am Ende des Jahrtausends ab. Netzliteraten wie etwa der E-Literat Lance Olsen argumentieren in diesem Sinne.[64]
Nach Meinung des Autors verschanzt hier eine vorgeblich avantgardistische Literatur ihren fehlenden Willen zur Form hinter einer radikalen Theorie. Zu offensichtlich ist die Tatsache, daß Netzliteratur mit den geschilderten Schwierigkeiten zu kämpfen hat und sie nicht als souverän gehandhabtes Stilmittel integriert. Zu offensichtlich auch ist der vom Kritiker Hermann Rotermund sehnlich herbeigewünschte »Online-Ulysses«[65] bisher noch nicht im Internet gesichtet worden.
Um nicht mißverstanden zu werden: Dies ist kein Makel. Jedes neue Medium – ob Photographie, Film, Radio oder Fernsehen – benötigte zumindest zwei Jahrzehnte, um als Träger einer eigenen Kunstform sich zu etablieren. Das Medium ›Computer‹ wird wachsen und sein Instrumentarium verbessern. In diesem Sinne bleibt der Netzliteratur – und mit ihr der Literaturwissenschaft – Zeit, sich als eine parallele künstlerische Ausdrucksform zur gedruckten Literatur zu etablieren.
Seitens der Literaturwissenschaft sind erste Schritte getan, Analysekriterien zur Beurteilung jener spezifischen Netz-Ästhetik zu entwickeln, die aus diesem Zusammenspiel von Text, Ton und bewegtem Bild entstehen wird. Reinhold Grether[66] mit seinen Überlegungen zu einer konstitutiven Verknüpfung von Technik (Programmier- und Prozeßebene), Ästhetik (Bildschirmoberfläche, ästhetische Realisierung) und Sozialem (Interaktion der Nutzer), sowie Christiane Heilbachs[67] Ansätze zu einer Netz-Ästhetik[68] gehen in diese Richtung. Beide Autoren betonen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung seitens der Literaturwissenschaft mit den technischen Voraussetzungen (HTML, Struktur und Benutzerführung) und den Produktionsbedingungen (Fragen der Bildgestaltung, Typografie, des Grundlayouts et cetera) von Hyperfiction.
Diese ersten Ansätze sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Literaturwissenschaft in puncto Netzliteratur am Anfang steht.
Ich fasse zusammen:
a) Bei der Beurteilung von Netzliteratur sind Analysekriterien zu entwickeln, die über die rein textlichen Bausteine hinaus die multimedialen Anteile (Bild, Animation, Sound) und ihre eigenständige Bedeutung für den Inhalt der Hyperfiction herausarbeiten. Jede künftige ›Literaturkritik des Netzes‹ wird sich verstärkt mit den bislang nicht thematisierten technischen und ästhetischen Grundlagen dieser mit dem Text verknüpften Medien auseinanderzusetzen haben.
b) Als formales Analysekriterium sollte zum klassischen Instrumentarium der Literaturwissenschaft eine Beurteilung der Link-Semantik des jeweiligen Hyperfiction-Textes treten.
c) In welchem Umfange der Begriff ›Literatur‹ möglicherweise für immer an eine lineare Darstellungs- und Rezeptionsweise geknüpft ist, läßt sich nach dem momentanen Stand der Forschung nicht beantworten. Eine zu schmale Textbasis an Netzliteratur und fehlende empirische Untersuchungen im Hinblick auf mögliche Unterschiede in der Rezeption von Buchliteratur versus Hyperfiction lassen hier noch keine festen Schlüsse zu. Wahrscheinlich ist die Annahme, daß sich literarische Hypertexte parallel zu, nicht zusammen mit der gedruckten Literatur entwickeln werden. Eine Literaturkritik des Netzes hätte dann mit einem entsprechend erweiterten Literaturbegriff sich auseinanderzusetzen.
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |