Für die germanistische Literaturwissenschaft stellt die Frühe Neuzeit eine Makroepoche dar, die eine Fülle konventioneller Epochenkonstrukte umschließt:[1] Humanismus, Reformation, Konfessionalismus, Barock und Aufklärung – all das fällt unter diesen makrologischen Begriff. Er ist seit den 70er und 80er Jahren als ein Import aus der Geschichtswissenschaft etabliert.[2] Als weit angelegter Begriff erlaubt er es, mediaevistische und neu-philologische Konzepte für die Beschäftigung mit den Texten der Epoche zu verbinden. Dabei kann an solche Vorgaben angeknüpft werden, wie sie Wolfgang Harms für eine Erweiterung der Mediaevistik in Zusammenarbeit mit der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Hans-Gert Roloff für eine »Mittlere deutschen Literatur« entwickelt haben.[3] Vor wenigen Jahren erst hat Klaus Garber vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, ein Max-Planck-Institut für die interdisziplinäre Erforschung der Frühen Neuzeit zu gründen.
Ansätze und Projekte für eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit mehren sich mittlerweile. Das Projekt Ein Server für die Frühe Neuzeit (»sfn«) ist ein Produkt dieser Entwicklung. Am 13. Dezember 1999 ist der Server ans Netz gegangen. Es handelt sich um ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Schwerpunktes »Virtuelle Bibliotheken« gefördertes Pilotprojekt, das vom Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Bayerischen Staatsbibliothek getragen wird. ›Langsam‹ und in Zusammenarbeit mit Interessierten sollen »neue Wege« für Forschung und Lehre erschlossen werden. Geplant und in ihrem Verlauf angelegt sind diese Wege bereits.
Der Server soll ein »Dach für unterschiedliche Forschungszweige der Frühen Neuzeit« bilden. Architektonisch wohl durchdacht, ruht dieses »Dach« auf mehreren Säulen:
• auf dem gemeinsam mit der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung gestellten Literaturdienst,
• den in Zusammenarbeit mit der Mailing-Liste Humanities-Sozial-und-Kulturgeschichte entwickelten Rezensionsjournalen,
• den Schwerpunkten zur Hexenverfolgung und zum Thema »Krieg und Gesellschaft«,
• den Link-Empfehlungen, dem Forum zur Frühneuzeit-Forschung und
• dem Serverletter zu aktuellen Entwicklungen auf dem Server selbst.
In Fragen der Lehre liegt der Akzent auf dem Erproben »neuer Unterrichtsmodelle«. Bereits realisiert ist ein Workshop mit Studenten, der die Erstellung eines elektronischen Lexikons zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges zum Ziel hat. Damit soll erfüllt werden, was wissenschaftspolitisch zu wünschen ist, nämlich die Ausbildung von »Medienkompetenz«.
Was noch nicht erfüllt ist und in Anbetracht der kurzen Laufzeit des Servers wohl auch nicht zu erwarten war, betrifft die Umsetzung jenes Ideals der Interdisziplinarität. Die Literaturwissenschaft etwa sucht man auf dem Server fast vergeblich.[4] Zwar kündigt der Serverletter mit dem Berner Haller-Projekt eine Arbeitsstelle für die Erschließung von Archivalien zu Hallers Leben und Werk an,[5] doch fehlen Hinweise auf Projekte und Arbeitsschwerpunkte der literaturwissenschaftlichen Frühneuzeit-Forschung völlig. Damit meine ich so vorbildliche Internet-Darstellungen wie diejenige der Internationalen Andreas Gryphius-Gesellschaft, die ein Frühneuzeit-Forum für Literaturhistoriker und zahlreiche Links zu entsprechenden Einzelunternehmen bietet.[6] Darüberhinaus wäre auf solche Institute und Institutionen hinzuweisen, die – zumeist von der Literaturwissenschaft ausgehend – Erfahrungen mit der interdisziplinären Vermittlung gesammelt haben. Gemeint sind das Zentrum für die Erforschung der Frühen Neuzeit (Renaissance-Institut) in Frankfurt am Main mit der etablierten Zeitschrift Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit,[7] das Interdisziplinäre Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit in Osnabrück,[8] das Institut für Europäische Kulturgeschichte in Augsburg[9] und das Institut für Erforschung der Frühen Neuzeit in Wien mit der regelmäßigen Publikation Frühneuzeit-Info.[10]
Bislang sind Literaturwissenschaftler, die sich über die Disziplin hinaus Recherchemöglichkeiten erschließen möchten, aufgrund der fachspezifischen Verengung von Ein Server für die Frühe Neuzeit auf die Historiographie am besten beraten, den Server der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel aufzusuchen.[11] Dort finden sich über Links zu den genannten Instituten hinaus Informationen über die an der Wolfenbütteler Bibliothek angesiedelten Arbeitskreise zur Renaissance- und Barock-Forschung, über die Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts und über internationale Institutionen (beispielsweise über die Voltaire Foundation/Fondation Voltaire).Darüberhinaus wäre es wünschenswert, wenn über die auf dem Server angelegten Schwerpunkte hinaus über DFG- oder anderweitig geförderte Frühneuzeit-Projekte berichtet werden könnte.[12] Eine reichhaltige Linkliste solcher Projekte hat der Arbeits- und Gesprächskreis Frühe Neuzeit am Germanistischen Seminar der Universität Bonn angelegt.[13]
Doch sollte die Chance zur Kommunikation über die Fachgrenzen hinaus, die der Münchener Server bietet, nicht ungenutzt bleiben. Produktiv könnte eine solche Kommunikation in der Sache selbst werden, denkbar wäre ein Rezensieren mit Kommentaren von Fachfremden. Bislang reichen insgesamt nur zwei der geschichtswissenschaftlichen Rezensionen in philologisches Gebiet hinein: diejenige über die von Hans Pleschinski herausgegebenen Briefe der Madame de Pompadour (1999) und diejenige über Frank Liemandts Die zeitgenössische literarische Reaktion auf den Tod des Königs Gustav Adolf von Schweden (1999). Zur propagandistischen Wirkung von Leichenpredigten und anderen Dokumenten, über die Liemandt Auskunft gibt, hätten auch Literaturwissenschaftler manches beizutragen. Doch ist auch geplant, dem bisherigen Rezensionsangebot weitere fachspezifische Rezensionsjournale anzugliedern. Wie niveauvoll und effektiv das Rezensieren im Internet sein kann, zeigen die von den Redaktionen von Ein Sever für die Frühe Neuzeit und von Humanities-Sozial-und-Kulturgeschichte vorgestellten Texte. Sicher ist es sinnvoll, den eingespielten Disziplinen Rezensionsforen zu bieten. Allerdings ermöglicht es gerade das Internet, Parallelrezensionen von Historikern der Einzeldiszplinen miteinander zu konfrontieren. Aber auch über die Planung weiterer Rezensionsjournale hinaus hat das Serverteam Ideen zu einer Ausweitung entwickelt: die stärkere Berücksichtigung digitaler Editionen – ein genuines Tätigkeitsfeld der Computerphilologie, die Zusammenarbeit nicht nur mit der Virtual Library Geschichte und der Virtual Library Museen, sondern auch mit landesgeschichtlichen Unternehmungen. Außerdem soll ein Schwerpunkt zur Buchgeschichte eingerichtet werden. Längerfristig soll sich Ein Server für die Frühe Neuzeit zu einem umfassenden Forum für die Frühe Neuzeit entwickeln, zu einer Art digitalem Journal. All diese Entwicklungen sollen für die bereits zahlreichen Nutzer transparent gemacht und nachvollziehbar dargestellt werden.[14]
Transparenz reicht meiner Erachtens jedoch nicht aus, um den Server als anspruchsvolles Medium zu gestalten. Mit dem Server ist eine Chance zur Beförderung einer interdisziplinären Frühneuzeit-Forschung und zur Entwicklung einer seriösen Informationsquelle über dieselbe gegeben. Soll der Server – wie beabsichtigt – zum »Knotenpunkt« für die Frühneuzeit-Forschung werden, so wäre perspektivisch in einem größeren und interdisziplinären Kreis darüber zu entscheiden, wer die Inhalte des Servers auswählt, welche Kompetenzen zu diesem Zweck vertreten sein müssen und wie der Ausbildung von »Medienkompetenz« die Ausbildung von »Sachkompetenz« an die Seite gestellt werden kann. Um den Server zu einem hochwertigen Instrument für Forschung und Lehre aller frühneuzeitlichen Teilgebiete werden zu lassen, wäre auch eine Zusammenarbeit zwischen dem Serverteam und Literaturwissenschaftlern wünschenswert.[15]
Sandra Pott (Gießen)
Dr. des. Sandra Pott
Institut für Neuere deutsche Literatur
Justus-Liebig-Universität Gießen
Otto-Behaghel-Str. 10B
35394 Gießen
s_pott@yahoo.de