KARL-HEINZ MÜTHER U.A.: ARNO SCHMIDT (1914-1979). BIBLIOGRAPHIE UND AUDIOVISUELLE ZEUGNISSE ZU LEBEN, WERK UND WIRKUNG. BIELEFELD: AISTHESIS 1995. [PREIS: 98,- DM].
ARNO SCHMIDT: WERKE UND KONKORDANZ. DIE BARGFELDER AUSGABE. EINE EDITION DER ARNO-SCHMIDT-STIFTUNG IM HAFFMANS VERLAG. BARGFELD: ARNO-SCHMIDT-STIFTUNG 1998. HANDBUCH VON GÜTER JÜRGENSMEIER. [PREIS: 320,- DM]
I
Arno Schmidts Werk weist hypertextuelle Eigenschaften auf: Viele Texte sind mittels der gleichen oder aber gleichartig konzipierten Erzählerfigur miteinander verknüpft; das erzählerische und essayistische Werk ist vielfältig aufeinander bezogen; offenkundige wie verdeckte Anspielungen und variierend wiederholte zentrale Formeln bilden ein komplexes rekursives Verweisungsnetz. Die elektronische Aufbereitung des Œuvres ist also ein vielversprechendes Experimentierfeld. Anzuzeigen sind zwei Datenträger, die Grundlagen dafür schaffen: Günter Jürgensmeier hat im Auftrag der Arno-Schmidt-Stiftung die Bargfelder Ausgabe als noch provisorische Edition erstellt; Karl-Heinz Müther, ein Schmidt-Sammler und -Bibliograph, zeichnet verantwortlich für eine biobibliographische CD-ROM.
Die ersten vier Abteilungen der Bargfelder Ausgabe (I. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia; II. Dialoge; III. Essays und Biographisches; IV. Spätwerk) liegen mit Ausnahme von Zettel’s Traum im Druck vor, so dass eine zwar noch nicht vollständige, aber doch schon brauchbare elektronische Edition möglich war. Die Entscheidung ist wohl davon abhängig gewesen, dass mit dem Abschluss des Neusatzes in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war. Der Benutzer des vorliegenden Datenträgers muss also auf Zettel’s Traum verzichten.
Die Benutzung der CD ist einfach und sehr komfortabel, eine Installation nicht erforderlich. Das Werk ist zugänglich in textlinearer Anordnung, als Werkchronologie (wobei zu beachten ist, dass die mehrjährige Arbeit Schmidts an einem Text auf eine Jahreszahl gebracht wird) und als Konkordanz. Die Texte sind in kleinere, aber nur zum Teil authentische Einheiten untergliedert. Mittels numerisch verschlüsselter Verweise ist jederzeit nachvollziehbar, wo man sich befindet. Die Navigation zwischen den einzelnen Komponenten ist einfach, die üblichen Angebote (Ausdruck, Teildruck und so weiter) sind problemlos verfügbar. Stichproben haben keine Fehler ergeben. Begrenzt ist leider die Zahl der verfügbaren Lesezeichen für die Arbeit am Text (maximal fünfzehn temporäre, die nach Ende des Programms gelöscht werden), aber mit den gegebenen Möglichkeiten ist viel anzufangen. Das Begleitbuch ist didaktisch hervorragend aufgebaut, die einzelnen Schritte sind leicht nachvollziehbar. Man kann sich also schnell einarbeiten und auf das Wesentliche konzentrieren.
An diesem Punkt stößt man dann allerdings auf Probleme, die sich aus Eigenarten der Texte Arno Schmidts ergeben. Ärgerlich sind die mangelhaften Möglichkeiten der graphischen Oberfläche – und da ist man in einem Feld, wo Jürgensmeier mit den Grenzen der Software hat kämpfen müssen –: Schmidt verwendet nämlich in seinem Werk mit der Zeit zunehmend graphische Elemente. Seit KAFF auch Mare Crisium sind die jeweiligen Erzählebenen eines Romans in Spaltendruck realisiert. Die Typoskriptromane enthalten dann eine ganze Reihe drucktechnischer Besonderheiten: Spaltendruck, Marginalien, Ramifikationen, Abbildungen, Zeichnungen. [1] Diese vom Autor in einer Reihe von poetologischen Texten reflektierte Anordnung, die unter anderem als Erweiterung und Aufbrechung der linearen Textsukzession gedacht ist und vielfältige Querverbindungen stiftet, aber auch dem Wunsch des Autors nach vollständiger Kontrolle über die Gestalt des Werks entspringt, musste linearisiert werden. Wesentliche Bestandteile der Vorlage sind also nicht graphisch realisiert (siehe Abb. unten).
Ein anderes Problem ist die »VerschreibKunst«, das heißt die zunehmend komplexer und vielfältiger werdende Abweichung von der Orthographie. Eindrucksvoll führt das die Konkordanz vor Augen, die das Material für eine umfassende linguistische Analyse bereitstellt. Die »VerschreibKunst« aber setzt dem unmittelbaren elektronischen Zugriff Widerstand entgegen. Man kann sicher sein, dass noch lange nicht alle Belege eines Lexems in der Konkordanz an einer Stelle auftauchen. In dieser Lage waren zwei Möglichkeiten denkbar. Die eine wäre die Verknüpfung der Schmidt-Konkordanz mit einem Lexikon, über die auf alle auftauchenden Verschreibungen zugegriffen werden könnte. Es wäre in einer Rezension leicht, vollmundig dieses Desiderat von der elektronischen Ausgabe einzufordern. Da ich nicht abzusehen vermag, wie sehr hier der Teufel im Detail steckt und wie groß der Aufwand dafür wirklich ist, formuliere ich dies als Wunsch und Anregung.
Die Ausgabe setzt jedoch auf die andere Möglichkeit, indem sie vor allem komplexe Suchfunktionen (vorgeführt am Beispiel »Walter Scott«) erläutert und anbietet. Einerseits sind die Möglichkeiten hier sehr weit reichend bis zur Möglichkeit einer Ausarbeitung komplexer Suchprogramme; andererseits aber sind die Benutzer auf ihre eigene Findigkeit verwiesen. Vorsorglich weist Jürgensmeier darauf hin, dass die Suche nach Zahlen bei Schmidt aussichtslos sei. Ein weiterer Software-Mangel ist, dass diakritische Zeichen nicht gesucht werden können. Da Schmidt bereits früh auch die Interpunktion funktionalisierte (das Standardbeispiel ist das startende Flugzeug am Ende der Gelehrtenrepublik), ist das ärgerlich.
Insgesamt ist vielleicht der einzige echte Schönheitsfehler der Ausgabe das Fehlen einer orthographischen Konkordanz. Die anderen Mängel gehen zu Lasten der Software. Die Kräfte des Marktes haben hier eben zu schlechten Lösungen geführt. In Aussicht gestellt ist ein Update, das weitere operative Möglichkeiten bieten soll und den Textbestand um Zettel’s Traum erweitert. Man sollte darüber hinaus bedenken, ob nicht vielleicht der Briefbestand auch integrierbar wäre.
Als Robert Weninger 1995 eine Auswahlbibliographie zu Arno Schmidt vorlegte, begann er mit einer Rechtfertigung, denn zu diesem Zeitpunkt lagen bereits zwei umfangreiche mehrteilige Bibliographien vor.[2] Weninger wies aber völlig zu Recht auf die Notwendigkeit hin, die bibliographischen Datenmassen nach Titeln und Themen, selbstverständlich auch qualitativ, das heißt auf »den Grundbestand an wissenschaftlichen Beiträgen«[3] zielend, zu ordnen. Die biobibliographische CD des Aisthesis-Verlages ist im Grunde ein Zwitter. Einerseits enthält sie den Datenbestand von Müthers Bibliographie. Dieser Teil der CD ist glänzend aufbereitet und bietet den schnellen und strukturierten bibliographischen Zugriff auf Schmidts Werk, seine Rezeption und Erforschung. Der technische und Navigationsaufwand ist auf ein Mindestmaß reduziert. Wer auch nur übliche Computerkenntnis hat, kann mit ihr ohne Blick ins Handbuch arbeiten.
Die immensen Massen der Bibliographie sind nach den üblichen Sachgruppen geordnet. Darüber hinaus aber ist jeder Titel nach weiteren Schlagworten aufbereitet, die untereinander verknüpft sind. Wer etwa Informationen zu ›Erzählproblemen‹ sucht, kann über die Schlagwortverknüpfungen sein Material finden.
Exemplarisch sei dies verdeutlicht: Wer auf den von Michael M. Schardt und Hartmut Vollmer 1990 herausgegebenen Sammelband Arno Schmidt. Leben – Werk – Wirkung stößt, erhält den vollständigen bibliographischen Nachweis, eine Auflistung der Beiträge (wobei der Umbruch an einzelnen Stellen verrutscht ist), und, abgetrennt davon, eine Reihe von Namen und Schlagwörtern. Diese sind mit anderen Beiträgen der Autoren (vergessen ist in diesem Fall der Herausgeber Schardt) und anderen Schlagworten verbunden. Die Verknüpfung der Schlagworte untereinander ist chronologisch. Drei differenzierte Register (Namen, Orte, Schlagworte) bieten den systematischen Zugriff. Gelegentlich sind orthographische und Umbruchsfehler zu verzeichnen.
Neben der Bibliographie blieb noch Speicherplatz übrig, der für eine biographische Aufbereitung genutzt wurde. Diese zielt auf ein breiteres Publikum. Für Forscher ist sie ein willkommenes Zusatzangebot. Neben der Bibliographie werden als Kategorien »Vita«, »Werk«, »Fotogalerie«, »Bildende Kunst«, »Theater«, »Kollegen«, »Parodie/Satire« angeboten. Dieser Teil kombiniert ansprechend Bildmaterial, Textpassagen und Tonbeispiele und ist didaktisch sehr gut strukturiert.
Ein Beispiel: »Vita 1951« führt zu einer Oberfläche (siehe Abb. oben), die ein Foto von der Saarschleife bei Kastell (mit Textfenster) und eines des damaligen Wohnhauses der Schmidts zeigt. Ebenfalls angeboten wird ein Ausschnitt eines Interviews mit Schmidts langjährigem Lektor Ernst Krawehl. Weiterhin findet sich ein Verweis auf biographische Informationen und eine Verknüpfung zum Kurzroman Brand’s Haide, mit dem man in die Kategorie »Werk« gelangt. Dort wiederum ist der Umschlag der Erstausgabe abgebildet, Rezensionsauszüge können eingelesen werden, die unter Umständen weiter in die Kategorie »Kollegen« führen. Horizontale und vertikale Wege sind möglich.
Die einzelnen Kategorien sind ungleichgewichtig. Die
»Fotogalerie« enthält einige Fotos Eberhard Schlotters, die
»Bildende Kunst« enthält Schmidt-Porträts und Schmidtiana
bildender Künstler. Nicht sehr viel ist unter »Theater« geboten,
angesichts des Œuvres war das auch nicht anders zu erwarten.
Schließlich runden Zitate von Kollegen und Schmidt-Parodien das Bild ab.
Der Schmidt-Experte wird hier wenig Neues, aber eine Reihe von guten alten
Bekannten wieder finden. Während die Bibliographie das eigentliche Kern-
und Glanzstück darstellt, ist der Rest eine erfreuliche Zugabe, aber auch
nicht mehr: Die Bebilderung der Lebensstation Lauban etwa ist sehr dürftig (siehe Abb. unten),
bei den Schmidt-Fotos sorgen Speicherplatz, und sicher auch Copyright-Probleme
und manchmal fehlendes oder ergänztes Material für Reduktionen.
Unplausibel ist, warum die Texte keinen bibliographischen Nachweis haben.
Willkürlich mutet die Auswahl der zeitgleich mit Schmidts Werken
angeführten Werke anderer Autoren an.
In beiden Fällen ist jedoch das Ergebnis erfreulich. Der Bargfelder Ausgabe fehlen eine orthographische Konkordanz, Zettel’s Traum und die Briefe, Abhilfe ist aber in Aussicht gestellt. Die Biobibliographie ist in ihrem bibliographischen Teil hervorragend, im übrigen Teil nicht mehr als ein konzeptionell hervorragend aufbereiteter Apettithappen. Aber mit beiden liegt eine gute, wenngleich verbesserungswürdige Arbeitsgrundlage vor. Die große Herausforderung im Falle Schmidt könnte aber im Versuch liegen, editorische Modelle zu entwickeln, die den komplexen Strukturierungsgrad seiner Texte elektronisch umsetzen. Wer wagt’s?
Hans-Edwin Friedrich (München)
PD Dr. Hans-Edwin Friedrich
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3/RG
80799 München
he.friedrich@lrz.uni-muenchen.de