MAX FRISCH: HOMO FABER. ORIGINALTEXT, INTERPRETATION, BIOPGRAPHIE, MATERIALIEN. MüNCHEN U.A.: TERZIO U.A. 1998.
[PREIS: 34,90 DM].

Max Frischs Roman Homo Faber, die Geschichte eines weltläufigen Technikers, der sich in seine eigene Tochter verliebt und auf diese Weise eine Tragödie griechischen Ausmaßes heraufbeschwört, ist auch über vier Jahrzehnte nach seinem Erscheinen noch eine der beliebtesten Schullektüren. Da nimmt es nicht wunder, daß Frischs Hausverlag Suhrkamp, der schon seit langem handliche Materialienbände zum Werk des Autors herausbringt, sich mit dem Terzio-Verlag zusammentut und zu seiner TB-Basisbibliotheks-Ausgabe des Homo Faber nicht nur ein Hörbuch, sondern auch eine CD-ROM erscheinen läßt.

Die in der Reihe LiteraMedia erscheinende elektronische Edition des Terzio-Verlags ist seitenidentisch mit der Basisbibliotheks-
Ausgabe. Sie kostet DM 34,95 und benötigt die normalen Systemvoraussetzungen: ab Windows 95, Multimedia-PC, 16 MB RAM, 8x CD-ROM Laufwerk und eine Grafikkarte mit mindestens 800 x 600 Auflösung, dazu eine Soundkarte. Über den Textteil hinaus bietet sie circa fünf Stunden ›Audio‹: Lesungen des Textes, teilweise von Max Frisch selbst, eine Rede und ein Interview des Autors.

Wie schon die Auswahl der LiteraMedia-Edition nahelegt (weitere Ausgaben: Frischs Andorra, Hesses Siddharta, Brechts Leben des Galilei, Storms Schimmelreiter und andere), wendet sich die elektronische Edition in erster Linie an Lehrer, die auf dieser CD alles finden, was sie zur Vorbereitung brauchen, und an ihre Schüler, die Referate oder Hausarbeiten anfertigen wollen (Verlagsankündigung: »Text, Interpretationshilfe und Materialien auf CD-ROM«). Auch dem Grundstudium-Studenten wird die Ausgabe eine Einführung in den Roman und in wichtige Sekundärliteratur liefern, samt Einbettung in das Werk von Max Frisch.

Vollmundig preist der Verlag auf seiner Homepage seine Editionen an: »Mit Terzio wird Literatur zum Erlebnis. [...] In der audiovisuellen ›Guided Tour‹ kann sich der Leser entspannt durch die Erläuterungen zu Werk und Autor führen lassen.« In der Tat macht es die elektronische Aufbereitung dem interessierten Leser leicht: Am Rande werden ihm unter Umständen unbekannte Ausdrücke erklärt oder übersetzt, auf Verständnishilfen und Kurzkommentare verweisen Links, er kann gleichzeitig einen Teil des Textes hören (aber auch den Ton abschalten). Hat er Lust dazu, kann er sich Bilder aus Max Frischs Leben oder von seinen Theaterstücken anschauen oder Informationen über die Biographie des Autors, über andere Werke, Parallelstellen und so weiter einholen und dann wieder zum Text zurückschalten.

Für wissenschaftliche Zwecke ist die Ausgabe nur begrenzt oder gar nicht eingerichtet. Dazu sind schon die Informationen auf dem Beipackzettelchen der CD-ROM zu dünn. Die Verfasser der Erläuterungen und Kommentare sind für den Käufer der CD nicht verzeichnet. Man findet sie im Abspann, den man allerdings nicht anhalten oder gesondert ausdrucken kann, so daß man sehr schnell lesen muß – und dabei erfährt, daß neben Walter Schmitz als Herausgeber der Frisch-Werke und Materialienbände des Suhrkamp-Verlags Peter Michalzik für den Kommentarteil zuständig ist. Der Verlag hält die Kommentatoren offensichtlich für irrelevant.

In diesen Zusammenhang gehört auch, daß die Edition offensichtlich 1996 abgeschlossen wurde, obwohl sie das Copyright von 1998 trägt. Gerade in den letzten Jahren sind aber einige biographische Arbeiten und Briefeditionen erschienen, die Aufschluß geben über Frischs frühe Jahre und die einige seiner Selbststilisierungen zurechtrücken, so zum Beispiel Urs Birchers 1997 erschienene Untersuchung Max Frisch 1911-1955. Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Sie einzuarbeiten wäre nützlich gewesen. Dennoch ist die Aufarbeitung der umfangreichen Literatur zu Homo Faber ordentlich und kann den universitären Ersteinstieg befriedigen. Darüber hinaus bleibt sie eklektizistisch, was insbesondere bei der Rubrik »Sonstige Literatur: Quellen« und »Forschung« ins Auge sticht. Ansonsten ist die Edition sauber erstellt. Es finden sich kaum Fehler. Die Bilder sind ansprechend arrangiert, die Kommentare sachlich und für ein breites Benutzerspektrum eingerichtet, also auch für Leser ohne größeres Vorwissen. Man kann sich Notizen machen, sie sich (wie die Textseiten) ausdrucken und/oder in eine reine Text-Datei abspeichern und weiterverarbeiten.

Die Textnavigation wird hauptsächlich über das Inhaltsverzeichnis gesteuert sowie über die fortlaufende Seitenzahl, die unter dem Text eingeblendet ist und über die man vor- und zurückschalten kann. Die Programmgeschwindigkeit ist ausreichend. Darüber hinaus hilft einem die Suchfunktion, mit Hilfe einzelner Wörter (UND/ODER-Funktion) die entsprechenden Textstellen (Kurzangabe mit Seitenzahl) zu suchen. Dies ist einer der unbestreitbaren Vorteile von elektronischen Editionen. Nicht immer arbeitet die Suchfunktion bei Homo Faber allerdings präzise: Beim Stichwort »Freud« findet man in erster Linie »Freude«.

Vergleicht man Buch und CD-ROM, so fragt man sich nach dem Mehrwert der elektronischen Edition. Hilfreich ist natürlich die Suchfunktion, insbesondere bei der interpretatorischen Durchdringung des Textes. Bilder und gesprochene Textpassagen mögen anregend wirken. Ob allerdings die allgemeine Orientierung in Text und Kommentar ›per Maus und Monitor‹ schneller vonstatten geht als ›per Hand‹, wage ich, wenigstens in Hinblick auf den geübten Leser, zu bezweifeln. Da die elektronische Aufbereitung eines Romans den Rezeptionsprozeß verändert – sie erschwert insbesondere das identifikatorische Lesen und, damit gegeben, das Hineinversenken in die narrative Bilderwelt –, ist es längst zu einer funktionalen Trennung der verschiedenen Editionsmöglichkeiten und ihrer Verwendung gekommen. Der Technik-Fan Walter Faber würde heutzutage seiner Tochter Sabeth eine Dreifachausgabe des Romans schenken: Für die Lektüre auf dem Schiffsdeck das Buch, für das Referat die CD und auf ihrer Autofahrt durch Frankreich und Italien könnten sie gemeinsam der Hörkassette lauschen. Mit anderen Worten: Man versenkt sich in die Lektüre eines Buches (im Sinne von Schmökern), man benutzt die elektronische Aufbereitung per CD zum Zwecke interpretatorischer Durchdringung und Deutung, und man lauscht der Hörkassette, wenn man gleichzeitig etwas tun muß, was das Lesen, aber nicht das Zuhören behindert.

Die CD hat den Vorteil, daß sie umfangreiches Datenmaterial speichern und mit Hilfe der Suchfunktionen und Navigationshilfen schnell zur Verfügung stellen kann. Diesen Vorteil nutzt die elektronische Edition des Homo Faber nicht aus. Die Crosslinks zu anderen Romanen und die damit verbundene mögliche Wiedergabe umfangreicher Parallelpassagen könnten in ganz anderem Umfang ausgebaut werden. Das gleiche gilt für die Erläuterungen und die Hinweise auf Sekundärliteratur, aber auch für Max Frischs Selbstzeugnisse und Interviews. Hier wäre eine aufbereitete Datenfülle vorstellbar, die die Vorteile des neuen Mediums voll ausreizt. Dann könnte die CD auch wissenschaftlichen Zwecken dienen, und der Ausdruck ›Mehrwert‹ wäre wirklich angebracht. So fragt man sich, warum man die CD kaufen soll, wenn man das Buch schon besitzt.

Fritz Gesing

Dr. Fitz Gesing
Angerweg 33 A
86938 Schondorf am Ammersee
Fritz.Gesing@t-online.de

(3. Oktober 2000)