VORWORT

Auch auf dem Schreibtisch vieler Geisteswissenschaftler steht heute ein PC – und wenn man ihn schon einmal hat, stellt man oft fest, daß man ihn für mehr als nur Schreibarbeiten benutzen kann. Die Verwendung von elektronischen Texten und Nachschlagewerken oder der Zugriff auf campuseigene Informationssysteme und die Recherche in Bibliotheken und Fachbibliographien mittels Internetzugang sind alltägliche Tätigkeiten geworden.

Für die Erstellung und Verwendung digitaler Informationsquellen in den Geisteswissenschaften hat sich das englischsprachige Etikett ›Computers in the Humanities‹ eingebürgert. Linguisten, Historiker, Philologen haben – um nur einige zu nennen – unter diesem Namen an der Formierung eines eigenen Forschungsfeldes gearbeitet. Die größere Nähe einiger Disziplinen zu quantitativen Methoden hat dort die Applikation des neuen Werkzeugs auf fachspezifische Fragestellungen beschleunigt vorangetrieben. Für die Verarbeitung von Sprache hat sich sehr bald die Linguistik in Gestalt der Linguistischen Datenverarbeitung oder der Computerlinguistik für zuständig erklärt und mit der Erstellung großer elektronischer Korpora und mit Forschungen zur automatisierten Textverarbeitung auch eine Pionierrolle in diesem Feld gespielt. Doch mit der zunehmenden Etablierung des PCs in den Philologien hat sich gezeigt, daß diese andere Fragestellungen und andere Interessen haben als die Sprachwissenschaften. Die Existenz eines einzigen großen Arbeitsfeldes namens ›Computers in the Humanities‹ ist der wachsenden Spezialisierung nicht mehr ganz angemessen; vielmehr scheint es an der Zeit, die besonderen Forschungsinteressen in eigenen, auch institutionell getragenen Foren zu verfolgen, um die Ergebnisse dieser Arbeit im umfassenderen Rahmen des Humanities Computing auszutauschen. Das Jahrbuch für Computerphilologie und die zugehörige Internetpräsentation[1] soll dem Mangel eines solchen Forums, ja überhaupt eines Forums in deutscher Sprache für die Diskussion der neuen Medien in den Geisteswissenschaften abhelfen.

Neue Technologien rufen immer die Visionäre auf den Plan, die ihren Verlautbarungen dadurch Nachdruck verleihen, daß sie mit dem Anbruch der neuen Ära alles Vergangene für ›tot‹ erklären und damit - gewollt oder ungewollt - die Akzeptanz eher verringern. Vorerst aber ist das tatsächliche Arbeitsfeld der Computerphilologie eher das einer Hilfstechnik, wenn auch der genaue Inhalt und die Definition der Grenzen zu benachbarten Gebieten aufgrund der relativ kurzen Geschichte des Fachteils in der Diskussion stehen. Einen wesentlichen Schwerpunkt bildet unbestritten die Erstellung elektronischer Texte, die die Grundlage der meisten anderen Arbeiten in diesem Feld ist. Neben der rein mechanischen Tätigkeit des Digitalisierens schriftlicher Quellen umfaßt dies vor allem die genuin philologische Tätigkeit, Zusatzinformationen in den Text einzutragen. Die Entwicklung von brauchbaren und akzeptierten Modellen digitaler Fachinformation, sei es nun die bibliographische Datenbank oder die digitale Literaturgeschichte, gehört ebenfalls dazu. Einen zweiten Schwerpunkt bilden die vielfältigen Verwendungsweisen elektronischer Texte. Sie reichen von der schlichten Wortsuche bis zu komplexen stylometrischen und inhaltsanalytischen Untersuchungen und finden aufgrund von Programmen, die mittels schnell zugänglicher Oberflächen von den technischen Komplexitäten abschirmen, inzwischen auch weitere Verbreitung. Als eigenständiges Fragefeld hat sich inzwischen Hypertexttheorie und -praxis etabliert, nicht zuletzt, weil die neue Kunstform fiktionaler Hypertexte sozusagen naturgemäß ins philologische Forschungsgebiet fällt. Da manche Fragestellung nicht mit den verfügbaren Programmen gelöst werden kann, hat sich der sehr kleine und spezialisierte Bereich des philologischen Programmierens entwickelt. Nicht zuletzt gehört der Austausch über die Möglichkeiten von elektronischer Kommunikation sowie die Reflexion ihrer Bedingungen zur Computerphilologie.

Die Computerphilologie hat mit den herkömmlichen Wissenschaften gemein, daß es unterschiedliche Ebenen des Wissens gibt, die auch unterschiedlich verbreitet werden müssen. Diese Differenz der Ebenen ist im Falle der Computerphilologie vor allem durch die unterschiedliche Resistenz des Wissens gegen Verfall bedingt. Die schnelle Entwicklung von Hard- und Software macht die gedruckte Kommunikation über sie oft schon in der kurzen Zeitspanne bis zur Veröffentlichung obsolet. Diese Beschleunigung gilt jedoch keineswegs für alle Aspekte der Computerphilologie; so liegen zum Beispiel den neuesten Textauszeichnungssystemen immer noch theoretische Überlegungen aus den sechziger Jahren zugrunde. Die Computerphilologie kann – ähnlich wie die Informatik – diesem Problem durch Abstraktion von den konkreten Details eines Programms, einer Programmiersprache oder eines elektronischen Textes begegnen. Die Diskussion und Analyse von Strukturen, Arbeitstechniken und Algorithmen für die oben skizzierten Forschungsfelder steht in ihrem Zentrum und damit auch im Zentrum dieses Jahrbuchs.

Die Computerphilologie darf allerdings auf den Informationsaustausch auch über die sich sehr schnell wandelnden Aspekte des Fachs nicht verzichten. Diesem Dilemma wollen wir dadurch begegnen, daß wir je nach Bedarf unterschiedliche Medien einsetzen: Die Beiträge, die sehr spezifisches technisches Wissen ansprechen, werden im Internet zugänglich gemacht, während die Texte mit allgemeinerem Inhalt Eingang in das Jahrbuch finden. Andererseits soll der Vorteil der Wissenschaftskommunikation über das Internet ebenfalls genutzt werden, deshalb findet man die meisten Jahrbuchbeiträge in Vorversionen ebenfalls schon auf unserer Website, solange sie nicht in das zur Zeit noch dauerhaftere Medium des Drucks überführt worden sind.

Wie die knappe Skizze des computerphilologischen Arbeitsfeldes bereits deutlich macht, umfaßt es nicht nur Wissensformen mit unterschiedlichem Verfallsdatum, sondern auch mit sehr unterschiedlicher Spezialisierung. Die fremdartigen Tiefen statistischer Analyse oder der Diskussion von Programmieralgorithmen werden für Philologen im allgemeinen nicht von Interesse sein; ganz anders verhält es sich aber mit der Diskussion neuer Forschungsmittel, zum Beispiel der schnell zunehmenden Zahl von elektronischen Texten, die wissenschaftlichen Standards genügen sollen. Das Jahrbuch für Computerphilologie und das zugehörige Internetprojekt bieten eine Brücke an zwischen den Experten in diesem Feld und den Literaturwissenschaftlern mit anderen Spezialgebieten, sie wollen den Spezialisten ein Medium zur Kommunikation und den interessierten Philologen ein Medium zur Information bieten.

Ein so umfassendes Projekt wie die Erstellung und Pflege einer Website und die Drucklegung eines Buches sind ohne die Unterstützung vieler kaum möglich. Insbesondere danken wir Julia Boellhoff, Stefan Janz, Julian Kücklich und Margit Roth. Ein besonderer Dank gebührt unserem Verleger Dr. Michael Kienecker, der unsere Versuche, alte und neue Medien zu verbinden, stets mit Aufmerksamkeit und Aufmunterung verfolgt hat und ohne den das Jahrbuch nicht möglich geworden wäre.

Karl Eibl, Fotis Jannidis


[1] Siehe <http://computerphilologie.uni-muenchen.de>.

Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999) [Zurück zum Inhaltverzeichnis]