Walter Morgenthaler

GOTTFRIED KELLER – ELEKTRONISCH EDIERT

VERSUCH EINER STANDORTBESTIMMUNG

Vorbemerkung

Die folgenden Überlegungen gehen von konkreten Editionserfahrungen aus. Sie thematisieren ein Problem, das sich heute bei größeren editorischen Unternehmungen fast notwendigerweise aufdrängt: inwiefern und auf welche Weise die modernen elektronischen Medien in die Erstellung und Publikation von Texteditionen einbezogen werden sollen und können. Diskutiert wird die Frage anhand des 1991/92 in Angriff genommenen Projektes der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe.[1] Die auf 32 Bände angelegte Buch-Edition wird begleitet von einer Computeredition, die den Apparatbänden in Form einer CD-ROM beiliegt und den jeweils aktuellen Stand der Arbeit repräsentiert. Die Computeredition galt von Anfang an als integraler Bestandteil des ganzen Projektes, was zu diesem Zeitpunkt als innovativ gelten konnte.

Ausgangssituation

1992 wurde als Abschluß eines einjährigen Pilotprojektes neben einem Modell für die Text- und Apparatbände auch der Prototyp für die Computeredition vorgestellt. Dabei standen vor allem drei Gesichtspunkte im Vordergrund:

1. Die Computeredition sollte gleichzeitig mit der Buchedition entstehen und war vom gleichen textkritischen Impetus getragen. Sie sollte jederzeit den erreichten Stand der Arbeit – für Herausgeber und Anwender – präsentieren können.

2. Die Computeredition hatte – im Gegensatz zu computerunterstützten Editionen – nicht in erster Linie der Erstellung des Lichtsatzes zu dienen und sollte auch nicht einfach die Buchedition wiederholen, sondern vielmehr die dem elektronischen Medium eigenen Möglichkeiten ausnützen: schnelles Aufsuchen von Textstellen, flexible Variantendarstellung, integrale Wiedergabe der einzelnen Textstufen, großzügige Handhabung zusätzlicher Textmaterialien.

3. Buchedition und elektronische Edition sollten – bei aller Verschiedenheit – genau aufeinander abgestimmt sein und einander in produktiver Weise ergänzen (Hybridedition).

Standard in der Philologie zu dieser Zeit waren das für Großrechner ausgelegte Tübinger Programm TUSTEP zur Satzerstellung und das DOS-Programm Word Cruncher, das ausschließlich für Volltext-Recherchen eingesetzt wurde (Goethe, Shakespeare). Beide Programme waren für Computereditionen im gewünschten Sinne nicht zweckdienlich. Als Alternative blieb nur die Möglichkeit einer Eigenentwicklung, welche ständig mit den tatsächlichen editorischen Erfordernissen abgestimmt werden sollte. Realisiert wurde schließlich eine komplexe DOS-Applikation auf der Basis relationaler Datenbanken, die bis heute sowohl für die Erfassung wie für die Präsentation der Daten verwendet wird. Dies war organisatorisch, finanziell und technisch deshalb möglich, weil ich selbst als Projektleiter Erfahrungen in Analyse und Applikationsprogrammierung besaß, die maßgeblichen Programmentwürfe schon aus früheren Vorarbeiten einbringen und schließlich auch die Programmentwicklung selbst durchführen konnte.

Heutiger Stand

1. Das Betriebssystem DOS wurde inzwischen auf dem Markt durch MS Windows (graphische Oberfläche, Maus, Multimedialität) verdrängt. Die Einzelplatzsysteme (PCs) werden immer häufiger an globale Netzwerke (vor allem Internet) gekoppelt, wo die universale Adressierbarkeit der Daten wichtiger ist als deren lokaler Standort und ein unbegrenztes Geflecht von Verweisen (Links) an die Stelle der Einzelphänomene tritt. Dementsprechend werden die bisherigen individuellen Applikationen durch Standardpakete und Browser abgelöst, welche einheitliche Benutzeroberflächen, Plattformunabhängigkeit und allgemeine Datennivellierung anstreben.

2. Durch die genannte Entwicklung sind die bisherigen Benutzeroberflächen innerhalb kürzester Zeit altmodisch geworden. Die vorwiegend marktgelenkten technischen Neuerungen schaffen neue Anwenderbedürfnisse, die sich immer mehr am graduellen technischen Fortschritt (materialisiert in den stetigen Updates) als an den eigentlichen Sachfragen orientieren. Bei der Anpassung individueller Applikationen an die zeitgemäßen Standards wird nicht selten die Verminderung sachspezifischer Leistung in Kauf genommen.

Die Antwort der Geisteswissenschaften auf diese Entwicklung hat sich zum Teil polarisiert in Ignorierung oder Ablehnung auf der einen, in vorauseilende Überakzeptanz auf der anderen Seite. Die Überakzeptanz zeichnet sich dadurch aus, daß schon das bloße Vorhandensein bestimmter Merkmale, die an Schlagworten wie Hypertext, Multimedia, Cyberspace und so weiter festgemacht werden, als positiv gilt und zur allgemeinen Forderung erhoben wird. Erstaunlicherweise wird dabei nicht nur das oft Klägliche der mit den neuen Techniken erzielten Inhalte ignoriert, sondern auch überspielt, wie wenig die vorgegebenen Standardtechniken in bedauerlich vielen Fällen die ursprünglich ersehnten Lösungen überhaupt zu erbringen vermögen. Die produktive Phantasie wird gleichsam auf halbem Weg gekappt. Wer sich Texte und gar Handschriften nur als Hypertexte imaginieren kann, überspielt die Unergründbarkeit der Texte durch vordefinierte Seitensprünge und unterstützt zudem noch das allgemeine Desinteresse der Softwareproduzenten an wirklichen technischen Innovationen auf dem geisteswissenschaftlichen Gebiet. (Man stelle sich vor, die Medizin würde sich mit Links und Popups abspeisen lassen oder ihre Diagnosen per Wysiwyg verifizieren!)

3. Statt sich von vorneherein an dieser Entwicklung zu orientieren, hat die Editionsphilologie – sofern sie denn noch ihrem primären Gegenstand, dem Text, verpflichtet ist – weiterhin von ihren eigenen Bedürfnissen und den sachlichen Erfordernissen auszugehen und Wahl und Einsatz der technischen Mittel danach auszurichten, ohne natürlich das tatsächlich vorhandene technische Innovationspotential geringzuschätzen. Hyperlinks zum Beispiel können sehr zweckdienlich sein, aber nur dort, wo sie neue Erschließungsmöglichkeiten schaffen; globale Vernetzung ist nur dort erforderlich, wo man auf globalen Informationsaustausch angewiesen ist, und Plattformunabhängigkeit sollte nicht mit dem Verlust wesentlicher Gestaltungsmöglichkeiten bezahlt werden müssen.

Erste Bedingung bleibt allemal die Erarbeitung und Bereitstellung einer philologisch zuverlässigen Basis, die sich an der Zwecksetzung des Editionsvorhabens bemißt. Im folgenden wird behelfsmäßig von drei traditionellen Editionstypen ausgegangen, die in der Editionspraxis mehr oder weniger übereinstimmend unterschieden werden, und versucht, diesen Typen spezifische elektronische Umsetzungsmöglichkeiten zuzuordnen.

Die Editionstypen

1. Die Leseausgabe (Beispiel: Reclams Universalbibliothek)

Sie begnügt sich in der Regel mit dem Nachdruck kritisch oder nicht kritisch edierter Texte, oft versehen mit einem inhaltlich orientierten Nachwort und bestenfalls mit einem Nachweis der Textvorlage (»Zu dieser Ausgabe«).

2. Die Studienausgabe (Beispiel: Deutscher Klassiker Verlag)

Sie stützt sich – sofern möglich – auf historisch-kritische Ausgaben, legt aber das Schwergewicht auf Wort- und Sacherläuterungen, deutende und wertende Aufbereitung dokumentarischer Materialien, Auswahlbibliographien, Darstellung der Forschungslage und so weiter.

3. Die historisch-kritische Ausgabe

Sie begründet die vorgenommene Textkonstituierung, verzeichnet die Varianten zumindest sämtlicher autorisierter Textzeugen in systematischer Weise und stellt die Entwicklungsgeschichte des Textes dar.

Diesen Editionstypen lassen sich Typen der elektronischen Edition zuordnen, wobei jeder Typus die jeweils vorhergehenden großenteils miteinbegreift.

1. Der Leseausgabe entsprechen die elektronischen Texte, wie sie spärlich auf CD-ROM (etwa Reclam, Directmedia) und ansatzweise im Internet (zum Beispiel Projekt Gutenberg) angeboten werden. Haupterfordernis sind hier – neben der Textpräsentation – möglichst effiziente Suchfunktionen; dazu kommen einfache Exzerpier- und Druckfunktionen. Textauswahl und -darbietung sind hier in der Regel unkritisch, weshalb die Texte auch meistens wissenschaftlich nicht zitierbar sind. Was dennoch diesen Typus vor allem auszeichnen könnte, wäre die Bereitstellung von möglichst umfangreichen Textmengen zu Recherchezwecken (was zum Beispiel in der »Digitalen Bibliothek« von Directmedia tatsächlich der Fall ist).[2] Stattdessen wird die CD häufig – zur vermeintlichen Attraktivitätssteigerung – mit multimedialen Elementen wie Ton und Bild oder gar Videosequenzen von oft sehr fragwürdiger Qualität angefüllt.[3]

2. Der Studienausgabe entsprechen die Hypertexte, die ausgewählte Textstellen mit Parallelstellen, Entstehungs- und Rezeptionsdokumenten verknüpfen und Sach- und Worterläuterungen durch Popups einblenden lassen. Als gegenwärtige Standardsoftware scheint hier Folio Views, ein professionelles »information retrieval tool« – trotz eingeschränkter Möglichkeiten insbesondere auch der Textpräsentation – geeignet zu sein. Folio Views wird auch in der neuesten Publikation dieses Typus eingesetzt, in der von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems herausgegebenen Hybridedition Der junge Goethe in seiner Zeit.[4] Diese Edition realisiert das Zusammenspiel von Buch und CD-ROM in prototypischer Weise: Während das Buch alle Autortexte enthält, bietet die CD außerdem eine große Menge an zusätzlichen Materialien wie Quellentexte, zeitgenössische Dokumente aller Art und die sogenannten »Semantischen Vorräte« (unter anderem die gesamte Bibel und Hederichs Mythologisches Lexikon). Allerdings werden gerade hier, bei relativ hohem philologischem Anspruch, auch die Probleme besonders spürbar, die durch die leidige Anbindung an Standardsoftware in die editorische Materie eindringen. Sie beginnen mit den Orientierungsschwierigkeiten des Benutzers innerhalb einer Menge von über 80.000 Textabsätzen (dies die Einheit), die ohne überschaubare Makrostrukturen in einer einzigen Datei untergebracht werden, und enden bei der Unmöglichkeit, die Grafiken auf befriedigende Weise einzubinden.[5]

3. Der historisch-kritischen Ausgabe entsprechen Applikationen, die es – neben den genannten Funktionen – erlauben, Variantenapparate in flexibler Weise darzustellen und zu filtern, unterschiedliche Textstufen integral wiederzugeben und handschriftliche Befunde zu visualisieren. Ein Standardprogramm, welches dies alles gewährleisten würde, ist gegenwärtig nicht bekannt.

Was die Variantendarstellung anbelangt, schwanken die meisten gegenwärtigen Applikationen zwischen zwei kargen Angeboten: auf der einen Seite werden die starren Apparattypen der Buchedition nachgebildet (zum Beispiel durch die Positionierung von fußnotenartigen Lemmas an simulierten Seitenenden), auf der anderen Seite versucht man es auch hier mit Hyperlinks und Popups. Das mag dort praktikabel sein, wo eine kleine Zahl an nicht weiter zu spezifizierenden Varianten vorhanden ist. Was aber, wenn nicht zehn Varianten pro Seite zu verzeichnen sind, sondern vielleicht zehn Varianten pro Textzeile bei zehn verschiedenen Textzeugen und gegenseitigen Überlagerungen und wenn zugleich noch Stellenkommentare, Querverweise und so weiter dazukommen? Ein Haupthindernis bei der Verwendung von Popups für die Variantendarstellung liegt darin, daß sie ihren Inhalt – wie die Adventskalender zur Vorweihnachtszeit – verbergen und man jedes Verweissymbol eigens anklicken muß, um nur allererst zu erfahren, ob man seinen Inhalt überhaupt zur Kenntnis nehmen will.

Nicht viel ermutigender ist die Situation bei der Reproduktion von Handschriften. Da Handschriften als Bilder wiedergegeben werden müssen, sind sie nicht in gleicher Art handhabbar wie Texte und vor allem nur schwer mit solchen zu kombinieren. Versuche, Handschrift und Transkription zu parallelisieren, lassen es in der Regel bei Makrostrukturen wie Seitenzuordnung und ähnliches bewenden (so etwa – mit Absicht – die Frankfurter Kafka-Ausgabe, welche die Paralleldarstellung ihrer
Buchedition auf den Bildschirm projiziert).[6] Dazu kommt, daß die Qualität der Handschriftenreproduktion selbst meist zu wünschen übrig läßt.

Auch hier gibt es den Versuch, Hyperlinks einzusetzen und etwa jeder Handschriftenzeile ein rechteckiges Sensorfeld (Link) zu unterlegen, das dann auf Mausklick eine entsprechende Transkription anzeigt. Schwierig wird es dann, wenn die Zeilen, wie doch sehr oft, schräg oder gar völlig unregelmäßig verlaufen. Und was, wenn man etwa, vom Text her kommend, eine bestimmte Stelle, ein einzelnes Wort finden möchte?

Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)[7]

Die Computeredition der HKKA – aus philologischer Not entstanden – setzt bei den genannten allgemeinen Defiziten ein. Mehr einem pragmatischen als einem theoretischen Interesse verbunden, versucht sie allerdings, Lösungsmöglichkeiten so zu realisieren, daß sie in erster Linie die Projektierung, Herstellung und Benutzung einer individuellen historisch-kritischen Edition (das heißt der HKKA) unterstützen. Obwohl sie einen gewissen Modellcharakter beansprucht, ist ihr Konzept nicht einfach auf andere Projekte übertragbar. So sind sowohl die Datenmodellierung als auch die Präsentation der Informationen (von den Suchfunktionen bis zum Bildschirm-Layout) abhängig von gegenstandsbezogenen Faktoren, die ebenfalls die Gestaltung der Buchedition – wenn auch auf andere Weise – wesentlich mitprägen: etwa von der Produktionsweise des Autors, den Publikationsbedingungen und vor allem der Überlieferungssituation.

Gottfried Keller gehört zu jenen Autoren, welche Werkkonzepte jahrzehntelang im Kopf mit sich herumtragen können, nur wenig Entwürfe herstellen und schließlich – vom Abgabetermin gedrängt – während der ersten vollständigen Niederschrift des Manuskriptes, das oft zugleich als Druckvorlage dienen muß, nur noch vorwiegend kleinere stilistische Korrekturen anbringen, um dann nochmals beim Durchgehen der Korrekturfahnen Übersehenes nachzuholen und Flüchtigkeiten auszubessern. Vergleichsweise wenig Handschriftliches also: anstelle komplexer Manuskriptbefunde umfangreiche Romantexte und Textzyklen mit drei bis meist fünf Druckauflagen, Vorabdrucken in Zeitschriften und schließlich dem zehnbändigen ›literarischen Vermächtnis‹, den Gesammelten Werken von 1889. Im Nachlaß einzelne Studien- und Notizbücher, Schreibhefte mit (später überarbeiteten) Gedichtreinschriften, gescheiterte Dramenentwürfe; dazu Tausende von (erst teilweise veröffentlichten) Briefen von und an Keller, die zur Erforschung der Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Werke unverzichtbar sind.

Die editorische Ausgangslage war klar. Kernstück jeder Keller-Gesamtausgabe sind die vom Autor selbst veröffentlichten Texte. Maßgebend für die Buchedition war die philologische Entscheidung, die zehnbändige Ausgabe der Gesammelten Werke zur Grundlage der Hauptabteilung (Abteilung A) zu machen und auch als Textvorlage zu verwenden: inklusive Bandanordnung und Zeilen- und Seitenumbruch. Das hatte überdies den Vorteil, daß von vorneherein jede Position der rund 850.000 Wörter dieser Abteilung feststand und man darauf eindeutig Bezug nehmen konnte. Gleichsam als Relativierung dieses Monumentcharakters enthält Abteilung B insbesondere die früheren, von Keller verworfenen Druckfassungen (Der grüne Heinrich 1854/55, Gedichte 1846, Neuere Gedichte 1851/54), während Abteilung C erstmals die Nachlaßtexte zu ihrem vollen Recht kommen läßt. Abteilung D vereint die Apparate zu sämtlichen Textbänden, mit der Entstehungsgeschichte der Werke, Textzeugenbeschreibungen, umfangreichen Variantenverzeichnissen und Auszügen aus den wesentlichen Dokumenten zu Entstehung, Überlieferung und Rezeption.

Das Konzept zur elektronischen Umsetzung ergab sich fast von selbst: Kellers Gesammelte Werke bilden auch hier den Grundstock für einen Referenztext, angelegt in einer relationalen Datenbank, mit je einem Datensatz pro Textzeile und dem Wort als kleinster adressierbarer Einheit. Auf diesen Referenztext werden sämtliche übrigen stellenorientierten Daten (Varianten, Stellenkommentare, Sachwörter, Verweise, Parallelstellen, Wortindices, Inhaltsverzeichnisse, Paginierungen) über Schlüsselfelder bezogen; ebenso die frühen Druckfassungen der Abteilung B, soweit das Verhältnis von Textidentität und Varianz dies auf sinnvolle Weise zuläßt.[8] Dazu kommt ein Arsenal von Zusatzdokumenten, vor allem die Briefe und Vertragsdokumente zur Entstehungsgeschichte, Quellentexte und zeitgenössische Rezensionen, die hier, wo weniger an Platz gespart werden muß, in sehr viel größerer Auswahl als im Buch und meist ohne Kürzungen aufgenommen werden können.

Die Schnittstelle zwischen Daten und Herausgebern/Anwendern bildet ein Datenbankprogramm, das sowohl die vereinfachte Erfassung der stellenbezogenen Daten wie die jederzeitige Auswertung und Präsentation des ganzen aktuellen Bestandes erlaubt. Dieses Programm ist vor acht Jahren entworfen, damals auch weitgehend realisiert und seither nicht mehr grundsätzlich abgeändert worden. Eine vorwiegend auf die Präsentationsfunktionen reduzierte Version ergab die Grundlage für die spätere, den Apparatbänden beiliegende CD-ROM. Deren Hauptaufgabe ist es, die Buchedition dort zu ergänzen, wo das elektronische Medium mehr zu leisten vermag als das Printmedium. Die wesentlichsten Merkmale werden im folgenden kurz zusammengestellt.

– Der Bildschirm ist in zwei (regulierbare) Hälften aufgeteilt. Die obere Bildschirmhälfte enthält den Referenztext, während die untere wahlweise Varianten, Stellenkommentare, Parallelstellen und so weiter zur markierten Referenztextzeile anzeigt.

– Die Textvarianten (untere Bildschirmhälfte) lassen sich wahlweise in lemmatischer Zuordnung oder integriert in genetisch angeordnete Textstufenzeilen (Synopse) anzeigen. Außerdem können sie nach vorgegebenen Kriterien gefiltert werden (zum Beispiel orthographische oder lautliche Varianten, Sofortkorrekturen, kritische Lesarten zum edierten Text, Beschränkung auf bestimmte Textstufen und so weiter). Dies ermöglicht einen weitaus flexibleren Umgang mit den Varianten als in der Buchedition.[9]

– Sämtliche Textstufen (ausgenommen Druckvorlagen und Korrekturfahnen) können, soweit sie nicht schon vorgegeben sind, automatisch erstellt und integral (untere Bildschirmhälfte) angezeigt werden. Sie lassen sich auch direkt mit dem Referenztext synchronisieren (›Paralleldruck‹).

– Zusätzlich zur Originalpaginierung lassen sich die Seitenzahlen beliebiger Textzeugen und wichtiger Keller-Editionen anzeigen und zum ›Nachschlagen‹ verwenden.

– Über die Querverweise können (analog zu Hypertext-Funktionen) Stellen aus Paralleltexten, Briefen, Quellendokumenten, Rezensionen und so weiter eingeblendet werden.

– Recherchen in den Datenbeständen werden vor allem unterstützt durch Inhaltsverzeichnisse, Wortindices und Sachwörter.

Das Datenbankprogramm der HKKA wurde für das Betriebssystem DOS entwickelt. Damit teilt es das Schicksal aller Software, die vor dem Windows-Knick entstanden ist und einige Jahre überlebt hat: Die Benutzeroberfläche entspricht nicht mehr den heutigen Standards. Dies bedeutet, daß, soll die allgemeine Benutzerakzeptanz sichergestellt werden, in absehbarer Zeit – zumindest für die Datenpräsentation – eine neue Lösung gefunden werden muß. Damit steht die HKKA vor dem gleichen Problem wie viele andere Editionen: Es gilt, ein adaptierbares Standardprogramm zu finden oder eine weitere individuelle Eigenentwicklung anzubahnen.

Im ersten Fall müßte das fast Unfaßbare geschehen, daß ein Software-Hersteller an den spezifischen Bedürfnissen der Minorität von historisch-kritisch Edierenden und Rezipierenden Interesse fände und – allen Marktgesetzen zum Trotz – ein preiswertes Produkt anbieten könnte, das die genannten Bedingungen erfüllen und dessen Funktionsumfang nicht hinter die bestehende Applikation zurückfallen würde. Der zweite Fall sieht etwas wahrscheinlicher aus, auch wenn gegenwärtig die personellen und finanziellen Ressourcen nicht allzusehr dafür sprechen.

Es bleibt demnach vorläufig eine der Aufgaben der bestehenden elektronischen HKKA, durch ihre Präsenz daran zu erinnern, was technisch jederzeit realisierbar wäre und worauf, als Minimalanspruch, auch bei künftigen und zeitgemäßeren Applikationen nicht verzichtet werden kann, wenn die editionsphilologischen Erfordernisse nicht bis zur Unkenntlichkeit vernachlässigt werden sollen.

Einen Schritt in die geforderte Richtung macht das auch auf der CD-ROM der HKKA enthaltene Programm zur Darstellung von Handschriften. Ursprünglich nur zur äußerlichen Einbettung des bestehenden Datenbankprogramms in die Windows-Umgebung gedacht, ist daraus eine Applikation entstanden, die zur erleichterten Rezeption ganzer handschriftlicher Manuskripte beitragen kann.

Das Programm ermöglicht nicht nur die grobflächige Parallelisierung von Handschrift und Transkription durch ein einblendbares Textfenster, sondern stellt auch ein Verfahren zur Verfügung, das es erlaubt, sich mit dem Mauszeiger auf der reproduzierten Handschriftenseite zu bewegen und dabei Wort für Wort so transkribiert zu erhalten, daß sich die Transkription nicht verselbständigt – die Gefahr bei allen Paralleldarstellungen –, sondern den Blick immer zum eigentlichen Gegenstand, zur Handschrift zurückführt. Mit der Suchfunktion lassen sich Zeichenfolgen innerhalb der gesamten Handschrift finden; einzelne Stellen können kopiert und miteinander verglichen oder als temporäre ›Buchzeichen‹ verwendet werden.

Wie die Textdatenbank ist auch das Handschriftenprogramm ein Versuch, beim Einsatz der Technik von existierenden praktischen Bedürfnissen auszugehen und anhand eines begrenzten Gegenstandes modellhaft einige Möglichkeiten aufzuweisen, welche die Edierenden zur berechtigten Forderung nach Mehr anregen möchten.


[1] Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung »Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe«. Basel/Frankfurt a. M./Zürich: Stroemfeld-Verlag/Verlag Neue Zürcher Zeitung 1996 ff. – Bis jetzt sind der Einführungsband und ein Textband (Band 7, Das Sinngedicht. Sieben Legenden) mit den dazugehörigen zwei Apparatbänden (Band 23.1/2) erschienen. – Dem Herausgeberteam gehören gegenwärtig an: Walter Morgenthaler (Projektleitung, Basel), Peter Villwock (Zürich), Thomas Binder (Zürich) und Peter Stocker (Bern); in beratender Funktion wirkt Dominik Müller (Genf) mit.
[2] Dies betrifft vor allem Band 1 der »Digitalen Bibliothek«, Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, Berlin, Directmedia 1997, auch wenn man die vollmundige Eigenwerbung auf der Webseite, daß hier »auf über 70.000 Seiten nahezu alle bedeutenden Werke der klassischen deutschen Literatur« versammelt seien, besser überliest.
[3] Inbegriff der Ausdünnung des philologisch Brauchbaren sind die Einzeltext-CDs des Reclam-Verlags, die sich auf die Textmenge eines traditionellen Textbändchens beschränken und dafür den unrevidierten edierten Text in voller Länge durch einen Schauspieler vortragen lassen. Die Suchmöglichkeiten der neueren Exemplare sind zwar ausgebauter, aber nach wie vor ist eine Rückwärtssuche nicht möglich. Obwohl die Textpräsentation (Buch-)Seiten simuliert, ist es nicht möglich, eine bestimmte Seite aufzuschlagen, ohne den ganzen Text von vorne her durchzublättern.
[4] Karl Eibl/Fotis Jannidis/Marianne Willems (Hg.): Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte. In zwei Bänden und einer CD-ROM. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1998.
[5] Unbefriedigend ist ausgerechnet die Handhabung der eigentlich geschickt eingerichteten Reproduktion des Mythologischen Lexikons, welche doch sehr nützlich sein könnte. Das Aufsuchen des gewünschten Spaltentitels über eine Titelliste ähnelt dem umständlichen Durchblättern eines ganzen Buches; das mitgelieferte Shareware-Programm mag sich für Bildbearbeitungen aller Art eignen, aber kaum für die einfache und effiziente Einbindung von 2502 reproduzierten Lexikonseiten in eine Retrieval-Applikation.
[6] Das hierzu verwendete Dateiformat (PDF) macht den Postscript-Druck transportabel für verschiedene Medien, was erlaubt, Texte in einem dem Druck entsprechenden Layout auf dem Bildschirm anzuzeigen und für beschränkte Suchfunktionen zu indexieren.
[7] Homepage der HKKA: <http://www.germa.unibas.ch/DeuSem/forsch/Keller/Keller. htm>.
[8] So wird etwa die »Jugendgeschichte« des Grünen Heinrich von 1854/55, die nur in Einzelstellen von der späteren Fassung abweicht, neben der integralen Textdarbietung auch in lemmatische Varianten zum Referenztext aufgelöst, was bei den vollständig neugeschriebenen übrigen Romanteilen nicht möglich ist.
[9] Erwähnt sei hier nur das Problem der orthographischen Varianten (alle Werke Kellers machten den 1880 von der preußischen Orthographiereform verordneten Wechsel zur vereinheitlichten Rechtschreibung mit). Um das Variantenverzeichnis im Apparatband nicht durch eine Unmenge von orthographischen Varianten zu überlasten, wurden die häufigsten durch eine Regelbeschreibung generalisiert und nicht mehr im Detail aufgelistet, was für den Benutzer in Einzelfällen zu Unsicherheiten führen kann und eine ständige zusätzliche Denkanstrengung bedeutet. In der Datenbank sind sämtliche Varianten sämtlicher Textzeugen einzeln verzeichnet, können aber im Anwendungsprogramm selektiv ausgefiltert werden.

Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) [Zurück zum Inhaltverzeichnis]