ART SPIEGELMAN: MAUS. CD-ROM. MüNCHEN: SYSTHEMA 1996. – DOMINIQUE PRUD’HOMME/RICHARD SCHLIRF (HG.): GEGEN DAS VERGESSEN. EINE DOKUMENTATION DES HOLOCAUST. CD-ROM. MüNCHEN: NAVIGO 1997. [1]

Der Holocaust gehört inzwischen zu unserem kulturellen Wissen. Was etwa seit etwa der Mitte der achtziger Jahre in Frage steht, ist nicht mehr das Wissen selbst, sondern die Form dieses Wissens.[2] Und das hat eine Reihe von Gründen. Einer der Gründe ist in den neuen Medien zu suchen, zu denen auch die CD-ROM zählt. Die Entwicklung der CD-ROM zu einem alltäglichen Speicher- und Distributionsmedium ermöglicht es ja, große Datenmengen zu verdichten, heterogene Datenträger zu integrieren und diese jeweils schnell abzurufen, so daß vergangene Zeiten in viel größerem Umfang und medial differenzierter als bisher aufgezeichnet werden können. Es liegt nahe, zu vermuten, daß sich die Repräsentation der Geschichte im Gedächtnis der neuen Medien verändern wird.

Die gegenwärtigen historischen CD-ROMs entsprechen dem allerdings nur selten, sind sie doch noch weitgehend konventionell in der Umsetzung historischer Themen, jedenfalls wenn wir einmal die nur historisch ausstaffierten Computerspiele und die interaktive Lernsoftware unberücksichtigt lassen. Entweder geht man vom Printmedium aus und ergänzt dieses durch Fotos, Karten oder Videosequenzen, wie es etwa die CD-ROM Die weiße Rose (München: Systhema 1995) tut.[3] Oder man nutzt traditionelle Modelle der Politikgeschichte, wie etwa eine Reihe neuer CD-ROMs zur deutschen Geschichte.[4] Entworfen sind diese CD-ROMs weitgehend nach einer vergleichbaren Architektur: Datenbanken werden erstellt, ein verbindender Haupttext geschrieben, illustrierende Ton- und Bilddokumente hinzugefügt und alles drei miteinander vernetzt. CD-ROMs, die primär von den neuen medialen Möglichkeiten her aufgebaut sind, wie etwa die CD-ROM Die Stadt im Mittelalter sind deutlich die Ausnahme.[5]

Innerhalb dieser noch überwiegend zögerlichen Entwicklung verdienen zwei CD-ROMs besondere Aufmerksamkeit. Beide haben den Holocaust zu ihrem Thema. Die CD-ROM Maus nutzt Art Spiegelmans gleichnamigen Comic-Roman als Vorlage, der die Lebens- und Verfolgungsgeschichte von Spiegelmans Vater Vladek in Verkleidung einer Tiergeschichte erzählt. Die andere CD-ROM Gegen das Vergessen ist die erste Dokumentation des Holocaust, die primär vom Medium CD-ROM her konzipiert ist und nicht mehr nur vorhandene Bücher illustriert. Beides sind Übersetzungen einmal von Voyager, New York, das andere Mal von Endless Interactive, Brüssel.

Die Installation der beiden CD-ROMs ist vergleichsweise einfach. Wer unter Windows die Autostart-Funktion aktiviert hat, auf dessen Rechner installiert sich die CD-ROM jeweils selbständig, sonst ist den Installationshinweisen der Inlays zu folgen. Auch wird automatisch ein Quick Time-Programm für das Abspielen von Videosequenzen heruntergeladen, sofern ein solches Programm noch nicht auf dem Rechner installiert ist. Dennoch: Hier am Handbuch zu sparen, wie es beide CD-ROMs tun, setzt voraus, jeder Nutzer der CD-ROM sei hinreichend mit dem Medium vertraut. Das überschätzt viele, die gewohnt sind, sich erst einmal lesend einen Überblick über die CD-ROM und ihre Programmfunktionen zu verschaffen. Nicht jeder wird in der Readme-Datei nachschlagen. Ganz zu schweigen davon, daß es die Schwelle für potentielle Käufer einer knapp hundert Mark teuren CD-ROM erhöht, weil nur in wenigen Buchhandlungen Rechner zur Demonstration stehen. Hier haben die beiden inzwischen fusionierten und mehrheitlich zur Holtzbrinck-Gruppe gehörenden Verlage an der falschen Stelle gespart.

Die Homepages beider CD-ROMs unterscheiden sich signifikant. Maus bietet eine übersichtliche Einstiegsseite und zusätzlich am oberen Rand eine Menüleiste mit Rollfenstern, wie sie aus vielen Computeroberflächen vertraut ist. Der Aufbau der Homepage folgt in groben Zügen der Abfolge Entstehung – Werk – Rezeption. Die »Einführung« entfaltet, was im einleitenden Teil von Maus I über die Entstehungsgeschichte des Comic-Buchs auf wenige Schlüsselszenen konzentriert ist. Zugleich führt es die Medien einzeln vor, die im Hauptteil dann gekoppelt sind, und erklärt die Probleme, die gerade die Erarbeitung einer CD-ROM zu einem Comic bereitet haben. Der Hauptteil bietet dann die beiden Teilbände von Maus, wie sie im Druck erschienen sind, aber erweitert um die Möglichkeit, Vorentwürfe, Skizzen, Interviews und Videosequenzen zuzuschalten. Außerdem können die einzelnen Panels durch ein Mausklick vergrößert werden. Im Kapitel mit der doppeldeutigen Überschrift »Art über Art« lassen sich von Skizzen begleitete Interviews abrufen, in denen Spiegelman seine Konzeption erläutert. Der »Anhang« ergänzt das durch gedruckte Stellungnahmen Spiegelmans und durch zustimmende Artikel über ihn. Unter »Ergänzungen« finden sich schließlich Karten, ein reich bebilderter Stammbaum der Familie Spiegelman und vor allem auf über 700 Seiten die Mitschriften der Interviews, die Art Spiegelman mit seinem Vater zwischen 1972 und 1979 geführt hat. Ein Suchprogramm erschließt den (gelegentlich fehlerhaft abgetippten) Text, ermöglicht Markierungen im Text oder auch ganzer Seiten und damit auch die Exportierung der markierten Stellen in gängige Textverarbeitungsprogramme. Bis auf die Videosequenzen und die Interviewabschriften sind alle übrigen Teile durch Christine Brinck und Josef Joffe, die auch die deutsche Printausgabe von Maus erarbeitet haben, überzeugend übersetzt und begleiten als Texttafeln die originalsprachlichen Videomitschnitte.

Gegenüber dieser noch am Printmedium orientierten CD-ROM realisiert die zweite CD-ROM eine deutlich ambitioniertere, weil primär multimedial aufgebaute Architektur der Daten. Während Spiegelmans CD nur zur Eröffnung eine kurze Jazzmelodie aus den dreißiger Jahren abspielt, wird noch bevor das Hauptmenü der Holocaust-CD auf dem Bildschirm erscheint, ein kurzer Vorfilm gezeigt, der schon deutlich macht, was hier beabsichtigt ist: eine affektiv stark aufgeladene Präsentation des Themas, die alle Medien gleichzeitig und nicht nur als fakultative Ergänzung nutzt. Während schemenhaft aus dem Dunkel einer alten Fotografie die Gesichter von KZ-Häftlingen zu sehen sind, ist der Ton eines Herzschlags zu hören. Dann wechseln rasch und unvermittelt Bild- und Tonsequenzen: Redefetzen von Hitler werden eingespielt: Man sieht und hört Züge nach Auschwitz fahren, Luftaufnahmen des Lagers, Kinderhäftlinge und KZ-Opfer. Das Hauptmenü setzt diese suggestive Darstellungsweise fort. Zu erkennen ist zunächst wiederum nur das schemenhafte Bild der Häftlinge, das von einem dunklen Streicherton begleitet ist, während gleichzeitig links oben im Thumbnail-Format eine kurze, ständig wiederholte Videosequenz aus Überblendungen von Filmausschnitten aus der jüdischen Geschichte abläuft. Erst wenn der Mauszeiger auf eine der sensitiven Schriftflächen trifft, leuchtet die darunter liegende Kapitelüberschrift auf. Damit ändern sich gleichzeitig Hintergrundbild und Begleitmusik. Offensichtlich schließt diese CD-ROM ausdrücklich die Möglichkeit ein, daß jemand sich tastend ›durchklickt‹, und das heißt dann auch von der Fülle an Bildern, Texten und Tönen überwältigt wird. In ihrem »Vorwort« erklären denn auch die Produzenten Dominique Prud’homme und Richard Schlirf, daß sie nicht beabsichtigen, den Holocaust erklären zu wollen, daß es ihnen vielmehr darum geht, die »Erinnerung aufrecht und am Leben zu halten« (S. 1). Ausdrücklich heben sie hervor: »Die hier zusammengetragenen Texte, Bilder und Klänge sollen dazu beitragen, Gefühle und Gedanken zu wecken« (S. 4). Deshalb ist zwar unter »Bibliographie« eine Zusammenstellung von über vierzig Titeln zur Holocaust-Forschung zu finden. Aber die affektive Aufladung des Themas beherrscht die CD-ROM. Jeder Mausklick wird als kurzes, scharfes Geräusch verstärkt. Zwischen den Kapiteln werden Polizeifotos von Häftlingen eingeblendet, während gleichzeitig der Ton eines Herzschlags zu hören ist.

Öffnet man unter »Navigation« das Inhaltsverzeichnis der CD-ROM, dann lassen sich hier wie auch bei Maus drei Ebenen unterscheiden. Die erste Ebene ist die der Homepage. Unterhalb von ihr ist der Haupttext zu finden. Er ist kapitelweise gegliedert, bei Maus entsprechend der Gliederung des Comic-Buchs, die CD-ROM Gegen das Vergessen folgt der historischen Chronologie, also »Die Juden«, »Hitlerdeutschland«, »Der Holocaust«, »Nachwirkungen«. Unterhalb dieser zweiten sind auf einer dritten Ebene Text-, Ton-, Filmdokumente zu finden. Sie sind multimedialen Fußnoten vergleichbar, die man lesen kann oder auch nicht. Der Wechsel zwischen Haupttext und Fußnoten geht in beiden CD-ROMs leicht vonstatten. Die elektronischen Comicseiten von Maus erlauben es, auf eine links davon angebrachte Symbolleiste zu klicken, um Vorskizzen zu einzelnen Panels zu sehen, oder – sofern sie für die jeweilige Seite vorliegen – Tonbandmitschnitte von Vladek oder Art Spiegelman anzuhören, Fotos, Filmsequenzen oder Entwürfe für die Gesamtseite zu sehen. Auf der CD-ROM Gegen das Vergessen sind dem vergleichbar am rechten Bildrand die Icons angeordnet. Streift der Mauszeiger über eines der Symbole, wechselt er die Form und wird entweder zu einer Füllfeder, einem Mikrofon, einem Fotoapparat oder einem Filmstreifen. Die entsprechenden Medien werden dann aufgerufen.

Beide CD-ROMs ermöglichen es außerdem, in definierten Grenzen die Medien interaktiv zu nutzen, also etwa Ton- und Filmausschnitte vor- oder zurückzuspulen und sich selbst jeweils diejenigen Materialien und Medien zu suchen, die einem passend erscheinen. Insofern geht die Mediennutzung über die strukturelle Analogie zu Fußnoten hinaus. Demgegenüber sind Suchfunktionen nur auf der CD-ROM Maus programmiert. So können Textstellen und zu einzelnen Seiten gezielt Tonbandmitschnitte und Videos gesucht werden. Da sich aber die Suche immer nur auf die Seiten des Comic-Buchs bezieht, können etwa Videosequenzen nicht als selbständige Daten gesucht werden. Auch die CD-ROM Gegen das Vergessen bietet ein Glossar, das aber über die Homepage, obwohl dort als Icon vorhanden, nicht abgerufen werden kann, sondern nur über die jeweiligen Kapitel. Eine Such- und Exportierfunktion ist hier nicht vorgesehen.

Beide CD-ROMs nutzen die genuinen Möglichkeiten des neuen Mediums CD-ROM. Sie speichern Datenmengen in einem Umfang, wie sie für das Medium Buch kaum vorstellbar sind. Das Comic-Buch Maus wäre allein schon durch die Interviewmitschriften mehr als dreimal so umfangreich, wie es die gedruckte Ausgabe ist, ganz zu schweigen, von den Hunderten von Skizzen und Entwürfen, die im Druck zwar noch zu realisieren wären, aber auch Umfang und Kosten des Buchs in die Höhe treiben würden. Die CD-ROM Gegen das Vergessen ist als Printmedium nicht mehr denkbar. Zwar wurde für diese CD-ROM von dem renommierten Holocaust-Forschers David Cesarani ein eigener Text geschrieben, der selbständig veröffentlicht werden könnte. Aber nicht der Text, sondern die Bilder und Klänge stehen hier im Vordergrund. Auch für sie haben die beiden Produzenten Dominique Prud‘homme und Richard Schlirf zusammen mit ihren Mitarbeitern in den Rundfunk-, Foto- und Filmarchiven Europas, Israels und den USA mehr als 500 Fotografien und über eine halbe Stunde Videosequenzen eigens recherchiert und zusammengestellt. Dazu wurden außerdem eigens Musikmontagen komponiert wie sonst nur für Filmproduktionen.

Die CD-ROMs lassen allerdings offen, nach welchen Kriterien die Daten zusammengestellt wurden. So ist bei Maus nicht zu ersehen, warum die wichtigste Spiegelman-Anthologie Breakdowns nicht für die CD-ROM eingelesen wurde.[6] Denn sie bietet einen ungleich differenzierteren Einblick in die Kunst- und Literaturgeschichte der Bildergeschichte und des Comic strips. Außerdem bietet Breakdowns nicht nur Texterklärungen, sondern auch bibliographische Hinweise und reiche Bildbeispiele, wie sie auf der CD-ROM nicht zu finden sind. Gemessen daran sind manche der Informationen aus den Videosequenzen der CD-ROM etwa darüber, daß erst auf einem 19"-Bildschirm die Comicseite ungebrochen gelesen werden kann, reichlich trivial. Spätestens seitdem Maus 1992 mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, ist die Tendenz nicht mehr zu übersehen, den Comic-Roman wie ein Ereignis der Hochliteratur zu behandeln und die Filiationen zur ›wilden‹ Kultur des Trivialen und des Underground zu ignorieren.[7] In dieser Hinsicht wird man der CD-ROM den Vorwurf nicht ganz ersparen könne, sie kanonisiere nur die inzwischen offiziell gewordene Bewertung des Comic-Buchs.

Die CD-ROM von Prud’homme und Schlirf setzt ganz auf die enge Kopplung verschiedener Medien, so daß jedes Medium für sich unvollständig bleibt. Leider häufen sich in der deutschen Ausgabe der CD-ROM ausgesprochen viele ärgerliche Fehler im Text, schlichte Schreib- und Trennungsfehler, Übersetzungsfehler, aber auch Sätze wie »Die Macht entglitt schnell den Händen des deutschen Kaisers und fiel in die von parlamentarischen Politikern« (Kapitel »Der Aufstieg der Nazis«/»Die Weimarer Republik«, S. 1) oder »Hitler nahm heftigen Anteil an der sogenannten ›Judenfrage‹« (Kapitel »Der Holocaust«/»Der Weg der Ausrottung«, Begleittext zum Tondokument).[8] Die Fehler stören um so mehr, als ansonsten die aktuelle Forschung eingearbeitet ist und in der ausgewogenen Darstellung auch widersprüchliche Aspekte des Themas Platz gefunden haben. So findet sich etwa ein eigenes Kapitel über den Widerstand der Juden, ein Thema, das erst in den letzten Jahren Gegenstand der Holocaust-Forschung geworden ist. Um so bedauerlicher dann aber auch, daß die große Fülle interessanter und nur schwer zugänglicher Dokumente nicht quellenkritisch verzeichnet ist und entsprechend auch Such- sowie Exportierfunktionen nicht vorgesehen sind. Zuletzt wird man auch darüber streiten können, ob der Zwang zum Bild so weit gehen muß, daß die Beendigung des CD-ROM-Programms durch die Sprengung eines NS-Reichsadlers illustriert werden muß.

Beide CD-ROMs sind also nicht immer überzeugend konsequent in der Ausnutzung der spezifischen Möglichkeiten, die ihnen das Medium bietet. Dennoch, gerade die CD-ROM Gegen das Vergessen führt vor, was ein Medium wie die CD-ROM an der Schnittstelle von Öffentlichkeit, Schule und Wissenschaft leisten kann. Für die einen bietet es etwa in den »Zusammenfassungen« eindrucksvolle Gesamtdokumentationen, die einer guten Fernsehkurzdokumentation vergleichbar sind, also eine feste Kopplung von Sprecherstimme, Bild und Text vorführen, auch wenn man dafür Vereinfachungen etwa bei der Darstellung der mehr als zweitausendjährigen Geschichte des Judentums in Kauf nehmen muß. Für andere erlaubt die CD-ROM affektive wie kognitive Zugriffe auf das Thema Holocaust. Wollte man das über das herkömmliche Medium erreichen, bräuchte man eine kleine Bibliothek von Forschungstexten, Bildbänden und Videokassetten, die dann immer noch nicht über einen zentralen Zugriff zu erreichen wären. Käme einem auf der CD-ROM ein intelligentes Suchprogramm zu Hilfe, dann würde Gegen das Vergessen auch in wissenschaftlichen Kontexten ihren Sinn haben.

Daß demgegenüber die CD-ROM Maus nicht in gleicher Weise überzeugt, hängt mit der Vorlage zusammen. Zu recht wurde das Comic-Buch dafür gelobt, auf eine ebenso kunstvolle wie einleuchtende Weise gleichzeitig die Geschichte des Holocaust und die Geschichte der Erinnerung an ihn zu erzählen. Da Maus seine eigene Entstehungsgeschichte ständig selbst reflektiert, muß sich eine CD-ROM entscheiden, was sie darüber hinaus an Dokumenten bieten möchte, zumal mit Breakdowns eine erkenntnisreiche Ergänzung bereits vorliegt. Wie Art Spiegelman in einem der Interviews auf der CD-ROM erklärt, stand am Anfang die Idee, die Skizzenbücher und Entwürfe, Bildvorlagen, Interviews und Tonbandmitschnitte, die für eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art und im Baseler Ausstellungsraum Klingental zusammengestellt wurden, auf einer CD-ROM umfassend zu dokumentieren. Wie Spiegelman selbstkritisch einräumt, habe er dabei die Möglichkeiten des neuen Mediums überschätzt. Das ist insofern richtig, als es das Medium derzeit noch vorgibt, da gerade Bilder und erst recht bewegte Bilder ungleich mehr Speicherplatz beanspruchen als Texte. Dennoch ist es nicht das Medium, dem hier ein Vorwurf zu machen wäre. Vielmehr liegt der Irrtum in der Vorstellung vom ›totalen Text‹, den selbst Interpreten wie James E. Young in der CD-ROM realisiert sehen wollen,[9] jener Auffassung, wonach durch immer mehr Texte, die immer enger miteinander verknüpft sind, ein authentisches, weil von individueller Autorintention abgelöste Bild des Holocaust entstehen würde. Der Holocaust hat aber keine Bedeutung an sich, abgelöst von denjenigen, die sich erinnern. Weder wird der Text durch die Medienkopplung dekonstruktiver noch verschwindet der Autor, eher das Gegenteil läßt sich beobachten.[10] Die offene Anlage des Comic-Buchs wird durch Fotos, die zeigen, dieses oder jenes Gebäude ist tatsächlich einstöckig und nicht zweistöckig, hier saß Art Spiegelman, um sich Skizzen zu machen und was dererlei Informationen mehr sind, eher vereindeutigt und trivialisiert. Und dadurch, daß wir auf der CD-ROM Fotos von Spiegelmans Familie sehen, aber keine kritische Rezension seines Comic-Romans zu lesen bekommen, eine große Zahl von Selbstkommentierungen vorfinden, aber keine Kritik, inszeniert die CD-ROM vor allem die Rolle des Autors Spiegelman. Das Medium CD-ROM hätte eine andere, durchaus (selbst-)kritischere Fokussierung erlaubt.

Noch eine andere medientheoretische Annahme korrigiert die Analyse beider CD-ROMs. Beide sind sie keineswegs nicht-lineare Texte. Es gibt vielmehr eine vom Medium Buch her vertraute Strukturierung in Kapitel und Unterkapitel, die genau umgrenzte fakultative Ergänzungen freihält, wie sie etwa dem Nachschlagen in einem anderen Buch, in Bildbänden oder auf Videos entsprechen würde. Dafür gibt es vermutlich kognitionspsychologische Gründe. Hier identifiziert die Medientheorie meines Erachtens an der falschen Stelle die durch die neuen Medien induzierten Veränderungen. Präziser scheint es mir zu sein, die Umstellungen an anderer Stelle zu vermuten. Die CD-ROMs sind bei aller Analogie mehr als nur eine andere Art von Büchern, bieten sie doch eine ungleich höhere Integrationsleistung und Beschleunigung des Zugriffs. Neuere Speichermedien wie die DVD-ROM werden diesen Trend noch fortsetzen. Das mag zunächst als ein bloß quantitativer Unterschied erscheinen. Es ist aber dann ein auch qualitativer, wenn Datenmengen erschlossen werden, wie sie im Medium Buch nicht präsentiert werden können und diese Daten auch nicht mehr fast ausschließlich an die Aufzeichnungsart Schrift gebunden sind. Damit wird sich die Navigation und die Relation der Medien zueinander ändern. Es ist nicht unplausibel zu vermuten, daß es vor allem Bilder sein werden, die unser kollektives Gedächtnis immer mehr bestimmen und damit auch unser schriftgestütztes, kulturelles Wissen verändern werden.[11] Neue Stabilisierungstechniken, die jedes Wissen braucht, um kommunikationsfähig zu bleiben, werden sich durchsetzen. Beide CD-ROMs bieten dafür bereits schon reiches Anschauungsmaterial.

Gerhard Lauer (München)


[1] Systemvoraussetzungen: PC ab 486-33SX, 8 MB RAM, Grafikkarte ab 640x480, 256 Farben, CD-ROM-Laufwerk, Sound-Karte, MS DOS 5.x oder MS Windows (3.1x, 95, NT), Quick Time für Windows (2.0.3) beziehungsweise Macintosh, 25 MHz-68030, 640x480 + (13"), System 7, 8 MByte RAM installiert, 5500 KB frei, CD-ROM-Laufwerk, Preis: 99.- DM (Gegen das Vergessen), 98.- DM (Maus).
[2] Ein Beleg für die Veränderung des kollektiven Gedächtnisses ist die Historisierung der Erinnerungspolitik, vergleiche Peter Reichel: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die Nationalsozialistische Vergangenheit. München, Wien: Hanser 1995 oder Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München: Beck 1996 oder Jeffrey Herf: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland. Aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt. Berlin: Propyläen 1998; zur Problematik des Mediums Film vergleiche Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg's Holocaust: Critical Perspectives on Schindler's List. Bloomington, Indiana: University Press 1997 und Matías Martinez: Authentizität als Künstlichkeit in Steven Spielbergs Film Schindler's List. In: Compass 2 (1997), S. 36-60.
[3] Vergleiche die Rezension zu Die Weiße Rose von Thomas Hartge: Politische Bücher auf Datenträger. Mit CD-ROM in die Steinzeit. In: Das Parlament 40/41 (1995), S. IX.
[4] Zum Beispiel: Das 20. Jahrhundert. München: Systhema 1996; Deutsch-Deutsche Zeiten. München: Systema 1996; »... zur Freiheit.« Die Geschichte der Berliner Mauer. Stuttgart: Next Edit 1996; Erlebnis Geschichte. Deutschland seit 1945. Stuttgart: Klett 1997; 1848-1949. Ein Jahrhundert deutsche Geschichte. Mannheim u.a.: Brockhaus 1997 oder Deutsche Geschichte von 1949 bis zur Gegenwart. Landsberg a. Lech: Olzog 1997. – Online-Rezensionen zu Historika auf CD-ROM finden sich unter folgenden drei Adressen: <http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/Geschichte/_cd-rom/cd-rom.htm>, <http://userpage.fu-berlin.de/~history1/cdcoll.htm> und <http://www.lrz-muenchen.de/ ~ng/gfn/cdrom.html> (17.12.98); außerdem in Listserv-Gruppen, zum Beispiel: Markus Hahn: Rezension von Deutsche Geschichte von 1949 bis zur Gegenwart. In: H-Soz-u-Kult, H-Net reviews (Dezember 1998). <http://www.h-net.msu.edu/reviews/exhibit/ showrev.cgi?path=79/> (07.12.98) oder Johannes U. Müller: Rezension von 1848-1949. Ein Jahrhundert deutsche Geschichte. In: H-Soz-u-Kult, H-Net reviews (Dezember 1998). <http://www.h-net.msu.edu/reviews/exhibit/showrev.cgi?path=85> (15.12.98).
[5] Die Stadt im Mittelalter. Arau, Bergisch Gladbach, Köln: Sauerländer, Freies Historiker Büro, Micro Media Arts 1995. Eine Übersicht über neuere CD-ROMs zur Geschichte bietet: Christine Arbogast: Neue Wahrhaftigkeiten oder das endgültige Ende der Geschichte? Historika auf CD-ROM. In: Geschichte und Gesellschaft 24, 4 (1998), S. 633-647, außerdem Roy Rosenzweig: »So, What’s Next for Clio?«. CD-ROM and Historians. In: The Journal of American History 81 (1995), S. 1621-1640. – Historika als Computerspiele untersucht Peter Wolf: Der Traum von der Zeitreise. Spielerische Simulation von Vergangenheit mit Hilfe des Computers. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 9 (1996), S. 535-547.
[6] Art Spiegelman: Breakdowns. Gesammelte Comicstrips von Art Spiegelman mit einem Beiheft von Martin Langbein und Klaus Theweleit. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, Roter Stern 1980.
[7] Das tut auch die Literturwissenschaft, zum Beispiel Andreas Huyssen: Von Mauschwitz in die Catskill und zurück. Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus. In: Manuel Köppen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 1997, S. 171-189.
[8] Vergleiche Thomas Ferres: Rezension von Gegen das Vergessen. (15.04.1997). <http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/Geschichte/_cd-rom/gdv.htm> (02.12.1998).
[9] James E. Young: The Holocaust as Vicarious Past. Art Spiegelman’s Maus and the Afterimage of History. In: Critical Inquiry 24, 3 (1998), S. 666-699, S. 692. Vergleiche zur CD-ROM auch das Interview mit Elena Lappin: In Pursuit of the Pleasure Principle. In: The Jewish Quarterly 157 (1995), S. 6-9 und die Diskussionen und Links unter <http://students.vassar.edu/~hoschnei/maus.html#reviews/>, <http://arts.ucsc.edu/derek/Art.html>, <http://jefferson.village.virginia.edu/holocaust/spiegelman.html> (17.12.98).
[10] Kritisch zu dieser Art von Befreiungstheologie des Textes, derzufolge in den neuen Medien der Autor verschwinde und damit die Wahrheit des Textes unverstellt sichtbar würde, Simone Winko: Lost in Hypertext? Autorkonzepte und neue Medien. In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/ Matías Martinez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999 (Im Druck).
[11] Die wissenschaftliche Reflexion der Veränderungen unserer Erinnerungsrepräsentation orientiert sich demgegenüber immer noch am Medium Buch, wie etwa die Goldhagen-Debatte gezeigt hat, vergleiche Volker Pesch: Die künstlichen Wilden. Zu Daniel Goldhagens Methode und theoretischem Rahmen. In: Geschichte und Gesellschaft 23, 1 (1997), S. 152-162. Auch die historische Bildkunde steckt noch ganz in den Anfängen, vergleiche Manfred Treml: »Schreckensbilder« – Überlegungen zur Historischen Bildkunde. Die Präsentation von Bildern an Gedächtnisorten des Terrors. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 5/6 (1997), S. 279-294.

Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) [Zurück zum Inhaltverzeichnis]