Niemand wird auch nur fünf Seiten Belletristik am Stück am Computerbildschirm lesen, und niemand wird sich Bücher von einer CD-ROM ausdrucken; wenn es nur ums Lesen geht, wird man im Zweifelsfall immer die paar Mark für ein Taschenbuch ausgeben. Aber große Textmassen auf einer CD-ROM haben Vorteile, für Studenten, Universitätsgermanisten, Deutschlehrer. Sie machen Texte in neuer Weise handhabbar, die Suche nach Textstellen äußerst bequem, bieten umfangreichere Begriffswörterbücher als Grimm und Adelung, ermöglichen den Ausdruck von isolierten Passagen, die sonst erst eingetippt werden müßten – eine Prüfungserleichterung für die Prüfer. Die Multimedia-Möglichkeiten der CD-ROM werden bei Texteditionen fast nie genutzt, auch bei der rezensierten nicht. Bei den bislang 23 Reclam-Einzeltexten auf CD-ROM kann man sich den Text immerhin vorlesen lassen. Philines »Liedchen« aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, im 10. Kapitel des 5. Buches, wird auch dort leider nicht »auf eine sehr zierliche und gefällige Melodie« vorgesungen.[1]
Wilfried Baatz, Joseph Kiermeier-Debre und Fritz Franz Vogel haben eine anspruchsvolle CD-ROM-Edition unternommen: Die klassische Basisbibliothek auf CD-ROM soll es sein, und dann noch Die Bibliothek der Erstausgaben. Die. Es handelt sich um bislang 3 CD-ROMs, jede enthält etwa 40 vollständige Texte der deutschsprachigen Literatur, dazu (wenige) Werke fremdsprachiger Weltliteratur in zeitgenössischen Übersetzungen. Das entspräche für die vorliegende erste CD-ROM einem Umfang von etwas mehr als 4000 Standardbuchseiten. Damit ist der Speicherplatz der CD-ROM trotz aller Software-Kodierungen bei weitem nicht ausgenutzt: Die Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka in der Reihe »Digitale Bibliothek« bietet auf 70.000 Seiten etwa 700 Texte von 58 Autoren – auf einer CD-ROM! – bei wesentlich benutzerfreundlicheren Suchfunktionen und das für 30 DM weniger.[2]
Der älteste Autor der Basisbibliothek ist Abu Muhammad al-Quasim al-Hariri (*1054), der zuletzt gestorbene Paul Ernst († 1933). Die Auswahl oder Zusammenstellung eines Kanons kann immer ad infinitum diskutiert und kritisiert werden; das heißt noch lange nicht, daß solche Diskussionen überflüssig sind. Die hier vorgebrachte Kritik kann dabei nur vorläufig sein und sich auf die ersten drei CD-ROMs beziehen; der Textpool soll am Ende 500 Titel umfassen, von denen bislang erst 120 vorliegen. Durch die Gesamtzusammenstellung sind also Korrekturen des Bildes zu erwarten.
Die vorliegende Auswahl bietet einige Überraschungen. Über die Zusammenstellung der Autoren selbst gibt es nicht viel zu rechten, jeder wird Autoren vermissen – die vielleicht noch kommen –, andere überflüssig finden, die nun einmal da sind. Unter Vernachlässigung persönlicher Neigungen ließe sich fragen, warum auf den drei CD-ROMs drei Texte von Paul Ernst aufgenommen wurden (Ariadne auf Naxos, Das Glück von Lautenthal, Polymeter). Ludwig Thoma (acht Texte!) und Ludwig Anzengruber (Der Sternsteinhof) schienen mir eher Fälle für die Rubrik »Supplemente«, und ob Fredmans Episteln von Carl Michael Bellman und die Makamen des Hariri in Friedrich Rückerts Übersetzung tatsächlich in eine »Basisbibliothek« gehören – bei allen unbestreitbaren Qualitäten dieser Werke – scheint zumindest fraglich. Entschiedenen Widerspruch wird aber die Auswahl der Werke einzelner Autoren finden, die offensichtlich eher von den Vorlieben der Herausgeber diktiert ist als von nachvollziehbaren Kriterien.
Es gibt natürlich Autoren, wo man der Auswahl zustimmen wird. Bräker, Goethe, Kafka, Kleist, Seume sind gut vertreten und auch repräsentativ abgedeckt, die Werke Karl Philipp Moritz' sind vielleicht allzu großzügig aufgenommen worden.[3] Bei vielen Œuvres kann die Auswahl achselzuckend zur Kenntnis genommen werden: So geht es, doch anders geht es auch.[4] Aber es gibt auch Problemfälle. Von Christoph Martin Wieland ist keine der großen Prosa-Arbeiten vertreten, lediglich der kurze und nicht eben folgenreiche Roman Menander und Glycerion, dazu drei kleinere Versepen (Musarion, Der verklagte Amor, Combabus) und Shakespeare-Übersetzungen – allesamt eher unterschätzte Werke, keine Frage. Des Knaben Wunderhorn, Arnims und Brentanos Gemeinschaftswerk, ist zwar vollständig vertreten, von Brentano aber sonst nichts und von Achim von Arnim lediglich Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau und sein Romanerstling Hollin's Liebeleben, den Greno für die Krater-Bibliothek wiederentdeckt hatte, der aber weltenfern von den – fehlenden – Werken Isabella von Ägypten oder der Gräfin Dolores ist. Sicher ist es verdienstvoll, Heinrich Leopold Wagners Roman Leben und Tod Sebastian Silligs zur Verfügung zu stellen; aber nach seiner Kindermörderin sucht man vergeblich. Zweifellos zählt auch Johann Karl Wezels Belphegor zu den unterschätzten Werken der deutschen Literatur, aber ob sein Prinz Edmund dazugehört, sei dahingestellt. Von Jakob Michael Reinhold Lenz bekommen wir den Waldbruder, den Hofmeister und die Skizze Pandaemonium Germanicum; Die Soldaten fehlen. Hölderlin tritt uns als Romancier entgegen, Gryphius als Dramatiker, Herder als Volkslieder-Sammler.
Freilich sind etliche dieser ›Fehler‹ auf künftigen CD-ROMs korrigierbar. Und die gelegentliche Auswahl ›gegen den Strich‹ hat ja auch ihre Qualitäten. Zum einen werden (zu) wenig beachtete Werke der werten Leser-Aufmerksamkeit näher gerückt. Zum anderen werden Fassungsvergleiche leicht gemacht (Götz, Werther); besonders erfreulich sind hier die Texte der Shakespeare-Übersetzungen: Von The Tempest und A Midsummer-Night's Dream erhalten wir auf der ersten CD-ROM die bis heute prägende Übersetzung von Schlegel und Tieck (Der Sturm, Ein Sommernachtstraum), dazu noch die ältere, sprachmächtige, aber ärgerlich purgierte Wielands (Der Sturm, Ein St. Johannis Nachts-Traum). Und dann gibt es auf jeder CD-ROM die verheißungsvolle Rubrik »Supplemente«: »populäre Literatur in guten Textständen und/oder Übersetzungen«, mit denen sich allerdings nur eingeschränkt arbeiten läßt – sie sind nicht paginiert. Die ersten drei CD-ROMs bringen Texte von Karl May[5] und dem Marquis de Sade.[6]
Ein grundlegender Fehler der gesamten Auswahl allerdings ist nicht mehr korrigierbar: Die Texte sind nach irgendeinem lässigen Zufallsprinzip über die CD-ROMs verstreut. Die ersten drei Bände von Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sind auf drei CD-ROMs verteilt, dasselbe gilt für die drei Bände von Des Knaben Wunderhorn. Die beiden Werther-Fassungen finden sich auf CD 1 und 3, Götz von Berlichingen auf 1 und 2, Urfaust und Faust sind auf CD 1, Der Tragödie zweiter Teil auf CD 3. Und so fort – daß der gesamte Textbestand eines Autors sich auch auf einer CD-ROM befindet, passiert nur bei mit einem Werk aufgenommenen Autoren, wie Bräker, Calderon, Gozzi, dem Maler Müller oder Zschokke.
Daß die Multimedia-Möglichkeiten nicht genutzt werden, wurde schon erwähnt; auch eine Kommentarebene gibt es nicht, wie meistens bei CD-ROM-Editionen. Lediglich die Fußnoten der Verfasser selbst finden sich in den Popups. Kommentare sind urheberrechtlich geschützt, im Unterschied zu Erstausgaben, deren Verfasser länger als 70 Jahre tot sind; einen eigenen zu erstellen, macht jedenfalls weit mehr Arbeit, als Texte auszusuchen und zusammenzustellen; und der Speicherplatz auch dieses Mediums käme durch einen umfangreichen Kommentar an seine Grenze.[7]
Wie ist es nun um die Zuverlässigkeit der Texte bestellt? – Stichproben bei fünf Werken haben durchwegs dasselbe Bild ergeben: Orthographie und Interpunktion sind zuverlässig und entsprechen den Erstausgaben.[8] Nicht zitierbar im Sinne von durchwegs zweifelhaft sind Layout und Hervorhebungen: Der Blocksatz ist durch linksbündigen Flattersatz ersetzt. Zentrierungen auf Titelblättern werden durchwegs aufgehoben und mit linksbündigem Text (also gar nicht) wiedergegeben. Die Überschriftenhierarchien werden nicht beachtet und entweder nivelliert oder völlig neu vergeben. Klammern in Dramen-Personenverzeichnissen sind getilgt. Hervorhebungen wurden ganz unterschiedlich behandelt: In Gryphius' Catharina von Georgien hebt das in Fraktur gedruckte Original durch Fettdruck heraus, die CD-ROM durch Kursivierung der Antiqua-Schrift. Wieland betont Namen und einige Halbzeilen in Der verklagte Amor durch Sperrungen, auf der CD-ROM sind die Hervorhebungen vollständig weggefallen.
Die Edition nennt sich Bibliothek der Erstausgaben, auch daran wären ein paar Gedanken zu wenden. Mit dem Prinzip der Erstausgabe ist im Supplement gebrochen worden, Karl May wird nach der Ausgabe letzter Hand zitiert.[9] Diese Entscheidung ist vertretbar, Wiedenroth/Wollschlägers historisch-kritische Ausgabe von Mays Werken hat dieselbe Entscheidung getroffen. Sie wäre aber auch bei anderen Werken vertretbar (etwa bei Wieland). Außerdem: Bei barocken Werken, aber auch noch bei Karl Philipp Moritz gibt es immer wieder berechtigte Zweifel über den Stellenwert von Erstdrucken. Die Erstausgaben des Anton Reiser weisen Varianten in der Typographie, geringfügige auch in Orthographie und Interpunktion auf; es wäre ein philologisches Gebot gewesen, in solchen Zweifelsfällen die Bibliothek zu nennen, die die Erstausgabe gestellt hat.
Schließlich gibt es auch in Erstausgaben ein Phänomen, das sich ›Druckfehler‹ nennt. In Wielands Der verklagte Amor kommt dieses Phänomen durchaus vor: In einer Aufzählung steht statt eines Kommas ein Punkt (»Dionens Spaz, Minervens Eule. Apollos Schwan, [...]«); es ist von einem die Rede, der »schon grau/ In Mutterleibe war«, wo man »im Mutterleibe« erwarten würde. Und so fort. Erstaunlicherweise findet sich im Amor der Klassischen Basisbibliothek keiner dieser mehr oder weniger offensichtlichen Druckfehler, sie sind alle korrigiert, im Werbeprospekt heißt es »wissenschaftlich redigiert«. Eine Antwort auf diese erstaunliche Tatsache wäre wohl, daß die Herausgeber eben nicht die Erstausgabe benutzt, sondern auf Hans Radspielers Edition der Erstausgabe zurückgegriffen haben, aus der auch der Rezensent seine Weisheit zieht – dort sind die Druckfehler korrigiert, im Apparat vermerkt und in Zweifelsfällen als begründete Entscheidungen dargestellt.[10]
All dies sind Kleinigkeiten, gewiß, dennoch wünschte man sich ein paar editorische Bemerkungen dazu. Falls die Quelle nicht der Erstdruck war, muß sie genannt werden, ebenso wie die Layout- und Schriftänderungen vermerkt werden müssen; allein die bibliographische Angabe des Erstdrucks ist entschieden zu wenig.[11]
Wie sieht es mit der elektronischen Erschließung des Textes aus? Die Voraussetzungen für das proprietär kodierte System sind günstig, also vergleichsweise niedrig.[12] Das auf der CD-ROM enthaltene Handbuch für Folio Views 3.1 wird benutzerfreundlich präsentiert und ist – für ein Computerhandbuch – von erfreulich geringer Redundanz. Es handelt sich aber um ein reines Software-Handbuch, ist also völlig losgelöst von dem Inhalt der Edition. Bei der Erarbeitung der Optik von Bildaufbau und Benutzeroberfläche, auch der Texte, war ein Ästhet am Werk: Die Titelseiten der Erstausgaben sind in den meisten Fällen – ebenso wie nichtlateinische Alphabete –[13] eingelesen worden, gelegentlich auch zweite Seiten und Titelgrafiken. Diese Seiten sind in den kleineren Schrifttypen kaum noch lesbar, stellen also eher ein dekoratives Element. Die Präsentation der Texte selbst, der möglichen Suchanfragen,[14] des ständig möglichen Rückgriffs auf das Inhaltsverzeichnis und der vergangenen Suchanfragen[15] ist übersichtlich, gelegentlich würde man sich aber eine leichtere Textnavigation wünschen: Außer dem Inhaltsverzeichnis und den gezielten Abfragen läßt sich der »Gehe zu«-Befehl nur über die Eintrags- beziehungsweise Record-Ziffern definieren, und die weiß kein Benutzer. Einträge entsprechen Absätzen beziehungsweise Strophen und untergliedern den Text zusätzlich zu den angegebenen Seitenzahlen der Erstausgaben in kleinere Einheiten; mehr Präzision ist aber nicht geboten. Das bedeutet z. B. für Suchanfragen nach einzelnen Wörtern, daß als »Treffer« die Zahl der Einträge gilt, in denen das Suchwort vorkommt: In Moral, Erster Klasse und Der Ruepp von Ludwig Thoma werden für das Wort »Jessas« neun Treffer gemeldet, das Wort kommt elfmal vor.
Um die Suchfunktion zu betätigen, Popups aufzurufen, die Historien-Funktion zu verwenden oder Textauszüge zu drucken, kann der Benutzer nach der Installierung gleich medias in res gehen. Um die komplexeren und auch philologisch bedeutsameren Anwendungen zu benutzen, einen individuell durchgearbeiteten, annotierten Text herzustellen, muß erst eine Schattendatei angelegt werden, die dann allerdings vielfältige Möglichkeiten bietet: Hier können Druckfehler korrigiert, Lesezeichen, Markierungen (farbige Unterlegungen), Popups und Notizen angelegt (letztere auch ausgedruckt), Texte in andere Textverarbeitungsprogramme exportiert[16] und dort weiterverarbeitet werden. An verschiedenen Stellen befindliche Informationen können neu gruppiert und verknüpft werden. All dies ist ein Traum für Editionsphilologen, die so ihren Kommentar peu à peu am Text erarbeiten könnten; ich habe allerdings keinen Hinweis gefunden, wie umfangreich die angelegten Notizen werden dürfen.
Eine Schattendatei hat man sich dem Handbuch nach als »transparente Folie über einem Dokument« vorzustellen. Solche Dateien können in beliebiger Anzahl angelegt und wie übliche Textdateien fortlaufend verändert werden, von verschiedenen Benutzern, vom selben Benutzer für verschiedene Projekte mit gleicher Textgrundlage; oder sie können wieder zusammengeführt und neu kombiniert werden. »In unserer dynamischen Gesellschaft ändern sich die Informationen und Erkenntnisse im täglichen Leben kontinuierlich«, mit dieser Verheißung faßt das Benutzerhandbuch den Sachverhalt nicht ganz zutreffend, aber schick zusammen. Es ist zu erwarten, daß die Klassische Basisbibliothek der Entwicklung der dynamischen Gesellschaft innerhalb der nächsten Jahre anheimfällt; als dauerhaft könnte sich dann herausstellen, was hier eher als Nachteil gewertet wurde: die gelegentlich skurrile Auswahl von Texten, die sicherlich so schnell kein vergleichbares Unternehmen berücksichtigen wird.
Sven Hanuschek (München)
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |