Seit einigen Jahren sind Begriffe wie ›Neue Medien‹, ›Hypertext‹, ›Cyberspace‹ und ›Datenhighway‹ in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungen. Viele sprechen davon, einige sehen darin die Einlösung des postmodernen Versprechens ›anything goes‹ und nur wenige wissen, was genau unter diesen Begriffen zu verstehen ist und wie die Vorteile der Neuen Medien für den wissenschaftlichen Bereich genutzt werden können. Die Diskussionen um das Thema ›Internet‹ oder ›Cyberspace‹ wurden und werden noch immer sehr emotional und polarisierend geführt. Entweder man ist modern, offen für jede Innovation und überzeugt vom unbeschreiblichen Potential der neuen Medien oder man versteht sich als Kassandra-Rufer, der den Untergang der Gutenberg-Galaxis, des humanistischen Bildungsguts oder gleich unserer westlichen Zivilisation unaufhaltsam nahen sieht.
Norbert Gabriel entzieht sich dieser Grundsatzdiskussion weitgehend und beschreibt in seinem Buch sehr sachlich, welche neuen Möglichkeiten der Wissensvermittlung es gibt und wie diese für die Wissenschaft fruchtbar gemacht werden können. Gerade dieser sachliche Ton ist es, der dieses Buch zu einem sehr informativen und nützlichen Überblickswerk für die Kulturwissenschaften macht. Gut strukturiert führt er den Leser durch die einzelnen Anwendungsbereiche und gibt jeweils einen kurzen Einblick in die Geschichte und die Idee, die hinter dem jeweiligen Nutzungsbereich steht. Das erste Kapitel beschäftigt sich, der inneren Logik jeder Betrachtung zum Thema »Neue Medien« folgend, dem Text, der produziert und formatiert werden muß. Das Kapitel über Textformatierung wirkt hierbei leider etwas antiquiert, hat doch die Welt von Bill Gates die plattformunabhängigen Satzsysteme TeX beziehungsweise LaTeX weitgehend in den Bereich der Naturwissenschaften verdrängt. Einzig der kometenhafte Aufstieg von Linux, dessen Vormarsch momentan unaufhaltsam scheint, könnte diesem Satzsystem zu neuen Ehren verhelfen. Aktuell und für das Verständnis von Datenbankmanagement und Text-Retrieval sehr hilfreich ist hingegen das Kapitel über Textmanagement. Wer kennt nicht das Problem, eine große Datenmenge vor sich zu haben, die besagte Stecknadel im Datenheuhaufen jedoch nicht finden zu können. Einfache Boolsche Operatoren erleichtern die Suche und werden von den meisten Search Engines (Suchmaschinen) unterstützt.
Erklärt dieses erste Kapitel das unerläßliche Handwerkszeug zur Arbeit mit digitalen Texten, dürfte sich das eigentliche Interesse des Lesers auf das zweite Kapitel konzentrieren. Hier steht er nun, der Begriff, der die Gemüter der Wissenschaftler so sehr erregt. Hingegen der weitläufigen Meinung, daß der Gedanke einer vernetzten Textstruktur eine Erfindung der 80er Jahre sei, wird im historischen Teil dieses Kapitels deutlich, daß die Vision von universell vernetztem Wissen bereits 1945 von Vannevar Bush thematisiert wurde. Bush hatte erkannt, »daß der Mensch nicht so sehr in hierarchisch strukturierten Ordnungen, sondern eher assoziativ denkt.« (S. 50). Später griff diese Vorstellung Ted Nelson, ein Schüler Bushs auf und prägte den Begriff ›Hypertext‹. Die Vorstellung eines Haupttextes, der durch Knoten (Links) mit anderen Texten verknüpft ist, ist noch heute die Basis jedes Hypertextes. Sichtbar werden diese Strukturen durch deren graphische Darstellung im World Wide Web. Im Grundlagenteil definiert Gabriel den Begriff ›Hypertext‹ über das Medium, den Aufbau, die Benutzung oder die Veränderbarkeit des Textes. Nach dieser sehr einfachen Systematisierung, führt Gabriel in die unterschiedlichen Netztheorien, wie zum Beispiel das Spaghetti-Syndrom, ein und erklärt sehr anschaulich, wie man sich in diesen Netzsystemen bewegen kann. Ziel des Browsing, oder des Surfens, wie es heute genannt wird, ist die Informationsgewinnung mit möglichst wenig Redundanz. Gabriel zeigt hier leider nicht, wie man mit Suchmaschinen umgehen muß, um die gesuchten Dokumente auch wirklich zu finden, sondern lediglich, welche Formen des Surfens es gibt. Eine kleine Einführung in den Umgang mit Boolschen Operatoren oder ein Hinweis auf die unterschiedlichen Formen von Suchmaschinen (Volltext-Indizierung, Meta-Suche, systematische Suche) wäre an dieser Stelle sehr hilfreich gewesen und hätte den Praxisnutzen des Buches erhöht. Ähnliches ist im Theorieteil zu Leser und Text zu beobachten. Gabriel schneidet diese Themengebiete kurz an, bleibt jedoch so sehr an der Oberfläche, daß dadurch der Informationswert für den Leser marginal bleibt. Dem Alter des Textes und der Schnellebigkeit des Mediums ist es anzulasten, daß die Beschreibung der Hypertext-Editionen nur sehr kurz ausfällt. Die Möglichkeiten und die hohe Funktionalität, die neuere Editionen besitzen, konnten hier noch keine Erwähnung finden. Das grundlegende Prinzip von Hypertext-Editionen wird jedoch auch schon durch dieses kurze Kapitel deutlich. Beim Arbeiten mit der Hypertext-Edition des Jungen Goethe[1] und der Keller-Ausgabe von Morgenthaler[2] wird offensichtlich, daß »die Spannweite dessen, was man bislang unter einer Edition eines Textes versteht, durch den Einsatz von Hypertext enorm ausgeweitet werden kann.« (S. 188)
Sind die Innovationen der letzten Jahre im Bereich von Hypertext-Editionen beeindruckend, so sind sie im Bereich des Internet kaum mehr faßbar. Statistisches Material, wie es Gabriel verwendet, ist daher veraltet, ehe der Text die Druckerei verlassen hatte. Die rasante technologische Entwicklung der letzten Jahre und die explodierenden Benutzerzahlen machen deutlich, daß sich diese Form der Informationsbeschaffung und Kommunikation in weiten Kreisen der Bevölkerung durchgesetzt hat. Die zunehmende Bedienerfreundlichkeit der Browser- und Mail-Software macht einige technische Erläuterungen von Gabriel obsolet. Ein Großteil der Bibliotheken ist mittlerweile über eine graphische Benutzeroberfläche zugänglich. Für die Details von Übertragungsprotokollen, IP-Adressen, Telnet oder FTP-Verbindungen interessiert sich nur noch ein kleiner Benutzerkreis. Ist der Internetzugang erst einmal konfiguriert, braucht sich der Nutzer mit den Eigenheiten von Netz-ID und Host-ID nicht mehr zu quälen. Interessant ist heute einzig die Web-Adresse, die richtige URL, durch die die entsprechende Web Site direkt angesprungen werden kann. Mit der Möglichkeit, Texte unkompliziert als HTML-Dokumente zu speichern, wird auch die Entscheidung zwischen Publikationen im Internet und Intranet nur noch eine firmenpolitische, jedoch keine technikbedingte mehr sein.
Gabriel hat in jedem Fall damit recht, wenn er schreibt, »daß das Medium Formen der Wissensdarstellung erlaubt, die über das hinausgehen, was im Printmedium möglich ist.« (S. 88) Er sieht aber auch, und daran hat sich meines Erachtens in der Literaturwissenschaft noch nicht viel geändert, daß die Reputation der traditionellen wissenschaftlichen Publikationsformen die elektronischen Veröffentlichen erst noch erreichen müssen. (Vergleiche S. 134 ff) Im wirtschaftlich kommerziellen Bereich wurde diese Hürde wesentlich schneller genommen. Hier ist es mittlerweile selbstverständlich, die neuen Kommunikations- und Publikationsmittel in die tägliche Arbeit zu integrieren.
Den virtuellen Bibliotheken als neue Organisationsformen des Wissens widmet Gabriel ein sehr ausführliches Kapitel. Für die wissenschaftliche Arbeit liegen gerade hier die größten Chancen aber auch die größten Probleme. Durch den Platzmangel der Bibliotheken ist es schon heute kaum mehr möglich, sämtliche Neuerscheinungen zu lagern und für den Leser zugänglich zu machen. Wesentlich einfacher und platzsparender wäre es hier, Datenmengen bis zu 20.000 Seiten auf eine einzige CD-ROM zu brennen und auf diese Art zu archivieren. Ungelöst ist jedoch das Problem der Kompatibilität. Elektronische Texte, die vor fünf Jahren mit dem damals gängigen Textverarbeitungsprogramm geschrieben wurden, lassen sich heute kaum mehr auslesen. Wie soll man beim Tempo des technischen Fortschritts garantieren können, daß elektronische Texte auch in 100 Jahren noch lesbar und dadurch nutzbar sind. Die Aspekte der Zugänglichkeit, des Informationszugriffs und -präsentation, der Benutzbarkeit, der langfristigen Verfügbarkeit und der Zitierbarkeit, sowie der Qualität und Akzeptanz beschäftigen momentan Bibliotheksverbände, die die Verfügbarkeit von elektronischen Texten gewährleisten müssen. Diese Aufgabe erstreckt sich von Büchern bis hin zu elektronischen Journalen, die besonders im naturwissenschaftlichen Bereich eine immer wichtigere Rolle spielen.
Interessant für Lehrende ist der Ausblick hinsichtlich der neu organisierten Lernformen, die sich durch den Medienwandel ergeben. In Zukunft werden Seminare nicht ausschließlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Räumen einer Hochschule stattfinden müssen, sondern können in sogenannten virtuellen Universitäten von jedem beliebigen Ort des Globus aus besucht werden. Für Schüler und Studenten der Zukunft wird es selbstverständlich sein, das Internet als Informationsquelle zu nutzen. Diskussionsforen zu bestimmten Wissensgebieten ermöglichen einen weltweiten Austausch ohne zeitliche und räumliche Bindung. Gabriel weist auf die Vorteile aber auch auf die Nachteile dieser veränderten Lernmöglichkeiten hin. Der Lehrende der Zukunft wird sich den ›Neuen Medien‹ stellen müssen, will er seinen Schülern einen zeitgemäßen Unterricht bieten.
Nicht unerwähnt sollte das ausführliche Glossar im Anhang des Buches bleiben. Für Leser, die einen ersten Einblick in die Thematik erhalten wollen, ist dieses Glossar ein unerläßliches Hilfsmittel, um durch die im Text vorkommenden Fachbegriffe nicht entmutigt zu werden. Die Begriffe sind verständlich erklärt und auch für den Medienneuling begreifbar. Die nach Themengebiete geordnete Adressensammlung ist sehr umfassend, jedoch leider durch die Schnelligkeit des Mediums zum Teil schon wieder veraltet beziehungsweise unvollständig. Deutlich wird bei dieser Adressenliste dennoch, daß es umfangreiche Möglichkeiten gibt, fachspezifische Informationen im Internet zu finden.
Trotz der aufgezeigten Unzulänglichkeiten ist es Gabriel gelungen, einen ersten Einblick in die Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter zu geben. Der Leser erhält sachliche Informationen, durch die er sich selbst ein Bild von den Problemen aber auch vom ungeheuren Potential des neuen Mediums machen kann. Gabriel hat sich dem Risiko gestellt, ein Buch mit einer sehr kurzen ›Halbwertszeit‹ zu schreiben. Wie ich meine, ist im trotz dieser Problematik eine sehr überzeugende Einführung gelungen.
Margit Roth (München)
Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) | [Zurück zum Inhaltverzeichnis] |