1996 erschien in der Reihe »Reclam Kassiker auf CD-ROM« des Stuttgarter Verlagshauses Philipp Reclam jun. eine Geschichte der deutschen Lyrik in Beispielen, die – so der einleitende Text des Booklets – zu einer »Reise durch die Geschichte der deutschen Lyrik« einladen und mit dem modernen Medium Computer deren »älteste Provinz« – das Gedicht – (wieder)entdecken will. Die Wahl des »elektronischen Weges« für diese Expedition ins Reich der Dichtung begründet Herausgeber Dietmar Jaegle mit den Chancen der digitalen Zusammenführung unterschiedlicher Medien: Eine CD-ROM biete nicht allein Speicherplatz für zahlreiche und untereinander verknüpfbare Namen, Texte und Bilder, sondern ermögliche zugleich die Präsenz von Schrift- und Lautsprache, von Text und Vortrag, von planem Abdruck und Rezitation. Die Verbindung hör- und lesbarer Texte stellt jedoch noch nicht die entscheidende Innovation digitaler Editionen gegenüber herkömmlichen Publikationsformen dar. Die Transformation der materialen Gestalt von Texten in binär codierte Zeichenfolgen gestattet einiges mehr: Die Sammlung und Erschließung umfangreicher Bestände sowie deren effektive Recherche nach den Bedürfnissen des Nutzers; die Möglichkeit, digital vorliegende Quellen bequem weiterverarbeiten zu können; schließlich die hypertextuelle Kombination von Primärliteratur mit Kommentar und Hintergrundinformationen, die es erlaubt, Text und Kontext unmittelbar zu verknüpfen – wenngleich bereits hier die zentrale Frage jeder Interpretationstheorie auftaucht, welche Kontexte relevant sind. Eine weitere, wenn auch nicht ausschlaggebende Leistung digitaler Editionen besteht in der Integration von Rezitationen der Texte durch einen Sprecher, durch die Literatur auch unmittelbar auditiv erlebbar wird.
Im folgenden wird zu fragen sein, wie die elektronische Geschichte der deutschen Lyrik diese Chancen elektronischer Publikationen nutzte.
Die digitale Geschichte der deutschen Lyrik in Beispielen umfaßt 75 interpretierte Gedichte von 54 Autoren sowie 300 weitere Gedichte zur Exemplifizierung literaturtheoretischer und -historischer Erläuterungen. Neben biographischen Angaben zu den vertretenen Autoren stehen auch eine Zeittafel, Kurzcharakteristika der Epochen (mit Links zu weiteren Texten und Bildern) sowie ein Lexikon mit über 150 Grundbegriffen der Lyrikinterpretation zur Verfügung. 200 (durchgängig schwarz-weiße) Abbildungen sollen illustrative Hintergrundinformationen liefern. Der Vortrag der 75 interpretierten Gedichte durch den Stuttgarter Staatsschauspieler Wolfgang Höper ergibt insgesamt über vier Stunden Ton – so ist es nicht verwunderlich, daß die wav-Dateien den größten Anteil des Speicherplatzes auf den Silberscheiben einnehmen. Die publizierten Texte und Interpretationen entstammen bis auf eine Ausnahme der im Stuttgarter Reclam-Verlag zwischen 1983 und 1988 erstmals veröffentlichten fünfbändigen Edition Gedichte und Interpretationen.
In Auswahl und Gliederung folgt die Sammlung einem Kanonverständnis, dessen problematische Seiten vor allem bei CD 3 Vom Biedermeier bis zum Zweiten Weltkrieg hervortreten. Übersieht man die hier versammelten Autoren und Texte, die mit Bertolt Brechts Entdeckung an einer jungen Frau und Gottfried Benns Valse Triste abschließen, fällt mehr als ein Manko ins Auge. Nicht allein fehlen auch auf dieser CD fast gänzlich weibliche Stimmen – einzig zwei Texte von Anette von Droste-Hülshoffs (Am letzten Tag des Jahres und Im Grase) werden hier mit Interpretationen vorgestellt. So kann leicht der Eindruck entstehen, Lyrik in Deutschland wäre eine fast ausschließlich männliche Angelegenheit. Dem jedoch widersprechen schon im 19. Jahrhundert die poetischen Texte der Caroline von Günderode oder der Bettina von Arnim; im frühen 20. Jahrhundert die Gedichte der Else Lasker-Schüler oder der Gertrud von Le Fort. Zudem fehlen wichtige Beispiele für die Dichtung der Moderne, insbesondere für die Zeit nach dem Expressionismus. Johannes R. Becher, Hans Carossa, Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Josef Weinheber sind nur einige der Autoren, die für ein breites Spektrum der Lyrik jenseits der kanonischen Gestalten Brecht und Benn stehen und durchaus Beachtung verdienten. Dieses Mißverhältnis in der Aufmerksamkeit schlägt sich auch in den beigegebenen Materialien nieder: Während es hier achtzehn (!) Eintragungen zu beziehungsweise mit Verweis auf Mörike gibt, bleiben Lyriker des Expressionismus wie Franz Werfel, Jakob van Hoddis, Ernst Stadler aber auch Vertreter des Dadaismus weitgehend unberücksichtigt. Das ist bedauerlich, denn gerade an dieser Stelle hätte sich die Einbindung historischer Tondokumente angeboten – etwa die Aufnahme von Kurt Schwitters' Ursonate oder auch der 1930 ausgestrahlte Radiodisput zwischen Johannes R. Becher und Gottfried Benn über die Stellung der Lyrik in den Kämpfen der Zeit.
Die Geschichte der deutschen Lyrik in Beispielen wurde mit dem Programm ToolBook erstellt und greift auf bereits publizierte Texte und Deutungen der fünfbändigen Reclam-Reihe »Gedichte und Interpretation« (Stuttgart 1983-84, 1988, 1994) zurück. Es ist anzunehmen, daß die digitalen Vorlagen der bereits gedruckten Texte und Interpretationen verwendet wurden; orthographische Fehler konnte der Rezensent nicht auffinden, wenn auch bei der digitalen Umsetzung einige Zeilenenden am unteren Bildrand der für kleinere Monitore optimierten Oberfläche verschwanden.[2] Die Texte sind proprietär kodiert und lassen sich über die Zwischenablage exportieren und weiterverarbeiten.
Die Navigation erfordert keine größeren Anstrengungen: Nach dem Kopieren temporärer Dateien auf die Festplatte kann – wenn die entsprechende CD in das Laufwerk eingelegt ist – der jeweilige Band gestartet werden.
Vom Einstiegsmenü aus sind unterschiedliche Lektürewege möglich: Zur kulturgeschichtlich und literarhistorisch informierenden Epochenübersicht; zu den Materialien (die mit Wortsuche recherchierbar sind), zu den Autoren (deren Abfolge einem Zeitpfeil folgt – hier ist die gesuchte Dichterbiographie zu wählen) sowie zu den (ebenfalls chronologisch geordneten) »Gedichten« und den »Grundbegriffen der Lyrik«.
Die beigegebene Online-Hilfe wirkt etwas spartanisch, erfüllt jedoch ihren Zweck. Sich im Gemenge von Texten, Interpretationen und Erläuterungen zurechtzufinden, stellt den Nutzer vor keine größeren Schwierigkeiten, zumal neben jeder aufgeschlagenen ›Seite‹ ein Bedienungsmenü durch eine Buttonleiste visualisiert wird. Als nachteilig erweisen sich jedoch fehlende Verknüpfungen: So führen von den Lebensläufen der Autoren keine Links zu ihren interpretierten Gedichten; der Leser muß den Menüpunkt »Gedichte« aktivieren und gelangt erst zur chronologisch geordneten Liste aller erläuterten lyrischen Werke, um aus dieser das gewünschte Stück wählen zu können. Die Navigation innerhalb der Zeittafel wird durch die problematische Anwendung des Pfeils erschwert, der sich mit der Maus nur um je 50 Jahre verschieben läßt – so erfordert die Suche nach den dazwischen liegenden Zeiträumen einige Geduld, da man sich mittels Tastatur Jahr für Jahr an das Datum heranarbeiten muß.
Die Wortsuche beschränkt sich auf die in den »Materialien« abgelegten Texte; eine Recherche in den Modi »Gedichte«, »Autoren« und innerhalb der Interpretationen ist nicht möglich. Doch selbst auf der Ebene der »Materialien« erfaßt die Suche nicht vollständig alle aufgeführten Autoren; vergeblich recherchierte der Rezensent nach Else Lasker-Schüler, die – obwohl in den Materialien enthalten – nicht aufgefunden wurde. Worttrunkierungen sind ausgeschlossen; Eingrenzungen, Spezifizierungen oder das Abspeichern von Suchläufen werden nicht unterstützt. Ein weiterer Nachteil besteht darin, daß als Resultat einer Suche oft zahlreiche Angaben präsentiert werden und das gesuchte Wort innerhalb des durch Link erreichbaren Textes nicht besonders ausgezeichnet ist; die darum notwendige Lektüre verzögert den Suchvorgang mitunter erheblich. Wie erwähnt ist eine Wortsuche innerhalb der Ebenen Gedichte«, »Autoren« und »Epochen« unmöglich. Hier kann sich der Leser nur von Seite zu Seite bewegen, nicht jedoch unmittelbar an das Ende scrollen, um etwa die Literaturhinweise auf den ersten Blick durchzusehen.
Der Datenexport erfolgt via Zwischenablage; günstigerweise sind alle verfügbaren Texte kopier- und weiterverarbeitbar. Konkordanzen können jedoch nicht erstellt werden; ebensowenig kann der Benutzer Stellen annotieren oder aber bei offenkundigen Fehlern oder Mängeln in die Datei eingreifen, wie es etwa angesichts wiederholt auftretender unmotivierter Zeilenumbrüche (insbesondere in den »Materialien« und in den Interpretationen) oder fehlender Zeichenfolgen wünschenswert wäre.
Ein anregender Einstieg in die Gefilde der deutschen Lyrik ist mit den hier vorliegenden CD-ROM sicherlich gewonnen – wenngleich die große Chance vertan wurde, ein unentbehrliches digitales Arbeitsmittel vor allem für Studenten und Wissenschaftler zu schaffen. Zweifellos stellt der Versuch, Gedichte und Interpretationen in digitaler Form bereitzustellen und mit Rezitationen ausgewählter Texte zu verbinden, eine lobenswerte Initiative dar – doch warum konnte der Speicherplatz einer CD nicht dazu genutzt werden, vollständige Textkorpora wie etwa Gedichtzyklen und Werke außerhalb des Kanons stehender Autoren aufzunehmen ?
Da die von Directmedia für den Reclam-Verlag realisierte Edition weitgehend der Papiervorlage folgt und die Möglichkeiten digitaler Publikationen nicht ausschöpfte, hält sich der Wert dieses Angebots in Grenzen. Die Einbindung bekannter Texte in ein durch Mausklick zu bedienendes Menü führt nicht automatisch zu einer Neu- oder Wiederentdeckung von Lyrik; die vorgestellte materiale Basis erweist sich als zu schmal, als daß speziellere Interessen nicht rasch an ihre Schranken stoßen müßten. Verglichen mit der seit Herbst 1997 vorliegenden, von Mathias Bertram bei Directmedia lektorierten Textsammlung Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, den seit Frühjahr 1998 vorliegenden Autoreneditionen der »Digitalen Bibliothek« oder auch der digital aufbereiteten Zeugnisse des jungen Goethe nimmt sich die Geschichte der deutschen Lyrik in Beispielen geradezu blaß aus. Die hier vorliegende Mixtur aus weihevollen Rezitationen, bereits veröffentlichten Interpretationen und nicht durchsuchbaren Quellen eignet sich vielleicht für interessierte Laien und Studienanfänger; für darüber hinausgehende Ansprüche einer den Rechner nutzenden Beschäftigung mit Literatur kann nun – neueren Bemühungen sei Dank – auf anderes Material zurückgegriffen werden.
Ralf Klausnitzer (Berlin)
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |