Studium digitale von Jan-Mirko Maczewski ist ein Internet-Führer für Geisteswissenschaftler, der – nicht nur Anfängern – gute Orientierung bietet. Der Gegenstand, ›Internet‹ der für (geistes-)wissenschaftliche Arbeit immer bedeutsamer wird, macht die Studie zu einem wichtigen Buch. So kann seine Besprechung ohne den Versuch kritischer Auseinandersetzung nicht auskommen. An der grundsätzlich positiven Einschätzung des Buchs sollte diese Kritik nichts ändern.
Ein Blick in das knappe Literaturverzeichnis des Buchs könnte den Eindruck erwecken, das Thema ›Internet‹ sei ein eher peripherer Gegenstand. In der Literaturliste fehlen nicht nur Standardwerke (wie Ed Krol: The Whole Internet, 1994), sondern auch einschlägige Titel für die Geisteswissenschaften (wie Louis Rosenfeld: The Internet Compendium. Subject Guides to Humanities Resources, 1995). Nach dem Erscheinen von Studium digitale folgten in kurzem Abstand weitere Bücher, die in den Schnittbereich von Internet und Geisteswissenschaften zielen. (Elisabeth Cölfen: Linguistik im Internet, 1997; Doris Feldmann (Hg.): Anglistik im Internet. Proceedings of the 1996 Erfurt Conference on Computing in the Humanities, 1997). Nicht zu vergessen die lesenswerte Zeit-Artikelserie von Dieter E. Zimmer mit dem Titel Die digitale Bibliothek, deren Fokus ebenfalls im Bereich der Geisteswissenschaften liegt. So scheint es, als ob ›Internet und die Geisteswissenschaften‹ derzeit zu den Themen gehöre, die sich konjunkturellen Aufwinds erfreuen.
Unter all diesen Publikationen zieht Studium digitale schon durch seinen Titel besondere Aufmerksamkeit auf sich. Aber was ist unter »Studium digitale« eigentlich zu verstehen? Der Begriff wird vom Autor nirgends explizit definiert oder näher erläutert. Aus dem Kontext ist anzunehmen, daß darunter eine Art des Studierens verstanden werden soll, die in besonderer Weise auf die Nutzung des Internet setzt. Dagegen müßte allerdings Einspruch erhoben werden. Eine solche Bestimmung des Begriffs wäre allzu eng. »Studium digitale« sollte wesentlich mehr bedeuten als nur die Nutzung des Internet. Geht es nicht auch um Nutzung von Ressourcen außerhalb des Internet (auf CD-ROM, DVD, Disk im Intranet et cetera)? Geht es nicht – immer mehr auch in den Geisteswissenschaften – um kommerzielle Software (die im Internet, von Demo-Versionen et cetera abgesehen, weder verteilt noch betrieben wird)? Gibt es nicht – neben der virtuellen Bibliothek (des Internet) – eine Art ›digitale Bibliothek‹ auf CD-ROM (die aus einem beträchtlichen Wachstumsmarkt ständig ergänzt und mit Werkausgaben, Bibliographien, Lexika et cetera beliefert wird)? Die digitale Edition von Goethes Werken nach der Weimarer Ausgabe,[1] die digitale Nietzsche-Gesamtausgabe[2] (um nur einige der bedeutenderen Editionen zu nennen, die das Buch nicht kennt,) werden auf CD-ROM vertrieben. Auch zur Nutzung wird man solche Editionen in der Regel kaum ins Internet verlagern. Denn für umfangreichere Untersuchungen – die über das bloße Nachschlagen von Zitaten oder Begriffen hinausgehen – ist das Internet (immer noch) zu langsam. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Hybrideditionen – Ausgaben, die auf mehreren Medien ›spielen‹ – auf dem Vormarsch sind. Was gestern noch ausschließlich in Buchform und auf CD-ROM zu haben war, taucht heute schon auch (mit gleichem oder verändertem Nutzungsprofil) im Internet auf. Ein Beispiel, das diesen für viele digitale Editionen charakteristischen Medien-Mix vielleicht beleuchten kann: Die Encyclopedia Britannica gibt es auf CD-ROM und online. Im Internet ist sie zu finden auf einem eigenen Web-Server, wie auch zum Beispiel in etlichen virtuellen Bibliotheken universitärer Textzentren, wobei der Zugang jeweils beschränkt ist auf das Netz der Universität, die vom Besitzer der Rechte Lizenzen erworben hat.
Dies leitet über zur Kostenfrage. Wie teuer kommt das Internet die Geisteswissenschaften? Über weite Strecken des Buchs entsteht der Eindruck, die digitalen Ressourcen der Geisteswissenschaften, die als »schöne neue Weltbibliothek« (S.21) gepriesen werden, stünden über das Internet überwiegend kostenfrei zur Verfügung. Vorsicht! Schon die laufenden Kosten für den Anschluß von Hochschulnetzen ans Internet sind beträchtlich. Und auch der Zugriff auf Ressourcen und Dienste ist nicht selten kostenpflichtig. Gewiß kann das Internet als eine einzige aus vielen über die Welt verstreuten digitalen Bibliotheken gebildete virtuelle Bibliothek betrachtet werden, in der umfangreiche ›freie‹ Textsammlungen und Korpora zur Verfügung stehen. Doch nicht selten handelt es sich dabei um Texte, die philologischen Ansprüchen nicht genügen. Im übrigen aber begegnen in der globalen virtuellen Bibliothek – gerade bei den wichtigeren Editionen, Bibliographien, Zeitschriften, Lexika – immer häufiger Schlagbäume und Verbotsschilder (»Access restricted«, »Login required« et cetera). Die für Anglisten und Amerikanisten wichtigen Online-Editionen und Textsammlungen, die von Chadwyck Healy angeboten werden, die circa 60 (nur teilweise geisteswissenschaftlichen) Bibliographien nebst Diensten, die der OCLC-Server bereit hält, die Zeitschriften des MUSE-Projekts der John Hopkins University, Encyclopedia Britannica, Oxford English Dictionary et cetera sind keineswegs gratis zu haben. Kein Zweifel, daß die erforderlichen Nutzungsverträge für die universitären Bibliotheksetats hierzulande eine ernste, tendenziell stark steigende Belastung bedeuten. Dem Internetsurfer mag nicht bewußt sein, wie viele Schranken durch seine Universität entfernt werden mußten, um ›freies‹ Surfen zu ermöglichen. Ihm mag es scheinen, die ›schöne neue Welt des Studium digitale‹ sei tatsächlich zum Nulltarif zu haben. Wenn das Buch signalisiert, für die Belange der Geisteswissenschaften genüge es vollauf, »fast nur kostenlose Dienste zu behandeln« (S.17), wird eine solche Perspektive unterstützt.
Zielgruppe sind Computer-Anfänger mit Basiskenntnissen (für Windows- bzw. Apple-Computer). Ihnen werden Möglichkeiten der Recherche nach geisteswissenschaftlicher Information im Internet vorgestellt. Die – umfassende – Themenliste reicht vom Gebrauch von Dienstprogrammen (Telnet, FTP), Suchmaschinen im World Wide Web, bis hin zur Recherche in Mailing Lists und Diskussionsforen, wobei auch speziellere Fragen (zum Beispiel wie zitiert man eigentlich Quellen aus dem Internet?) eine Antwort finden.[3] Das Buch wechselt zwischen Darstellung und lehrreichen Beispielaufgaben, deren Lösung ausführlich besprochen ist. Die Aufgaben sind gut ausgewählt und mitten aus dem (geisteswissenschaftlichen) Leben gegriffen. Schade nur, daß der Text nicht lesefreundlicher geraten ist. Müssen bei verschiedenen Vorgängen die selben Routinen (Befehle bestätigen, Klicken von Hyperlinks, Bedienung von Auswahlmenüs, Suchformularen et cetera) immer wieder neu erläutert werden? Muß eine Abschnittsgliederung hierarchisch so tief geschachtelt sein wie hier? Müssen sie und der zugehörige Text so reich sein an Wiederholungen? Gibt es nicht – zumal in der anscheinend benutzerfreundlicheren englischsprachigen Welt- Beispiele für Guides und Manuals, die Lust am Lesen machen? Gewiß ist die Halbwertzeit von Computer-Führern gering. Etwas mehr (stilistische) Arbeit am Manuskript hätte dem Buch trotzdem gut getan. Zumal der Autor auf Lesbarkeit »auch in mehreren Jahren noch« (S.9) Anspruch erhebt.
Eine neue Auflage, die man dem Buch um seines Themas willen wünschen möchte, sollte auch inhaltlich überarbeitet sein. Bei der Geschwindigkeit, in der sich die Dinge derzeit entwickeln, ist der Text des 1996 erschienen Buchs ja bereits heute in Teilen überholt. Manches aber ist auch mit dem Stand von 1996 kaum vereinbar. Dies gilt vor allem für die Abschnitte über »Texte«, die der Autor als »das »Lebenselixier« geisteswissenschaftlicher Arbeit« (S.138) bezeichnet und so mit einem besonderen Akzent versieht. Inhaltlich geht es in diesen Abschnitten darum, wie Texte, nachdem sie aus dem Internet »heruntergeladen« wurden, am Bildschirm dargestellt und philologisch untersucht werden können. Ich darf mich auf drei Anmerkungen beschränken. TEI-konforme Texte, heißt es auf S. 139, seien an der Datei-Extension .tei zu erkennen. Um die Qual vergeblicher Suchen abzukürzen: die Extension TEI-konformer Dateien lautet .sgm. (TEI-Konformität wird in der DocType Declaration solcher Dateien mitgeteilt.) TEI-konforme Texte können, so liest man auf der gleichen Seite, »nicht mit den handelsüblichen WWW-Betrachtern angezeigt werden«. Richtig! Aber warum unterbleibt die Nennung verbreiteter SGML-Browser (Panorama, Dyna Text et cetera), über welche die Anzeige möglich wird? Zu bedauern auch, daß den – eher laienhaften – Erläuterungen zum Thema ›Textanalyse‹ (»Suche« S.144 f., »Häufigkeitsstatistik« S.146 f.) keine Hinweise auf philologisch relevante Software (Word Cruncher, TACT, Folio, Dyna Text, SPSS et cetera) und professionelles Vorgehen beigegeben sind.
Das abschließende – für manche wohl wertvollste – Kapitel des Buchs mit der Überschrift »Register« enthält eine umfangreiche Sammlung nützlicher Internet-Adressen, die auch für Kenner immer noch eine Fundgrube darstellt. Unterschieden werden fünf Abteilungen: »Allgemeine Einstiegspunkte«, »Einstiegspunkte besonderer Fächer« (Geschichts-, Literaturwissenschaft et cetera), »Zeitschriften und Diskussionsforen besonderer Fächer«, »Werke, »Autoren«. Der Wert eines Registers hängt auch von seiner Ordnung, der Griffigkeit und Trennschärfe seiner Kategorien ab. Die Begrifflichkeit bereitet gelegentlich Probleme. Unter »Allgemeine Einstiegspunkte« begegnet einem der Oberbegriff »Zentrale Institutionen«. Bei einem eher dezentralem Gebilde wie dem Internet weckt dies Spannung, die allerdings sogleich enttäuscht wird. Denn was man findet, sind einige Adressen an amerikanischen und englischen Universitäten, wo allgemeine Sammlungen von geisteswissenschaftlich relevanten Adressen bereitgehalten werden. Sind diese Universitäten zentrale Internet-Institutionen? Internet-Institutionen nationaler (zum Beispiel: Deutscher Forschungsnetzverein) oder internationaler Ebene (zum Beispiel: Internet Architecture Board, fehlen dagegen ebenso wie etwa das W3-Consortium, das mit der Entwicklung des World Wide Web (HTML, XML) befaßt ist.[4] Im übrigen wird der Wert des Registers dadurch eingeschränkt, daß nur kostenfreie Ressourcen genannt werden. So kommt es, daß im Verzeichnis der Werkausgaben und Nachschlagewerke die wichtigsten Einträge fehlen und eine Rubrik »Bibliographien« überhaupt nicht vertreten ist.
Ein Buch über das Internet hat es in besonderer Weise mit Begriffen zu tun. Ein kardinales Problem ist das der Übersetzung, der Verdeutschung des umfangreichen englischen Internet-Wortschatzes. Einige Beispiele: Muß »Mailing List« als »Verteilerliste« gehandelt werden? (Eine Mailing List ist etwas anderes als eine Verteilerliste.) Ist es nicht zulässig, das englische Wort – mit einer engen und genauen Bedeutung – stehen zu lassen und als Fremdwort zu gebrauchen? Der Verfasser kennt ein Wort namens »(WWW)-page« (S.26) und übersetzt es als »(WWW)-Seite«. Weniger rar scheint mir »Web-Page«, das im Deutschen üblicherweise als »Web-Seite« wiedergegeben wird. (Wie aber steht es mit der Orthographie? Ist »Web-Seite« oder »Webseite« zu schreiben? Oder sind beide Schreibweisen korrekt?)[5] Heißt das Pendant zu »Home Page« »Einstiegsseite« oder »Infoseite«? Beide Begriffe werden im Buch verwendet. Handelt es sich um Synonyme? Worin besteht der Unterschied? Lautet die Übersetzung von »Hyperlink« »Querverweis« (S.26)? Wie gebräuchlich ist das Wort »Hyperfußnote« (zum Beispiel S.34)? Wie übersetzt man »Web-Site«, »Internetsite«? In einem Lexikon habe ich für »Server« und »Client« Wortungetüme wie »Dienstleistungserbringer« und »Dienstleistungsnehmer« gefunden. Sind solche Verdeutschungen unabwendbar? – Probleme der Übersetzung sind in der Tat ein weites Feld. Kein Zweifel aber, daß für Internet-Probleme dieser Art – neben den Wörterbuch-Redaktionen und den anderen Wissenschaften – die Geisteswissenschaften in besonderer Weise zuständig wären. (Spärliches) Material findet sich auf einigen Web-Sites, die ausschließlich dem Thema »Übersetzung von Internet-Terminologie« gewidmet sind. (Nettaal und NetGlos).[6]
Ein Buch wie Studium digitale hätte – last but not least – Anlaß zu fragen, ob das neue Medium auf das Studium der Geisteswissenschaften etwa bereits Auswirkungen zeige? Und wie sich eventuell das Verhalten der Studierenden bei der Rezeption von Online-Büchern, beim Surfen in digitaler Literatur und Nicht-Literatur verändere? Zu Themen wie diesen liegen bereits empirische Untersuchungen vor – während nicht auszuschließen ist, daß sie manchen hierzulande noch wie utopische Romane anmuten.[7] So wird es erlaubt sein, die Besprechung eines nützlichen Buchs zu einem wichtigen Gegenstand an dieser Stelle abzubrechen.[8]
Volker Deubel (München)
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |