CHRISTIAN KECK: DAS BILDUNGS- UND AKKULTURATIONSPROGRAMM DES BAYERISCHEN AUFKLÄRERS HEINRICH BRAUN. EINE REZEPTIONSGESCHICHTLICHE WERKANALYSE ALS BEITRAG ZUR KULTURGESCHICHTE DER KATHOLISCHEN AUKLÄRUNG IN ALTBAYERN. MIT EINER WERKAUSGABE AUF CD-ROM. (SCHRIFTEN DER PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄTEN DER UNIVERSITÄT AUGSBURG NR. 58) MÜNCHEN: ERNST VÖGEL 1998. [PREIS: 98,- DM].
In Literaturgeschichten wird man vergeblich nach dem Namen des bayerischen Benediktiners und Aufklärers Heinrich Braun (1732-1792) suchen. Allenfalls Pädagogikhistoriker und Literaturdidaktiker, die in der Geschichte des Deutschunterrichts bewandert sind, kennen seinen Namen noch heute. Braun gilt als einflussreicher katholischer Theologe und bedeutender Pädagoge, der Initiator einer grundlegenden Bildungs- und Schulreform war. Von 1770 bis zur Aufhebung des Jesuitenordens 1773 zuständig für das Volksschulwesen in Kurbayern, unterstand ihm seit 1777 als Direktor das gesamte lateinische, das höhere Schulwesen. Sein Ziel war die konsequente Trennung von gelehrter und bürgerlicher Erziehung. Pädagogische Richtungskämpfe, die Ende der siebziger Jahre in publizistischen Invektiven verschiedener Verfasser gipfelten, führten jedoch schon 1781 zum Rückzug Brauns aus der Öffentlichkeit. Unversöhnlich standen sich sein Konzept, das noch auf humanistische Bildung im höheren Schulwesen setzte, und ein pragmatisches, das die Realschule favorisierte und Schulerziehung und Unterricht stärker an den Bedürfnissen einer sich in der Aufklärung wandelnden Gesellschaft ausrichten wollte, gegenüber.
Braun war ein überaus produktiver Autor, zu Lebzeiten erschienen rund 80 Schriften. Er publizierte »Anleitungen« zur Dicht- und Sprachkunst, stellte eine achtbändige literarische Mustersammlung zur Beförderung des guten Geschmackes in Oberdeutschland und Lesebücher (mit Liedern und Fabeln von Gellert bis Hagedorn) zusammen,[1] schrieb 1770 einige kleine, in Form und Inhalt für Bayern neuartige Schul- und Lehrbücher, legte ein deutsch-orthographisches Wörterbuch vor und verfasste wichtige reformtheologische Werke wie die Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit (1776). Darüber hinaus gab er die erste Wochenschrift in Kurbayern heraus, Der Patriot in Baiern (1769), edierte Schülerdichtungen und verfasste Satiren sowie, im letzten Lebensjahrzehnt, zwei Dramen und ein Singspiel. Erstes programmatisches Hauptwerk seiner Bemühungen um eine Sprach- und Bildungsreform in Kurbayern war die von Gottsched beeinflusste Anleitung zur deutschen Sprachkunst (1765). Es folgten weitere pädagogische und methodisch-konzeptionelle Werke wie der Plan der neuen Schuleinrichtung in Baiern (1770), die Gedanken über die Erziehung und den öffentlichen Unterricht in Trivial-, Real- und lateinischen Schulen nach den katholischen Schulverfassungen Oberdeutschlands (1774) und die Schulverordnung für die bürgerliche Erziehung (1778).
Braun war, ohne Frage, ein bedeutender Territorialaufklärer. Seine Aktivitäten und Veröffentlichungen wurden auch in den protestantischen Aufklärungszentren des Reiches, in Berlin, Leipzig und Göttingen, aufmerksam verfolgt. Anerkennung zollte dem katholischen Aufklärer zum Beispiel Friedrich Nicolai, der die Bemühungen um die Verbreitung und Durchsetzung der obersächsisch-meißnischen Sprachnorm in Kurbayern begrüßte und Veröffentlichungen Brauns in der Allgemeinen deutschen Bibliothek positiv besprechen ließ.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erschien eine Reihe von historisch-pädagogischen Untersuchungen, in denen entweder Person und Werk oder Brauns Rolle im Kontext der schulischen Reformbewegung in Bayern aufgearbeitet wurden. Nach einer Spezialstudie von Michael Rettinger[2] ist die umfangreiche Darstellung des Augsburger Pädagogikhistorikers Christian Keck die zweite neue wissenschaftliche Monographie zu Braun. Keck geht es nicht um eine Gesamtdarstellung des Werks oder um eine Werkbiographie, sondern primär um Inhalte und Formen der Rezeption. Er will das spezifische »Bildungs- und Akkulturationsprogramm« des bayerischen Aufklärers aus der Darstellung der »Rezeptionslinien im Braunschen Werk« (Kap. 3, S. 101-348) bestimmen. Dies erfolgt im Blick auf die Bereiche »Sprach- und Kulturreform«, »Schul- und Bildungsreform« und »Pastoral- und Kirchenreform«.
Dem Autor gelingt der detaillierte Nachweis, dass die meisten Rezeptionsimpulse von protestantischen »Aufklärern des nord- und mitteldeutschen Raumes« kamen (S. 358). Darüber hinaus verarbeitete Braun – neben den Werken von Klassikern der Antike – theologische, philosophische und literarische Werke englischer und vor allem französischer Aufklärer. Es ist hier nicht der Ort, um die manchmal umständliche und weitschweifige, allzu empirisch Rezeptionsbeleg an Rezeptionsbeleg reihende Arbeit (immer wieder werden »Rezeptionsbilanzen« geboten) zu diskutieren.[3] Nur so viel sei gesagt: Trotz methodischer Defizite, darstellerischer Schwächen sowie terminologischer und analytischer Mängel (vor allem in den Abschnitten zur Rezeption der Ästhetik und Dichtung der Aufklärung) ist dies eine grundlegende Untersuchung zu den spezifischen Inhalten und Formen der Rezeption und Verbreitung der Aufklärung in Kurbayern. Es handelt sich um einen der wenigen grundlegenden Beiträge zur Katholischen Aufklärung, die eine interdisziplinäre Aufklärungsforschung zur Kenntis nehmen sollte.
Uns interessiert das spezielle Design der Monographie, der Charakter einer Hybrid-Edition. Dem Buch ist eine CD-Rom mit einer umfangreichen Auswahl von Veröffentlichungen Brauns beigelegt (»eine Edition der wichtigsten Werke« (unpag.) – es handelt sich um 35). Die Auswahl orientiert sich an jenen Schriften, »die auch der Werk- und Rezeptionsanalyse der zugehörigen Studien zugrunde liegen« (unpag.) – eine Einschränkung, die zu bedauern ist. Immerhin stellt die CD-ROM als Speichermedium für den Benutzer des praktikableren Buchs zusätzlich eine ziemlich große Textmenge zur Verfügung. Damit kann sie dem beschleunigten Informations- und Diskussionsaustausch sowie spezifischen Forschungsinteressen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen dienen, vermag Forschung sogar anzustoßen. Das dürfte für einen nichtkanonisierten, im wissenschaftlichen Aufklärungsdiskurs kaum oder allenfalls am Rande vorkommenden Autor ziemlich neu sein. Vergleichbares gab es bislang allenfalls in der Form von Mikrofiche-Beilagen zu thematischen Monographien; als Beispiel sei die Untersuchung zur Zensur im 18. Jahrhundert von Bodo Plachta genannt.[4]
Gemessen am heutigen Standard elektronischer Editionen sind
die Nutzungsmöglichkeiten der vorliegenden CD-ROM bescheiden. Viel mehr zu
erwarten (mit Blick auf die Ästhetik oder gar in Richtung Hypertext und
Multimedialität) wäre auch vermessen und ungerecht, denn
schließlich handelt es sich um eine nicht-kommerzielle Edition, als
Beigabe zu einer Dissertation, die Quellentexte verfügbar machen will
– nicht mehr und nicht weniger. Zunächst einmal ist also das
Engagement des Autors für seine Zusatzleistung zu loben. Für
Innovationen hingegen dürfte weder die Zeit noch das Geld gereicht haben.
Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was die Edition dem Benutzer, der
ausschließlich Spezialist sein wird (aus den Disziplinen Pädagogik,
Theologie, Volkskunde, Landesgeschichte, historischer Sprachwissenschaft und
Literaturwissenschaft), bringt: Was leistet sie über den positiven Aspekt
hinaus, dass man einen relativ großen Teil des Werks, fast drei Dutzend
Originalausgaben der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hier beisammen
hat und sie sich nicht mühsam in Bibliotheken zusammensuchen
beziehungsweise sie über Fernleihe bestellen muss (sofern man nicht in
einer traditionsreichen nieder- oder oberbayerischen Universitätsstadt
lebt, wo die Präsenz von Schriften Brauns natürlich hoch ist)?
Die Installation der CD-ROM wirft keine Probleme auf.[5] Man startet das Programm durch Doppelklick auf die Datei »Start.htm« über den »Internet-Explorer« von Microsoft (oder über Netscape). Von der Startseite mit einem kleinen Porträt Brauns – nach einem zeitgenössischen Kupferstich – gelangt man über eine kurze Einführung »Zur Edition der Werke Heinrich Brauns« zum Arbeitsbereich: Die graphische Oberfläche präsentiert sich zweigeteilt (ein drittes, kleines Bildfenster ist für Fußnoten des Herausgebers bestimmt): Links erscheint das Inhaltsverzeichnis, die Auflistung von Zugriffsmöglichkeiten (von denen allerdings nur drei zu den Texten selbst führen), im Ganzen elf Links von A-K, rechts die jeweils abgerufenen Daten, Verzeichnisse und die Texte Brauns. Die Inhaltsleiste enthält zunächst die drei einführenden Abschnitte: »Einleitung«, »Lebenslauf von H. Braun in Daten«, »Chronologisches Werkverzeichnis der Schriften H. Brauns«.
Der Textteil ist in drei Editionsblöcke gegliedert, in Anlehnung an die Systematik der Monographie: »Werke der Sprach- und Kulturreform«, der »Schul- und Bildungsreform« sowie der »Pastoral- und Kirchenreform«. Statt dieser problematischen Abgrenzung und Systematisierung wäre für den Benutzer eine ausschließlich an der Chronologie der Erstdrucke orientierte Lösung sinnvoller. Jedem der Blöcke ist eine wissenschaftliche Einführung des Autors vorangestellt, die zwar über die gedruckte Monographie hinausgreift, auf die man aber dennoch hätte verzichten können. Stattdessen wären Kommentare zu den Einzeltexten Brauns allemal sinnvoller.
Wiedergegeben sind die Texte nach den Erstdrucken in der Frakturschrift. Aus »finanziellen Gründen« habe man »auf das noch junge Verfahren digitalisierter Schriftenpräsentation zurückgegriffen« (unpag.). Der technische Ablauf wird folgendermaßen erläutert: »Die 35 Braun-Schriften wurden zu schwarz-weiß digitalisierten Graphik-Dateien verarbeitet und lassen sich über den CD-ROM-Datenträger bequem in den Computer hineinladen, wodurch die Dateien auf dem Monitor als Faksimile erscheinen.« (unpag.) Es wurde also bedauerlicherweise nicht ein avanciertes Texterkennungsprogramm (OCR) verwendet – zugegebenermaßen eine Frage des Aufwands, den man betreiben will und kann. Das Ergebnis entspricht auch deshalb nicht der Qualität eines gedruckten Faksimiles, im Ganzen ist es schwankend, je nach dem Zustand der Druckvorlage. Einige Publikationen, darunter die akademischen Schriften, sind aufgrund des geringen Durchschusses und sehr kleiner Typographie am Bildschirm nur schwer lesbar, hinzu kommen immer wieder die Lesbarkeit beeinträchtigende Schatten. Die Ausdrucksqualität dieser Texte ist entsprechend miserabel. Auch deshalb hat Keck zwei der Reden Brauns zusätzlich als Faksimile im Anhang seiner Monographie abgedruckt! In einigen Fällen wird man also auf das Druckmedium zurückgreifen müssen.
Zu den Texten gelangt man wahlweise über das Werkverzeichnis der Schriften Brauns (hier kommt man jeweils auf die Titelseite), über das »Sachregister« oder über das »Personen-, Institutionen- und Titelregister«; beide Register sind zusätzlich auch im Buch abgedruckt. Das 32 Seiten umfassende Sachregister ist vom Autor akribisch und differenziert erarbeitet worden. Es enthält zum einen »authentische Begriffe von H. Brauns Schriften, die als Leitbegriffe hinreichend aussagekräftig und subsumierbar sind, um eine leichte Erschließung des Braunschen Werks aus den verschiedenen Perspektiven der Forschungsbereiche zu ermöglichen.« Damit soll die »zeitgenössische Terminologie und historische Fachsprache« gespiegelt werden. Zum anderen, meint der Autor, stelle die zusätzliche »Einbeziehung der heutigen Fach- und Schlagwörter eine zielgerichtete Erschließung sicher« (S. 415 des Buchs). In jedem Falle ist der Benutzer von der subjektiven Erschließungsarbeit, von den Bewertungen und Zuschreibungen des Autors, abhängig. Über die grün ausgezeichneten Seitenangaben gelangt man per Mausklick zu der entsprechenden Textstelle. Im Text ist der Begriff nicht markiert, man muss ihn auf der angegebenen Seite selbst finden. Das ist eine Folge der gewählten graphischen Digitalisierung, die keine Volltextsuche gezielt nach Wörtern ermöglicht. Zusätzliche Suchoptionen, mit Suchmaske und entsprechenden Kombinations- und Trunkierungsmöglichkeiten, gibt es also keine. Leider wird auch der Quellentext, in dem man sich gerade befindet, nicht über eine Leiste angezeigt (ein zusätzliches kleines Bildfenster hätte sich angeboten); er erscheint nur über der ersten faksimilierten Seite. Damit ist die Orientierung erheblich erschwert.
An die zwei Register, mit ihren jeweiligen Seitenverweisen auf die Texte, schließen sich ein »Verzeichnis der in den Registern vorkommenden Abkürzungen« sowie »Anmerkungen zu wichtigen Personennamen« an. Darin werden alle historischen, in den Texten Brauns vorkommenden Personennamen sparsam, mit nur wenigen Zeilen, biographisch kommentiert. Da der Autor durchweg auf die Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) oder noch ältere, oftmals zeitgenössische Nachschlagewerke wie Jöcher und Meusel zurückgreift, sind viele Angaben für den Kenner unbrauchbar, in dieser Form eigentlich überflüssig. Die abschließende elfte Abteilung bietet einen kurzen »Schriften- und Abbildungsnachweis«.
Die Texte Brauns sind teils vollständig (Abhandlungen, Lehrschriften, lobenswerterweise auch die Dramen), teils, vor allem bei umfangreicheren Werken, nur in kürzeren Auszügen übernommen. Derartige Kürzungen sind allerdings nicht zu rechtfertigen, wenn man schon die Werke eines Autors auf CD-ROM präsentiert. Keck erklärt dazu im Vorwort, wenig überzeugend: »Es wurde bei der Auswahl und gelegentlichen Kürzung der Texte darauf geachtet, dass durch die so vorgenommene Zusammenstellung dem Urteil des Lesers grundsätzlich nicht vorgegriffen wird.« (unpag.)
Resümee: Gemessen am Preis und den gegebenen Rahmenbedingungen lässt sich die CD-ROM, trotz aller Mängel, positiv bewerten. Sie ist relativ schnell und einfach zu benutzen, hat allerdings erheblich eingeschränkte Benutzungsoptionen. Sinnvoll und wünschenswert sind derartige Hybrid-Editionen mit der Erfassung und Präsentation großer Textmengen gerade für jene nicht-kanonisierten Autoren und Autorinnen, deren Werke niemals faksimiliert, mikrofichiert und neu gedruckt wurden. Insbesondere für die interdisziplinäre Aufklärungsforschung könnte dies ein erheblicher Gewinn sein. Allerdings sollten einige Mindeststandards beachtet werden: Die vollständige Werkerfassung ist anzustreben (wenn nicht, dann nur vollständige Texte, um den subjektiven Faktor der Kürzung auszuschließen) und die Digitalisierung als Schrift ist notwendig, um zum einen die Lesbarkeit zu erhöhen und zum anderen optimierte Orientierungshilfen, die für die wissenschaftliche Erschließung und Analyse fruchtbar gemacht werden können, anzubieten.
Wilhelm Haefs (München)
Dr. Wilhelm Haefs
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3/RG
80799 München
wilhelm.haefs@germanistik.uni-muenchen.de