Die Geschichte der Berliner Abendblätter ist hinlänglich bekannt: Für die Dauer von nur zwei Quartalen (vom 1.10.1810 bis zum 30.3.1811) sind täglich außer sonntags vier einspaltige Seiten in bescheidener Druckqualität erschienen. Kleist veröffentlichte in seiner Zeitung höchst unterschiedliche Texte und Textsorten: Erzählungen, Rezensionen, Diskussionsbeiträge, lokale Meldungen sowie (bis zum 31.12.1810) Auszüge aus den täglichen Berichten des Berliner Polizeipräsidenten. Der Großteil der Beiträge stammte von Kleist selbst, Zusendungen von Mitarbeitern, aber auch Quellen, wurden energisch bearbeitet. In den ersten Wochen sah es so aus, als sollte das kleine Tagblatt mit seiner Mischung aus Bildungsanspruch, Unterhaltungsqualität und Stadtnähe Erfolg haben. Doch die verschärfte Zensur der preußischen Behörden und Konflikte mit den Mit- beziehungsweise Zuarbeitern stellten den Anfangserfolg schnell in Frage; Julius Eduard Hitzig (Jurist mit ansehnlicher Karriere im preußischen Justizdienst, Verleger, Literat, jedermanns Freund sowie seinerseits ein sehr erfolgreicher Gründer und Herausgeber juristischer Fachzeitschriften) trat noch vor dem Ende des ersten Quartals als Verleger zurück (wozu ihn sowohl materielle Gründe als auch politische Rücksichtnahmen bewogen haben, im übrigen deckten sich seine Erwartungen von Anfang an nicht mit denen Kleists). Alle Versuche, aus der Zeitung ein quasi-offizielles Organ zu machen, scheiterten. Eine kurze Erklärung Kleists in der letzten Nummer vom 30.3.1811 markiert das nach außen unspektakuläre Ende der ›ersten unabhängigen Tageszeitung‹ Berlins. Die Rekonstruktion ihrer Geschichte stützt sich einerseits auf den Textbestand selbst und seine intertextuellen Bezüge, andererseits auf die Beobachtungen, die in den Behörden (vor allem der Zensur), in den Kreisen des ›literarischen Lebens‹ sowie bei den Konkurrenzblättern gemacht und vertextet wurden. Man muß diese Grenzen thematisieren: Über die ›normalen‹ Leser (die ihre Tageszeitung ›verbraucht‹, also gelesen haben, ohne sich weiter schriftlich zu ihr zu äußern) wissen wir wenig bis nichts.
Einen ersten Nachdruck der Zeitung hat Georg Minde-Pouet 1925 in der Reihe »Faksimiledrucke literarischer Seltenheiten« des Leipziger Verlags Klinkhardt & Biermann herausgegeben, die Reproduktion dieser Ausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft (mit einem Anhang von Helmut Sembdner) hat – trotz ihrer schlechten drucktechnischen Qualität – jahrelang gute Dienste geleistet (im WBG-Katalog 1998/99 habe ich sie nicht mehr gefunden). Seit gut einem Jahr liegen die Berliner Abendblätter nun als die Bände II/7 (396 Seiten) und II/8 (437 Seiten) der Brandenburger Kleist-Ausgabe vor, und zwar nicht mehr im Faksimile, sondern als Neusatz. Der Schuber ist gewichtig: Der Text der Abendblätter wird erschlossen durch Inhalts-, Personen-, Orts- und Verfasserverzeichnisse sowie durch eine Liste der Zeitungen und Zeitschriften, die als Quellen von Beiträgen ermittelt wurden. Der editorische Bericht von Roland Reuß (Band II/8, S. 384-392) wird ergänzt durch die Brandenburger Kleist-Blätter 11 (411 Seiten) mit Aufsätzen von Roland Reuß und Fabian Dierig zum Konzept der Zeitung und zur Rolle des Herausgeber-Redakteurs Kleist, mit einer (materialreichen) »Chronik« der Abendblätter von Peter Staengle sowie mit dem Abdruck von literarischen Quellen, Zensur- und Verwaltungsakten und – besonders zu begrüßen – der erstmaligen Veröffentlichung der Berichte des Berliner Polizeipräsidenten vom 28. September bis zum 31. Dezember 1810, die Kleist für die Abendblätter verwenden konnte. Darüber hinaus enthält der Schuber eine CD-ROM mit dem gesamten gedruckten Bestand der beiden Bände, dem Faksimile der Abendblätter sowie den ebenfalls eingescannten Zeitungs- und Zeitschriftenquellen. Für Roland Reuß ist dies ein »Abfallprodukt« der »Buchproduktion« (Band II/8, S. 389).
Hier ist nicht der Ort prinzipieller Anmerkungen über die Brandenburger Ausgabe, auch nicht der des Vergleichs mit der Kleist-Ausgabe, die im Deutschen Klassiker Verlag erschienen ist. Die Edition des ›Ensembles‹ der »Berliner Abendblätter, die den Rahmen herkömmlicher Werkausgaben sprengt, ist ohne Zweifel sinnvoll (den Begründungen des editorischen Berichts und der Beiträge in den Kleist-Blättern kann insofern nur zugestimmt werden). Das Profil des Herausgeber-Redakteurs, seiner Texte und Manuskriptbearbeitungen, wird erst in der Gesamtschau des Textbestandes und seiner Anordnung kenntlich – und komplementär dazu seine Konzeption des Lesepublikums am Anfang des 19. Jahrhunderts. Zwar geht, zumindest in der gedruckten Form, die Anmutungsqualität des Faksimiles verloren, doch entschädigt die vorliegende Ausgabe für diesen Verlust durch den sehr erfreulichen und großzügigen Druck. Zum ersten Mal liegen die Berliner Abendblätter in bestens lesbarer Qualität vor, die den Forschungsstand integriert und die Arbeit Kleists als Herausgeber-Redakteur erfahrbar macht. Die Anordnung ist zweispaltig: Die Innenspalte trägt den Text der Abendblätter, die mitlaufende Außenspalte enthält die Autorzuschreibung sowie Verweise auf die Forschungsliteratur zum jeweiligen Beitrag und zu seinen Quellen. Am unteren Rand vermerken die Herausgeber berichtigte Druckfehler des Originals (wobei, nicht überraschend, der Neusatz wiederum Druckfehler produziert, vergleiche zum Beispiel Band II/, S. 208, Z. 1). Zum positiven Eindruck der Präsentation trägt die CD bei, wenngleich bei ihr einige Abstriche vom Wünsch- beziehungsweise Vorstellbaren zu machen sind (bekanntlich kommt der Appetit mit dem Essen):
Die gedruckten und gescannten Texte sind für den (beziehungsweise mit dem) Acrobat Reader aufbereitet und liegen als pdf-Dateien vor, die Lesesoftware (für alle gängigen Windows-Systeme sowie für Apple Macintosh und Unix-Rechner) ist auf der CD enthalten, nur sie muß auf der Festplatte des PCs installiert werden (wenn sie nicht ohnehin vorhanden ist); die Daten werden direkt von der CD eingelesen. Die Textdateien sind mit einem Index versehen, der über das Zusatzmodul Acrobat-Search (ebenfalls auf der CD) genutzt wird. Der gesamte Datenbestand ist mit gut 240 MB (einschließlich Lesesoftware) so gering, daß es sich zur Erhöhung der Zugriffsgeschwindigkeiten für intensivere Arbeiten empfehlen kann, ihn insgesamt und unter Beibehaltung der Verzeichnisstruktur auf die Festplatte zu kopieren.[2] Der Zugang zum Datenbestand der CD erfolgt über ein ›Titelblatt‹, das zu den Rubriken »Text«, »Zeitungs- und Zeitschriftenquellen«, »Polizeirapporte«, »Zensur- und andere Verwaltungsakten«, zwei »Literarische Quellen«, »Chronik«, »Faksimile« und »Aufsätze« verzweigt. Die Feinnavigation wird über zuschaltbare Fenster der Reader-Software gesteuert (alternativ »Lesezeichen« oder Seiten-Thumbnails), die jeden einzelnen Artikel und jedes einzelne Dokument chronologisch sowie nach Überschriften zugänglich machen. Die Lesesoftware stellt unterschiedliche Möglichkeiten zur Seitendarstellung und eine Zoomfunktion zu Verfügung, auf die Suchfunktion und den integrierten Index (für den gedruckten Bestand) habe ich schon hingewiesen.[3]
Entscheidend für den Komfort und den Zusatznutzen, den die CD bietet, sind die Verknüpfungen, die zwischen den einzelnen Daten- beziehungsweise Dokumentgruppen hergestellt werden: Sie werden über die Informationen in der Randspalte der Texte realisiert und am Bildschirm durch die Veränderung des Mauszeigers angezeigt. Im wesentlichen werden auf diese Weise verknüpft:
• Fortsetzungsartikel innerhalb der Abendblätter (und zwar dankenswerterweise sowohl am Anfang wie am Ende jedes Teilartikels);
• Meldungen der Zeitung aus den Polizeiberichten mit der zitierten Stelle sowie der jeweilige Abschnitt im Bericht mit der zugehörigen Meldung;
• die einzelnen Artikel mit den für sie ermittelten und eingescannten Zeitungs- und Zeitschriftenquellen (hier geht die Verknüpfung nur in diese Richtung, in die Dokumente sind keine rückverweisenden Links eingebaut);
• schließlich Abschnitte der »Chronik« mit den jeweils zitierten Dokumenten (auch hier nur in eine Richtung).
Das alphabetische Titelverzeichnis der gedruckten Bände ist in das zuschaltbare »Lesezeichen«-Fenster der Reader-Software integriert (siehe oben); Verfasser- und Ortsverzeichnissse sind, wenn ich recht sehe, nicht mit den dazugehörigen Beiträgen verknüpft.
Im Prinzip ist die Mischform einer Edition, für die das Buch im Vordergrund steht und der Datenträger CD nur eine unterstützende Funktion erfüllen soll, geglückt; der Acrobat Reader ist ein versatiles Werkzeug, das sich zur Darstellung der vorliegenden Daten durchaus eignet. Man wünscht sich freilich, daß die Möglichkeiten neuerer Hypertext-Konventionen weiter ausgeschöpft worden wären; der Benutzer ist ständig darauf angewiesen, Buch- und Bildschirmdarstellungen nebeneinander zu konsultieren; nicht nur für intensive Einzelanalysen wird man zudem die gescannten Dokumente (trotz des zusätzlichen Qualitätsverlustes) ausdrucken. Kaum ein Bildschirm ist beispielsweise dazu in der Lage, die für die »Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg« (Berliner Abendblätter, 6. Blatt vom 6.10.1810, Band II/7, S. 34 f.) angegebenen und verknüpften vier Quellen so nebeneinander darzustellen, daß sie gleichzeitig lesbar sind. Der Versuch des Anwenders, eigene Wege durch das Material aufzuzeichnen und am PC nutzbar zu machen, scheitert relativ schnell. Daß genau dies gewollt ist, läßt sich mit der Funktion »Dokumentinfo/Sicherheit« der Reader-Software nachprüfen: Die im Reader vorgesehenen Möglichkeiten »Dokument ändern«, »Text/Grafik auswählen« und »Notizen und Formularfelder hinzufügen/ändern« sind allesamt deaktiviert. Anders gesagt: Die Markierung und der Export von Textteilen über die Zwischenablage wird unterbunden und der Nutzer bleibt auf das traditionelle händische Exzerpieren verwiesen. Es ist ebenfalls unmöglich, am PC erstellte eigene Notizen direkt mit den relevanten Textteilen zu verbinden (vergleiche zum Beispiel die Möglichkeiten, die von der »Digitalen Bibliothek« oder vom »Lexikon des internationalen Films« in dieser Hinsicht geboten werden). Gewollt, nicht notwendig, sind diese Einschränkungen: Die Konfiguration der Lese-Software verweist ganz deutlich auf den Wandel, in dem sich die Editionspraxis befindet. Noch verstehen wir unter der Werkedition allein die traditionelle Buchausgabe, die der Rezipient lesen, benutzen, exzerpieren kann, die aber in ihrer Präsentation unveränderlich bleibt (sieht man von den unvermeidlichen Bleistiftanstreichungen und Randnotizen einmal ab). Folgerichtig sieht sich der Herausgeber einer (kritischen) Textausgabe als Urheber eines Werkes – im allgemeinen wie im rechtlichen Sinne. Dem soll nicht widersprochen werden. Doch gerade eine geglückte Mischform wie die vorliegende Ausgabe der Berliner Abendblätter läßt vermuten, in welche Richtung der Wandel wissenschaftlicher Editionen und ihres Gebrauchs zielt. Die ›statische‹ Edition wird, wenigstens teilweise, ›dynamisiert‹ werden: Der Rezipient wird in gewisser Weise zum Miteditor werden, sei es seiner eigenen (privaten) ›Ausgabe‹, die er auf seiner Festplatte ablegt, oder sei es einer Praxis, die das Wissen vieler Rezipienten rückkoppelt.[4] Wenn man den allgemeinen Überlegungen von Roland Reuß zur Verbindung von elektronischen und traditionellen Editionen zustimmt,[5] dann wird man für den Nutzer alle Möglichkeiten der Be- und Verarbeitung der ihm vorliegenden Daten wünschen. Am Status der Edition ändert sich dadurch schließlich nichts, die wissenschaftliche Leistung des Editors wird ebenfalls nicht angetastet, die Konventionen wissenschaftlichen Zitierens bleiben in Kraft. Die Abwehr, die Reuß gegen solche Vorstellungen ausdrückt, läßt vermuten, daß experimentierfreudige Editoren und im Buchbereich innovative Herausgeber sich durch den Wandel in besonderer Weise gefährdet und verletzt fühlen. Das ist verständlich, doch als Leser und Nutzer bin ich solchen Anfechtungen nicht ausgesetzt: Wenn das Gebotene erfreulich ist, wünsche ich mir mehr davon.[6]
Joachim Linder (München)
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |