Die den meisten Frühneuzeit-Historikern und
-Literaturwissen-
schaftlern schon weidlich bekannte, seit 1996 bestehende
Projekt-Gruppe MATEO (Mannheimer Texte Online) an der Mannheimer
Universitätsbibliothek legt hier eine CD-ROM mit einer Präsentation
der einundzwanzig ihrer Ansicht nach »schönsten« Fabeln vor. Dies
sind (in der modernen Titelübersetzung der Herausgeber) die Fabeln von Hahn
und Perle, vom Wolf und Lamm, vom Hund und dem Fleischstück, von Löwe,
Rind, Geiß und Schaf, von Haus- und Feldmaus, von Adler und Fuchs, vom
Raben und dem Käse, von Löwe und Maus, vom Berg, der eine Maus gebar,
von dem alten Hund und seinem Herr, von Fuchs und Storch, von Dohle und Pfau,
von Wolf, Fuchs und Affe, von Frosch und Ochse, von Hirsch und Jäger, vom
Fuchs und den Trauben, vom alten Löwen und den Füchsen, von Ameise und
Grille, von Tanne und Schilfrohr, vom Esel in der Löwenhaut und von
Löwe und Steinbock. Diese Fabeln sind in den
lateinisch-frühneuhochdeutschen Fassungen des berühmten sogenannten
Ulmer Aesops von Heinrich Steinhöwel (um
1476),[3]
dessen Wert für die Überlieferung der antiken Fabeldichtung in vollem
Umfang als erster Gotthold Ephraim Lessing, damals Wolfenbütteler
Bibliothekar, nach dem dortigen Exemplar erkannt
hatte,[4]
des lateinischen Basler Esops von Sebastian Brant
(1501)[5]
und der für das 18. Jahrhundert unhintergehbaren französischen Ausgabe
La Fontaines (1755-59) mit den jeweiligen Holz- und Kupferschnitten sowie mit
einer modernen deutschen Übersetzung dargeboten. Bei den ersten neunzehn
Fabeln handelt es sich um solche der Prosaüberlieferung des Romulus (circa
400 n. Chr.), von der man heute achtundneunzig kennt, von denen Steinhöwel
achtzig in vier Büchern zu je zwanzig Fabeln
gibt.[6]
Zusätzlich haben die Herausgeber zwei Fabeln des Avian (4. Jahrhundert n.
Chr. – zweiundvierzig Fabeln bekannt, siebenundzwanzig bei
Steinhöwel) als »schönste« ausgewählt (Steinhöwels
vierte und neunzehnte Avian-Fabel). Über die Auswahl mag man tunlichst
streiten, jedenfalls ist keine der siebzehn bei Steinhöwel als
»Extravagantes« bezeichneten, keine der siebzehn bei ihm von Rinuccio
d'Arezzos hundert übersetzten Fabeln aus dem Griechischen (1474), keine der
Fazetien des Petrus Alphonsus und des Poggio, von denen Steinhöwel
fünfzehn beziehungweise acht ausgewählt hatte, bearbeitet. Wenngleich
gerade letztere Texte das Fabelgenre im engeren Sinne zugegebenermaßen
sprengen, so wäre zur Erhellung von Steinhöwels Hintergrund und im
Hinblick auf das derzeit neu erwachte Interesse in der Forschung auch an
historischer Sexualitäts- und Geschlechterverhältnisforschung
mindestens die berühmte Poggio-Spottgeschichte De iuvencula impotentiam
mariti accusante (was Steinhöwel übersetzt mit Ain frow verklaget
ieren man, er hette kainen [fol. 269recto]) und vor allem der darauf folgende
Verteidigungseinschub des Ulmer Arztes (Entschuldigung Schrybens lychfertiger
Schimpfred [fol. 269 verso]) einer Aufnahme in die Auswahl wert gewesen: Die
Verteidigungsrede stellt schließlich den einzigen Text des Ulmer Aesops
dar, in dem der Kompilator und Übersetzer an Profil gewinnt.
Da es jenseits der großen literarischen Klassiker noch wenig elektronische und CD-ROM-Publikationen im Frühneuzeitbereich gibt, ist die Arbeit von MATEO und so auch diese CD hoch verdienstvoll, zumal es sich bei der Fabelliteratur trotz ihrer unbestreitbaren großen literatursoziologischen und literaturhistorischen Bedeutung nicht gerade um ein besonders geliebtes Feld der Literaturwissenschaft handelt.
Zielpublikum der Publikation scheint weniger ein
wissenschaftli-
ches als ein allgemein interessiertes Publikum zu sein, ein
gewisser spielerischer Gestus vereint mit dem liebenswürdig-beherzt
tönenden Pioniergeist, hier Werke aus einer Epoche des Medienumbruchs von
einer vergangenen Multimedialität in die neue Multimedialität des
Computerzeitalters zu überführen, ist der Publikation jedenfalls
eigen, wie schon der Titel zeigt.
Zunächst zum Technischen: Die lediglich
»empfohlenen« 16 MB RAM sind unabdingbare Voraussetzung für die
Benutzung der CD! Auf Rechnern mit 8 MB – Rezensent hat das mit zwei
Pentium-Rechnern getestet, die im übrigen den Systemanfor
derungen
entsprechen – verursacht das Programm einen Systemabsturz beim Laden der
entsprechenden Abbildungen in
Folge.[7]
Die Präsentation ist ein wenig im Stil von Computerspielen beziehungweise von Credits im Film programmiert, mit jeweils circa 58sekündigem Vor- und Nachspann, was ja bei einmaliger Benutzung ganz ansprechend ist, was aber bei einer häufigeren Benutzung stört, zumal sich sowohl Vorspann (durch Mausklick auf die schon geladene Oberfläche) als auch Nachspann (durch Drücken der Escape-Taste) höchstens auf die Hälfte der angegebenen Zeit reduzieren lassen. Dies wird vollends dann entnervend, wenn man die – immerhin von den Programmierern dankenswerter Weise vorgesehene und auch im Begleitheft hervorgehobene – Funktion des Textexports in/aus dem Zwischenspeicher zur Kopie eines Textabschnitts von der CD in die Textverarbeitung nutzen will: Da nämlich die Oberfläche der Fabel-CD nicht multitaskingfähig gestaltet ist, also nicht etwa in einem Windows-Fenster arbeitet, das in den Hintergrund verbannt werden könnte, muß man beim Textexport jeweils das Programm ganz verlassen. Daß die Präsentation nicht multitaskingfähig ist, ist natürlich ohnehin ein gravierender Mangel, zumindest, wenn es nicht um die rein passive Freude an dem Gebotenen gehen soll, sondern man auch in irgendeiner Weise damit arbeiten will.
Nach dem erwähnten grafischen Vorspann präsentiert
sich die Startseite in (auf einigen Bildschirmen nicht hinreichend
kontraststarkem) Ockerbraun mit einem Ochsenkopf-Wasserzei-
chen als Hintergrund;
zu wählen ist zwischen den drei Registermenüs
»Hintergrundinformationen« (1), »Auswahl der Titel« (2) und
»Auswahl des Druckes« (3).
Bei ersterem handelt es sich um einige informative Texte zur
Geschichte der Druckkunst, zur Buchillustration, zum zeitgenössischen
Buchmarkt und zu »literarischen Aspekten«. Während in der
Druckgeschichte einige allgemein bekannte Hinweise zur Erfindung des Drucks mit
beweglichen Lettern, zentriert um Gutenbergs Person, gegeben werden,
dürften schon die Abschnitte zur Buchillustration dem interessierten Laien
immerhin einige etwas weniger verbreitete Einblicke in den diesbezüglichen
Wissensstand
gewähren.[8]
Auch die Abschnitte zum zeitgenössischen Buchmarkt sind sicherlich zum
Verständnis hilfreich. Die Rubrik »Literarische Aspekte«
enthält eine Einführung in die Fabelliteratur, die in dieser
Kürze im Grunde nicht schlechter ist als manches Manual in gedruckter Form,
zumindest für die Zeit bis Brant. In dieser Rubrik der
»Literarischen
Aspekte« finden sich auch einige Hinweise zur Edition, bibliographische
Hinweise, sowie schließlich die Hauptleistung der Editoren, der
Stellenkommentar zu den Fabeln mit Erläuterungen zum Text- und
Sinnverständnis. Dieser ist durchweg sehr kundig, praktisch fehlerfrei und
ein echter Forschungsbeitrag – denn so trivial manchem Kenner des
Frühneuhochdeutschen oder des Lateins der Zeit die eine oder andre
Erläuterung erscheinen mag, so wichtig und nützlich ist sie im Ganzen.
Der Kommentar ist allerdings nur in diesem Menü
zugänglich. Wünschenswert wäre aber gewesen, direkt bei Ansicht
der gescannten Fabeln aus dem Steinhöwel-Exemplar beziehungsweise aus dem
Brant-Text auf den Kommentar rückgreifen zu können. Stattdessen kann
man aus der Funktion »Titelwahl« heraus zwar immerhin bei lateinischem
Text eine moderne Übersetzung, die Transkription in moderne
Typographie[9]
und eine Kurzerläu-
terung, nicht aber den Wortkommentar einsehen. Dazu
muß man wieder in das Menü »Literarische Aspekte« wechseln.
Ein weiteres Manko ist, daß keinerlei Suchfunktion zu Verfügung
gestellt wird – zwar ist die transkribierte Textmenge ohnehin sehr gering
bei einundzwanzig Fabeln, aber eine Suchfunktion als das genuine Plus jeder
Computer-Edition darf einfach nicht fehlen.
In der Titelwahlfunktion der Fabeln ist eine Vollbild-Ansicht der jeweils gescannten Seite, eine Ausschnittsansicht nur der Illustration sowie eine Detailansicht möglich. Unter dem Menü »Buchauswahl« ist schließlich eine Gesamtansicht der achtundzwanzig betroffenen Doppelseiten des Steinhöwel'schen und der siebzehn des Brant'schen Äsops möglich, was hier[10] wirklich Sinn macht, weil so ein Eindruck vom optischen Erscheinungsbild der Inkunabel beziehungweise der Postinkunabel vermittelt wird.
Überhaupt liegt in der Wiedergabe der in hervorragender Qualität gescannten, im Falle des Ulmer Aesops so farbenprächtig kolorierten, im Falle der Brant'schen Ausgabe schwarz-weißen Holzstiche ein großer Wert dieser Ausgabe. Die Textfassung des Ulmer Aesops ohne Holzstichwiedergabe liegt zwar schon seit 1873 in einer Ausgabe vor,[11] und seit 1992 ist auch ein Faksimile erhältlich.[12] Aber beides ist letztlich nur dem Forscher in Bibliotheken zugänglich. Vom zweiten Teil der sehr viel weniger beachteten Brant'schen Fabelsammlung, die die Additionen Brants zum Steinhöwel'schen Corpus betrifft, liegt seit letztem Jahr eine wissenschaftliche Neuausgabe vor,[13] und MATEO selbst präsentiert ein vollständiges gescanntes Exemplar aus der UB Mannheim.[14] So trägt die CD wie auch das gesamte MATEO-Unternehmen dazu bei, teils zwar relativ gut erschlossene, aber schon aufgrund der hohen Preise der Faksimile-Ausgaben und wissenschaftlichen Editionen nur über Bibliotheken zugängliche Quellen jedem Interessierten zumindest in Auswahl farbenprächtig und volltönend[15] näherzubringen – und die Auswahlüberlieferung ist ja nun gerade bei der Fabelgattung tatsächlich kein Sakrileg, sondern ihre historische Normalerscheinung.
Auch wenn also einer weitergehenden, wissenschaftlichen Benutzung einige Mängel gerade auf der Ebene der bereitgestellten Programmfunktionen entgegenstehen (unpraktischer Textexport, fehlendes Multitasking, keine Suchfunktion), wird man alles in allem der Publikation sehr wohl bescheinigen können, daß sie dem interessierten Neugierigen einen soliden, multimedial ansprechend aufbereiteten Eindruck in die Fabeltradition, insbesondere um 1500 vermittelt. Als angemessenste Verwendungsmöglichkeit der CD-ROM wäre an einen anspruchsvolleren Literaturunterricht im Gymnasium zu denken.
Cornel A. Zwierlein (München)
Cornel A. Zwierlein, M.A.
Institut für Neuere Geschichte
Lehrstuhl Prof. Dr. Winfried Schulze
LMU München
Geschwister-Scholl-Platz 1
80799 München
cornel.zwierlein@lrz.uni-muenchen.de