ÜBER DEN ÄSTHETISCHEN BEGRIFF DES SPIELS ALS LINK ZWISCHEN TRADITIONELLER TEXTHERMENEUTIK, HYPERFICTION UND COMPUTERSPIELEN
Man muß zuweilen wieder die Wörter untersuchen, denn die Welt kann wegrücken, und die Wörter bleiben stehen. Also immer Sachen und keine Wörter![1]
Abstract
Departing from an aphorism by G. Ch. Lichtenberg - that words stand still while the world designated by them moves on and that therefore words ought to be reexamined periodically for their adequacy vis-à-vis the new realities - the essay explores the term ›Spiel‹ (›play‹/›game‹) for its possible potential as a key-concept linking post-kantian Aesthetics, Gadamer’s Hermeneutics and Iser’s Reader-Response Criticism as analytical tools for the new artistic genres of electronic hyperfiction and computer games. Tracing the history of the term ›Spiel‹ as it oscillates between an abstract figurative meaning as a purely mental interplay between the different cognitive faculties and its reference to concrete performative acts in a leisurely purposeless mood the authors show their branching out into an outright dichotomy in the post-kantian Aesthetics and they postulate the re-convergence of the two meanings in the new artistic forms of literary hyperfictions and computer games.
Verfolgt man die gegenwärtigen Theoriediskussionen um die Neuen Medien, insbesondere im Zusammenhang mit Netzliteratur‚ Netzkunst oder ›Hyperfiction‹, ruft sich der Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs aus den Sudelbüchern auf Schritt und Tritt in Erinnerung. Ob jeweils von Text oder Bild die Rede ist, ob von Autor oder Werk, von Leser oder Betrachter, von Literatur oder Kunst, immer stellt sich dieselbe Frage, ob ein ›Text‹ wirklich noch ein Text, ein ›Autor‹ ein Autor, ein ›Leser‹ ein Leser sei. Die »Welt« der Bild- und Wortkünste und der ästhetischen Wahrnehmungen ist im Einzugsbereich der neuen interaktiven Medien weit von ihren bisherigen, vertrauten Ordnungsstrukturen weggerückt oder steht noch immer mitten in Wandlungsprozessen drin, deren schließliche Gestalten kaum abzuschätzen sind, während die »Wörter« im Wesentlichen dieselben geblieben sind.[2] Dabei ist es nahe liegend, davon auszugehen - denn dies ist der Regelfall -, dass die »Untersuchung der Wörter« im Sinne Lichtenbergs darauf hin auszurichten wäre, ob die »Wörter« den neuen »Sachen« denn noch angemessen seien, oder ob sie auf längst verschwundene Welten zielen. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall, dass die »Wörter« erst durch die neuen »Sachen« eine ihnen bereits früher inhärente Bedeutung (zurück)erhalten, die sie in den bisherigen Verwendungszusammenhängen nicht (mehr) entfalten konnten. Dieser letztere Fall scheint auf den Begriff des ›Spiels‹ im Zusammenhang mit den Neuen Medien, der Entstehung digitaler Literaturformen wie etwa der Hyperfiction und den immer vielfältigeren Arten von Computerspielen zuzutreffen.
Nun zeichnete sich der Spielbegriff bereits vor diesen neuen Wirklichkeiten keineswegs durch semantische Klarheit und Eindeutigkeit in seinen Gegenstandsbenennungen aus, sondern deckte ein diffuses Feld unterschiedlichster Phänomene ab: Stefan Matuschek zählte im Grimmschen Wörterbuch, dessen maßgeblicher Band 10 bereits 1905 erschien, für das Substantiv ›Spiel‹ »unter 23 Bedeutungsvarianten insgesamt 132, für das Verb ›spielen‹ unter 22 Varianten insgesamt 215 verschiedene Verwendungsmöglichkeiten« nach und stellte das Eingangskapitel zu seinem Buch Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel dementsprechend unter den Titel »Spieltheorie - Ein modischer Passepartout?«.[3] Thomas Anz streicht unter Hinweis auf Sätze wie jenen von Jean Baudrillard, wonach die »gesamte Realität zum Spiel der Realität übergegangen« sei, die spezifisch »postmoderne Konjunktur des Spiel-Begriffs« heraus, die er freilich inzwischen für passé hält: »Über die postmoderne Spielkultur spricht man mittlerweile längst in der grammatischen Form der Vergangenheit; sie ist zu einem in historische Distanz gerückten Phänomen geworden.« Immerhin gelte nach wie vor: »Der Begriff ›Spiel‹ war und bleibt eine Art Joker, der sich in der Auseinandersetzung zwischen literaturtheoretischen Gegnern universal einsetzen läßt«, denn die »Vergleiche und Gleichsetzungen von Literatur und Spiel sind älter als die Postmoderne und werden sie überdauern«.[4] Dabei »changiert« - so Matuschek - »die Verwendung von ›Spiel‹ für die Literatur insgesamt zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung, so wie die Trennung zwischen beiden auch in der gemeinsprachlichen Semantik von Spiel verwischt.«[5] Die Rede von ›Literatur als Spiel‹ lebe »überhaupt von der Spannung zwischen der reichen konkreten Anschauung und den daran anschließenden Übertragungs- und Abstraktionsversuchen«, lebe »von den vielen lebensweltlichen Erscheinungen, die Spiel heißen, und deren Analogieangeboten für die Deutung der Literatur«.[6]
In den folgenden Überlegungen soll der Spielbegriff weder einmal mehr in seiner »Joker«-Funktion ausgespielt noch als »Passepartout« eingesetzt, sondern gerade dieses diffus ubiquitäre Vergleichs- und Gleichsetzungsverhältnis von Spiel und Literatur (oder Kunst allgemein) einer nähern Überprüfung unterzogen werden. Denn - so lässt sich postulieren - es ist die Verhältnisbildung des Vergleichs beziehungsweise der Gleichsetzung von Literatur oder Kunst mit Spiel, welche mit den neuen interaktiven Medien einen entscheidenden Wandel erfahren hat und wo begriffsgeschichtliche Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert tangiert sind. Dementsprechend müssen diese beiden Operationen von Vergleich und Gleichsetzung näher betrachtet und begriffsanalytisch auseinander gerückt werden.
Das Grimmsche Wörterbuch hält als allgemeine Bedeutung des Spielbegriffs seine Bezeichnung für eine »thätigkeit« fest, »die man nicht um eines resultats oder eines praktischen zweckes willen, sondern zum zeitvertreib zur unterhaltung und zum vergnügen übt [...].«[7] Begriffsgeschichtlich von Bedeutung ist die anschließende historische Präzisierung, ›Spiel‹ werde
[...] zunächst nur von menschen und thieren gesagt; doch finden sich in der neuern sprache zahlreiche gebrauchsweisen, wo ›spiel‹ auch unpersönlichen subjecten zugeschrieben wird. die belege reichen indessen nicht über das 18. jahrh. zurück. der sinn des wortes ändert sich insofern, als der begriff der unterhaltung, des vergnügens dabei fortfällt; es bleibt also im allgemeinen die vorstellung einer zwecklosen, zumeist regellosen bewegung, doch wird zuweilen auch diese aufgegeben.[8]
In diesem Zuge werde der Begriff auch »auf die seelisch-geistige sphäre übertragen«.[9] Entwicklungsgeschichtlich ist also offenbar davon auszugehen, dass der Spielbegriff ursprünglich im Wesentlichen an ein Vorstellungsfeld von performativen oder kommunikativen Akten mit entsprechenden Akteuren gebunden war, und dass er sich erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zum Abstraktvorgang einer nicht weiter zweckgerichteten Bewegung überhaupt oder im übertragenen Sinne einer geistig-seelischen Bewegung erweiterte. Damit spaltet sich der Spielbegriff in die zwei Bedeutungsfelder eines wie bis anhin performativ-kommunikativen und eines figurativen Vorstellungsgehalts auf.
Für die Weiterentwicklung des Begriffs im Bereich der Ästhetik und Kunsttheorie ist dabei Immanuel Kants Verwendung von ›Spiel‹ in seiner Kritik der Urteilskraft in der »Analytik des Schönen« von entscheidender Bedeutung. Denn hier rückt in § 9 mit der Bestimmung des ästhetischen Empfindens als »eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen«[10] die figurative Bedeutung von ›Spiel‹ im Sinne eines ausschließlich inneren, mentalen Vorgangs ganz stark in den Vordergrund:
Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Also muß der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung, und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt.[11]
Die ästhetische Lust geht dementsprechend nicht etwa von der Beobachtung einer äußeren Harmonie oder Vollkommenheit des angeschauten Objekts aus, vielmehr liegt »der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen«.[12] Auch die »redenden Künste« der Rhetorik und der Dichtkunst stehen in der »Einteilung der schönen Künste« in § 51 unter diesem figurativen Begriffsverständnis von ›Spiel‹ als eines mentalen Vorgangs: »Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen.«[13] Damit hat der Spielbegriff bei Kant im Bereich der Dichtkunst jene früheren Vorstellungsgehalte verloren, wie sie ihn in der humanistischen und barocken Tradition etwa des Petrarkismus und Manierismus noch bestimmten: Der Sprachspiele, des Spiels der rhetorischen Figuren und intertextuellen Anspielungskünste, der Gesprächsspiele als performativ-kommunikativer Form gesellschaftlicher Unterhaltung. ›Spiel‹ bei Kant ist in rein figurativer Abstraktion »der reflexive Prozess, in dem sich der Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand harmonisch vereint genießt«, ist »belebende[r] Selbstbezug der Erkenntniskräfte«.[14]
Demgegenüber erhält der Spielbegriff bei Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit dem berühmten Satz: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«[15] eine geradezu totalisierende kulturanthropologische Bedeutung. Mit der Postulierung eines ›Spieltriebs‹ als dritter, vermittelnder Kraft zwischen dem von Vernunftgeboten gelenkten ›Formtrieb‹ und dem von sinnlichen Bedürfnissen gesteuerten ›Stofftrieb‹ und mit dessen Situierung in einer sozialen Geselligkeitskultur scheint der ästhetische Spielbegriff auch seine performativ-kommunikative Dimension zurückzugewinnen. Allerdings macht ihn Schillers Definition per negationem dann doch wieder zu einem weit gehenden Formalabstraktum, wenn es im fünfzehnten Brief heißt: »Diesen Namen [des ›Spieltriebs‹] rechtfertigt der Sprachgebrauch vollkommen, der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt.«[16] ›Spiel‹ ist hier die Nullstelle im Indifferenzpunkt von Polaritäten wie Freiheit/Notwendigkeit, Subjekt/Objekt, Innen/Außen und damit ein Ort der Absenz. Und auch die ästhetisch-spielerische Geselligkeitskultur erweist sich zum Schluss mehr als utopisches Wunschbild denn als reale Form des Spielverhaltens: »Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden [...].«[17]
Wie tief indessen die Kluft zwischen einem figurativen Spielbegriff in der ästhetischen Theoriebildung und einem performativen Spielbegriff selbst heute noch gedacht werden kann, belegt Ruth Sondereggers kürzlich erschienenes Buch Für eine Ästhetik des Spiels, worin sie ihre Theorie des »spezifisch ästhetischen Spiels« als Kern der ästhetischen Erfahrung entschieden von Unternehmungen abgrenzt, »die Huizingas und Caillois' Kulturtheorien des Spiels auf das Feld der Ästhetik zu übertragen versucht haben«.[18] Dies,
[e]rstens weil diese Übertragungen äußerlich bleiben und zweitens weil sie von schwer zu erweisenden anthropologischen Vorannahmen über den Menschen als spielendes Wesen leben. Damit hängt auch zusammen, dass diese Ansätze zu keinem ästhetischen Spiel kommen, allenfalls zu einer bestimmten Intensität nichtästhetischer Spiele in Kunstwerken.[19]
Ein Blick auf die neuen interaktiven Medien und die in ihnen geübten Kunst- und Literaturpraxen zeigt nun freilich, dass der Versuch einer strikten Aufrechterhaltung der Grenzziehung zwischen dem ästhetischen Spiel und dem nicht-ästhetischen Spiel zumindest in diesen Medien höchst problematisch geworden ist. In begriffsgeschichtlicher Perspektive der skizzierten Entwicklung lässt sich daher vermuten, dass sich die im 18. Jahrhundert herausbildende Dichotomisierung zwischen einem lebensweltlich kulturellen performativ-kommunikativen Spielbegriff und einem ästhetisch-figurativen mit den neuen Kunst- und Literaturformen brüchig geworden ist und dass sich eine erneute Begriffsverschiebung des Spielbegriffs vom Figurativen zum Performativen abzeichnet.
Ästhetisch betrachtet zeichnet sich Internetliteratur weniger durch radikal neue literarische Textformen aus, als dass sie neue Schreib- und Lektüreweisen und ein neues Autor-Text-Leser-Verhältnis einführt. Dabei wird der Ort des literarischen ›Theaters‹ aus dem Innenraum mentaler Prozesse in den äußern Interaktionsraum sensoriell-motorischer Wahrnehmungs- und Selektionshandlungen verlagert. Aus der stillen Kontemplationslektüre mit ihrem rein innerlichen ›Spiel‹ der Gemütskräfte wird die bewegte Performance-Lektüre einer interaktiven Spielhandlung im Austausch mit dem Bildschirmtext beziehungsweise dem Computerprogramm. So kann zum Beispiel die über unterschiedliche Typen von Verknüpfungen hergestellte Variations- und Permutationsstruktur eines Hypertexts neben ihrer unmittelbar fassbaren Funktion des Angebots verschiedener narrativer Parcours durch ein Handlungs- oder Ereignisgeschehen auch als externalisierte Bereitstellung eines mehrfachen Schriftsinns betrachtet werden, wie ihn der traditionelle Leser in der Textdeutung gemäß den hermeneutischen Grundregeln aus seinem kulturellen Repertoire innerlich abruft und mental durchspielt. Die Spielform des Hypertexts beziehungsweise seine Verschmelzung mit Adventure Games kann so als Externalisierung des hermeneutischen Prozesses des Verstehens als Hin und Her eines inneren Sinngebungsentwurfs und seiner laufenden Anpassungen beziehungsweise Abwandlungen in der fortschreitenden Lektüre in den Außenraum eines interaktiven Geschehens zwischen Bildschirmleser und Computer(-Programm) gesehen werden. Damit ›entmetaphorisiert‹ sich auch die Rede vom Spielcharakter des Verstehensprozesses im Sinne Gadamers und der Rezeptionsästhetik. Dies soll im Folgenden näher ausgeführt werden, indem die Spielkonzepte Hans-Georg Gadamers und Wolfgang Isers an Adventure Games und Hyperfictions herangetragen werden.
Wenn wir im Zusammenhang der Erfahrung der Kunst von Spiel sprechen, so meint Spiel nicht das Verhalten oder gar die Gemütsverfassung des Schaffenden oder Genießenden und überhaupt nicht die Freiheit einer Subjektivität, die sich im Spielen betätigt, sondern die Seinsweise des Kunstwerkes selbst.[20]
Der Spielbegriff, den Gadamer in Wahrheit und Methode zur Charakterisierung des Kunstwerks entwickelt, setzt phänomenologisch bei einem vor-subjekthaften Verständnis an: Die zunächst rein ontologische Funktion des Spiels, sei es nun das Spiel der Mücken, der Wellen oder seien es menschliche Spiele, erschöpft sich – insofern das Spiel ein »universaler Seinsaspekt der Natur«[21] ist – in reiner, zweckfreier Selbstdarstellung. Gadamer legt die Emphase auf den ästhetischen Aspekt des Kunstwerks, sei es nun ein Gemälde oder ein literarisches Werk, und scheint somit an die Tradition der ästhetisch-figurativen Verwendung des Spielbegriffs im 18. Jahrhundert anzuknüpfen. Indem der Hermeneutiker aber ein dynamisches Textmodell entwickelt, beziehungsweise dieses an einen performativen Spielbegriff anbindet, wird diese Linie durchbrochen. Gadamers Spielkonzept, so abstrakt und autonom es einerseits anmutet, wird nämlich andererseits durch eine ambige Grundstruktur, die Struktur des ›Hin und Her‹ definiert. Diese Bewegung – als ursprünglicher Naturvorgang verstanden – ist zunächst ziellos, zweckfrei und in ständiger Wiederholung begriffen und charakterisiert das ›subjektlose‹ Spiel wie auch das sich selbst darstellende Kunstwerk. Die Bewegung des Hin und Her erhält aber – und hier setzt der Bruch mit der figurativen Verwendung des Spielbegriffs bei Gadamer ein – eine kommunikative Konnotation, wenn im »hermeneutischen Gespräch« das Kunstwerk in seine vollendete Form, das »Gebilde«, verwandelt wird.[22]
Das Spiel ist Gebilde – diese These will sagen: seinem Angewiesensein auf das Gespieltwerden zum Trotz ist es ein bedeutungshaftes Ganzes, das als dieses wiederholt dargestellt und in seinem Sinn verstanden werden kann. Das Gebilde ist aber auch Spiel, weil es – dieser ideellen Einheit zum Trotz – nur im jeweiligen Gespieltwerden sein volles Sein erlangt.[23]
Das »Gebilde« ist ein Kunstwerk, welches durch eine gewisse Formfixiertheit definiert ist – wie sie zum Beispiel einen literarischen Text, nicht aber eine Sandburg auszeichnet – und daher wiederholt befragt oder gespielt werden kann. Es ist autonom, grundsätzlich subjektunabhängig, erlangt seine Bestimmung letztlich aber erst durch das Gelesen- beziehungsweise Gespieltwerden. Für den interpretativen Zugang zu einem literarischen Werk bedeutet dies, dass im Hin und Her zwischen Werk und Leser eine Verständigung prinzipiell als möglich erachtet wird, beziehungsweise der Verstehensprozess an diese Bewegung gekoppelt ist.
Auch zwischen den Partnern dieses ›Gesprächs‹ [des »hermeneutischen Gesprächs«, Verf.] findet wie zwischen zwei Personen eine Kommunikation statt, die mehr ist als bloße Anpassung. Der Text bringt eine Sache zur Sprache, aber daß er das tut, ist am Ende die Leistung des Interpreten. Beide sind daran beteiligt.[24]
Von dieser Dialektik ist der Autor gänzlich ausgeschlossen, da es nicht um die Rekonstruktion von historischen Sinnkonstrukten von Autoren, sondern um den Verstehensprozess an sich geht. Insgesamt bedeutet das für Gadamers Text- und Spielkonzept, dass sich die bedeutungshafte Einheit des Textes mit seiner thematisierten Autonomie des Spiels deckt, es aber vom Prozess des Verstehens abhängt, inwiefern der Sinn entschlüsselt werden kann; dafür wiederum ist hauptsächlich der Leser zuständig.
Der Spielbegriff Gadamers wird auf Grund seiner dualen, sowohl ästhetisch-figurativen als auch performativ-kommunikativen Bestimmung einmal zum Vergleich, dann wieder zur Gleichsetzung an sein Textkonzept herangezogen. Die Hin-und-Her-Struktur des Textes, welche ihn im Hinblick auf eine kommunikative Verständigung mit dem Leser öffnet, verweist auf rezeptionsästhetische Verstehensmodelle, wie sie von Wolfgang Iser in Der Akt des Lesens weiter vorangetrieben werden.
Die tiefe Kluft, die sich gemäß Ruth Sonderegger zwischen einem figurativen und einem performativen Spielbegriff noch immer auftut, wird bei Gadamer ansatzweise überbrückt, indem er in Bezug auf ein Textkonzept die ästhetische Dimension einer vorsubjektiven Seinsmodalität des Textes und die pragmatische Dimension einer kommunikativen Verständigung des Textes mit dem Leser einführt. Expliziter fassbar noch wird die Verschmelzung eines performativ-kommunikativen Spielkonzepts mit einem ästhetischen Textbegriff und vice versa in den Arbeiten von Wolfgang Iser.
Isers Diskussion des Spielbegriffes nimmt in seinen theoretischen Ausführungen einen größeren Platz ein, als dies bei Gadamer der Fall ist: Iser sieht Spiel »[...] as an umbrella concept to cover all the ongoing operations of the textual process.«[25] Diese Schlüsselposition gebührt dem Spiel bei Iser nicht zuletzt deswegen, weil die über den Spielbegriff hergeleitete Literaturtheorie in Das Fiktive und das Imaginäre einem nicht geringeren Anspruch als dem der Neu- oder Wiederverortung der Literatur entspringt – dies zu einem Zeitpunkt, da die Literatur viele ihrer ursprünglichen Funktionen – »von der Unterhaltung über Information und Dokumentation bis hin zum Zeitvertreib«[26] – an andere Medien abgetreten habe. Eine Re-Positionierung der Literatur ist für Iser nur von einem anthropologischen Standpunkt aus möglich: Literatur, welche als Medium die »[...] ›Macht der Mimesis‹ sozialer Verhältnisse«[27] kennt, trägt, so der Autor, einen großen Teil dazu bei, die Realität des Menschen und damit auch den Menschen selbst zu formen.
Ausgehend von diesem anthropologischen Ansatz geht es Iser darum, ein Textmodell zu entwerfen, bei welchem die Elemente seiner Methodik sowohl allgemeinmenschliche Dispositionen als auch spezifisch literarische Konstituenten sein sollen: Dies gilt sowohl für das Fiktive als auch das Imaginäre. Von der lebensweltlichen Perspektive her sind das Fiktive und das Imaginäre alltägliche Erfahrungen, die sich zum Beispiel in Tagträumen, Träumen, Halluzinationen und Lügen niederschlagen – soweit die anthropologischen Anleihen. Als literarische Komponenten sind das Fiktive und das Imaginäre ontologisch schwer zu charakterisieren, wie Isers Definitionen zeigen.[28] Das Fiktive und das Imaginäre können erst im Kontext beziehungsweise in der Art und Weise, wie sie in einem Textmodell (inter)agieren, Bedeutung erlangen. Dies wird anhand der Figur des Spiels nachvollzogen: »[F]olglich wird Spiel zur Struktur, die das Ineinander von Fiktivem und Imaginärem reguliert.«[29]
Die Art und Weise, wie das Reale als Fiktives und Imaginäres in einem fiktionalen Text aufscheint, ist performativer Natur und wird Akt des Fingierens genannt.[30] Als zentral für die Akte des Fingierens – es gibt deren drei – erweist sich der Topos der Grenzüberschreitung: Die Grenze stellt hinsichtlich des ›Transfers‹ von Realem in den literarischen Text diejenige zwischen der außer- und der innertextuellen Welt dar; der dazugehörige Akt wird als Selektion bezeichnet. Durch die Grenzüberschreitung lässt sich eine Doppelungsstruktur erkennen; so erscheint bei der Selektion, wie oben bereits angesprochen, das Bezugssystem der Außenwelt in der Textwelt. Die anderen beiden Akte des Fingierens werden Kombination und Selbstanzeige genannt. Bei der Kombination lassen sich durch mögliche Beziehbarkeiten der Textelemente zueinander, zum Beispiel auf der semantischen Ebene, innertextuelle Grenzüberschreitungen und Spielebenen sichtbar machen. Die Selbstanzeige ist die Kennzeichnung des Als-Ob,[31] der Fiktionalität des Textes; sie lässt eine Doppelung beziehungsweise Spaltung der Einstellung des Lesers in eine ›natürliche‹ und eine ›künstliche‹ aufscheinen. Geht ein Leser folglich davon aus, dass ein bestimmter Text nicht fiktional sei, bildet er sich eine ›natürliche‹ Meinung; wird ihm darauf durch den Text dessen Fiktionalität signalisiert, wird die modifizierte Einstellung des Lesers eine ›künstliche‹ sein. Außerdem macht die Selbstanzeige die Differenz zwischen der fiktionalisierten und der ›realen‹ Welt augenscheinlich und bringt so eine zweite Doppelungsstruktur hervor.
Welche Position in diesem Textmodell nimmt nun aber das Spiel ein? Iser knüpft da an, wo auch Gadamer seine entscheidende Spielbestimmung festgemacht hat, nämlich in der zweckfreien Spielbewegung des Hin und Her. Diese Bewegung findet sich zunächst in der Doppelungsstruktur des Fiktiven. Diese wiederum äußert sich in den Akten des Fingierens, die, indem sie eine Grenze markieren, jeweils einen Spielraum eröffnen – einen Spielraum, worin sich die selegierten und kombinierten Elemente aufeinander beziehen, einander negieren oder, durch die Selbstanzeige des Als-Ob, ›irrealisiert‹ werden.[32] Dadurch, dass Textelemente aus ihren Kontexten herausgerissen und neu organisiert werden, scheinen immerfort neue Bezugsmöglichkeiten auf, welche dann, in einem Hin und Her von Vergangenem und Zukünftigem, Realem und Möglichem, ein Spiel konstituieren: »Gerade weil immer beides parat gehalten wird, entsteht eine Koexistenz verschiedener Diskurse, die ihre jeweiligen Kontexte als ein Spiel wechselseitigen Auf- und Abblendens entfalten.«[33]
Die Akte des Fingierens entwickeln in der Bewegung des Hin und Her ein Spiel. Wie oben angedeutet, ist dieses Spiel jedoch nicht isoliert vom Fiktiven und Imaginären zu betrachten, sondern zeigt sich konstitutiv für deren Zusammenspiel:
Durch das Eröffnen von Spielräumen stellt das Fiktive Imaginäres unter Formzwang. [...] Formzwang heißt dann, dem Imaginären als einem Unbestimmten Bestimmungen aufzuerlegen, was bestenfalls als ein differenzielles Bestimmen über unterschiedliche Kontextualisierungen möglich sein dürfte.[34]
Das Fiktive aktiviert das Imaginäre, welches die leeren Spielräume auffüllt und so aus der potentiellen Vielheit in eine konkretisierte Form überführt wird.
Die Verwendung des Spielbegriffs zur Charakterisierung von Textstrukturen im Vergleich mit menschlichen Dispositionen bezeichnet bislang rein innertextuelle Dimensionen und markiert daher eher einen abstrakten Umgang mit anthropologischen Ansätzen. »[...] [D]aß das Hin und Her nicht nur als isolierte Bewegung im Text spielt, sondern noch einmal zwischen dem Text und dem Leser«,[35] verdeutlicht jedoch, dass das anthropologische Textmodell in Das Fiktive und das Imaginäre in engem Zusammenhang mit dem interaktiven Textkonzept, welches Iser bereits 1976 in seinem Werk Der Akt des Lesens entwickelt hat, gesehen werden kann, und dass der Spielbegriff nicht nur innertextuelle Dispositionen, sondern die basale Beziehung zwischen Text und Leser bezeichnet.
Sub specie hominum ist Isers Ansatz [...] ein free-style-Programm im Sinne einer autonomen Realisation, gemäß dem antiken Motto: variatio delectat.[36]
Um ludische Textstrukturen und den spielerischen Charakter des Verstehensprozesses in einem Adventure Game aufspüren zu können, muss zunächst das rezeptions- beziehungsweise wirkungsästhetische Instrumentarium kurz rekapituliert werden:
Isers wirkungsästhetische Untersuchungen fokussieren - im Gegensatz zum eher historisch orientierten rezeptionsästhetischen Ansatz von H.R. Jauß - auf die Wirkung, welche textimmanente Strukturen im Akt der Wahrnehmung und der Vorstellungsbildung auf den Leser ausüben können. Sein Textualitätsbegriff ist denn auch eher an strukturellen denn an semantischen Elementen orientiert und gewichtet als ausschlaggebendes Moment für das Textverständnis insbesondere die interaktive Beziehung zwischen Leser und Text: Der fiktionale Text als literarisches Werk konstituiert sich aus der Interaktion zwischen dem von einem Autor geschaffenen Text (künstlerischer Pol) und der vom Leser geleisteten Konkretisation (ästhetischer Pol). Dieses Interaktionskonzept basiert auf einem ästhetischen Akt: Es besteht ein Unterschied zwischen dem »›materiellen Artefakt‹, also dem realen Bild, Buch [...] und dem ›ästhetischen Objekt‹, das nur als menschliche Interpretation des realen Gegenstandes existiert.«[37] Dieser Akt findet im Bewusstsein des Lesers statt und ist daher virtuell, das heißt die Konkretisation, das individuelle literarische ›Werk‹, das sich jeder Leser selbst erschafft, ist nicht materiell, sondern über Wahrnehmungs- und Vorstellungsmodi fassbar.[38]
Ausgehend von einer Analogie zur lebensweltlichen Kommunikationssituation – mit dem Unterschied, dass der Text den Bezugsrahmen, welcher in einem Face-to-Face-Gespräch situationsgemäß gegeben ist, in sich enthalten muss – hält Iser zunächst drei Mechanismen fest, welche zu einer Verständigung zwischen den Gesprächspartnern (hier: Text und Leser) gegeben sein müssen: Es sind dies das Repertoire, die Strategien und die Realisation.
Noch immer im Vergleich mit einem Alltagsgespräch beruft sich Iser zunächst auf den Aspekt der Konventionen, welche den Gesprächspartnern zur einer optimalen Verständigung bekannt sein müssen. Die Konventionen eines Textes werden von Iser als Repertoire, als ›Materialfülle‹ bezeichnet, die sich aus außertextuellen Normenkomplexen und literarischen Anspielungen zusammensetzt.[39] Es trägt dazu bei, den Referenzrahmen einer sozialen Interaktion zu simulieren und teilt dem Leser Hintergrundinformationen über die in einem Werk dargestellten Verhältnisse zwischen Subjekt und Wirklichkeit mit. Überdies hat das Repertoire bei Iser die Funktion, den kritischen Leser auf Grund der teils deformierten oder negativierten Inhalten zur Reflexion zu animieren.
Weitere Gesprächsprozeduren sind Mechanismen, die ein Gespräch steuern (zum Beispiel Turn-Taking) und welche von beiden Partnern akzeptiert sein müssen – diese werden als Strategien bezeichnet. Strategien sind die das Repertoire strukturierende Matrix: Sie zeichnen die Kombinationsmöglichkeiten der Repertoire-Elemente untereinander vor und stiften Beziehung zwischen dem Repertoire und dem Leser. Grundlegende strukturierende Funktion werden dabei den Darstellungsperspektiven und der Thema-Horizont-Struktur zugeschrieben.
Die Darstellungsperspektiven stellen die erste Stufe der Kombination von selegierten Repertoire-Elementen dar. Es sind in der Regel deren vier, »die Perspektive des Erzählers, die der Figuren, die der Handlung beziehungsweise Fabel (plot) sowie die der markierten Leserfiktion.«[40] Durch diese vier Perspektiven ergibt sich ein Netz von Bezügen. Diese Konstellation kann mit dem Konzept des Hypertextes assoziiert werden, welches ebenfalls mit verschiedenen Schichten und Verknüpfungen, Links, spielt. Wiederum zeigt sich der Spielbegriff als wegweisend, was das Verhältnis der einzelnen Strukturelemente eines fiktionalen Textes zueinander und zum Textganzen betrifft: »So entsteht der ästhetische Gegenstand aus dem Spiel dieser ›Innenperspektiven‹ des Textes.«[41]
Die dargestellte Innenperspektivik mit den Komponenten Erzähler, Figur, Plot und Leserfiktion bildet den Rahmen für die Kombination der selegierten Elemente des Repertoires; diese Kombination wird durch eine bestimmte Struktur, durch die Struktur von Thema und Horizont, definiert. Diese »regelt zunächst die attentionalen Zuwendungen des Lesers zum Text, dessen Darstellungsperspektiven weder nacheinander noch parallel entrollt werden, sondern sich in der Anlage des Textgewebes durchschichten.«[42] Die Struktur erweist sich als die eines Hypertextes, ohne dass aber eine tatsächliche Markierung durch Links vorhanden wäre: Der wandernde Blickpunkt des Lesers, welcher in einem Printtext praktisch linear – in der lateinischen Schrift vom oberen bis zum unteren Seitenrand – verlaufen muss, verweilt immer auf dem Thema (man spricht dort von Thema, wo sich die Eye-Voice Span[43] des Betrachters befindet).[44] Das soeben Gelesene wird zum Horizont, einem Ort des Bewusstseins, welcher alle aufgenommenen Leseeindrücke speichert. Thema und Horizont sind keine festgelegten Parameter; die Leseeindrücke flottieren hin und her. Im Leseakt eines interaktiven und multimedialen Fiktionaltextes wie dem Adventure Game verweist diese Struktur nicht nur auf mentale Prozesse, sondern äußert sich im performativen Hin- und Her-Navigieren auf der Text- beziehungsweise Bildschirmoberfläche als Doppelung auf der Ebene des Mediums.
Äußert sich der Verständigungsakt zwischen Text und Leser als interaktives Zusammenspiel zwischen zwei theoretisch gleichberechtigten Partnern, so sind mit Repertoire und Strategien zwei Dispositionen des einen künstlerischen Pols, nämlich des Textes, bekannt. Um das ›literarische Werk‹ in diesem Zusammenspiel aber erst entstehen zu lassen, braucht es, ebenso wie für Gadamers Verwandlung des Kunstwerks ins »Gebilde«, die Beteiligung eines Subjekts. Diese Beteiligung, die zu leistende Konkretisation durch den Leser, wird bei Iser Realisation genannt und zeichnet sich durch einen assoziativ-unbewussten Charakter aus: Schweift der Blickpunkt des Lesers in der Thema-Horizont-Struktur über den Text, wird der Prozess des Perspektivenwechsels oder der Neueinstellung des Blickpunkts über den Weckungsstrahl geregelt: Im Spiel von Erwartung (Protention) und Erinnerung (Retention) wird der Leser durch Begriffe oder Konzepte im Text an Vorangegangenes erinnert, welches nun verfremdet wieder auftaucht, da es aus seinem ursprünglichen Kontext herausgerissen wird. Damit modifiziert sich gleichsam die Erwartungshaltung dem zukünftigen Fortgang der Geschichte gegenüber; das Sinnkonstrukt, das sich der Leser im bisherigen Verlauf der Lektüre gebildet hat, wird abgewandelt.
Die Dynamik des Iserschen Textmodells wird durch die Multiperspektivität des Textes ermöglicht; angetrieben wird sie jedoch durch den Umstand der Asymmetrie, welche zwischen den Interaktionspartnern besteht und die auf das Fehlen einer gemeinsamen Kommunikationssituation und eines gemeinsamen Bezugrahmens zurückzuführen ist. Dieser Mangel aber ist die eigentliche Antriebskraft der Interaktion: In der Dialektitk von Zeigen und Verschweigen,[45] welche notgedrungen eine solche Situation definiert, gibt es Unbestimmtheitsstellen,[46] die Iser Leerstellen nennt. Der Dialog wird durch diese Leerstellen, welche die Kommunikationspartner auszufüllen versuchen, in Gang gesetzt, was sich im Text folgendermaßen ausdifferenziert: »Die Leerstellen sparen die Beziehungen zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes aus und ziehen dadurch den Leser zur Koordination der Perspektiven in den Text hinein.«[47]
Die Terminologie Isers, welche die Leerstellen als »Gelenke des Textes«, als »gedachte Scharniere der Darstellungsperspektiven«[48] beschreibt, offenbar eine Parallele zu hypertheoretischen Begrifflichkeiten; auch der Link ist eine Verknüpfung, ein Gelenk, ein Verbindungsstück, das der Leser bewusst anklicken muss, um zwei Segmente miteinander zu verbinden. Ein großer Unterschied zwischen den Vorstellungsgehalten der Rezeptionsästhetik und der Hypertext-Theorie besteht jedoch in der Differenzierung von ›virtuell‹ und ›real‹: Bezeichnen die Leerstellen »die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers«,[49] bedeutet dies, dass der Vorgang im Bewusstsein des Leser stattfindet – eben dieser Umstand verdient in der Terminologie Isers die Bezeichnung ›virtuell‹. Demgegenüber ist das Klicken mit der Maustaste und die Bewegung des Cursors auf dem Monitor eine performativ motorische Aktivität, welche hör- und sichtbar ist, und dies impliziert einen ›realen‹ Charakter dieser Aktion.
Indem im Folgenden aufgezeigt wird, wie sich diese textuellen Dispositionen in einem ludischen Text oder einem textuellen Spiel, wie ein Adventure Game bezeichnet werden kann, ausprägen, wird die gegenseitige Verwendung des Spiel- wie auch des Textbegriffs neu definiert: Funktionieren narrative Spiele wie Erzählungen und manifestieren sich außerdem zentrale, mentale Strukturen an ihrer medialen Oberfläche, dann konvergieren ästhetisch-figurative und performativ-kommunikative Kontexte, welche »Wörtern« und »Sachen« Bedeutung geben.
Das 2001 auf dem amerikanischen und europäischen Markt erschienene Computerspiel Myst: Exile ist der dritte Titel der Myst-Reihe, die 1993 mit Myst begann und 1997 mit Riven ihre Fortsetzung fand. Die Gattung der Adventure Games kann auf eine 30-jährige Tradition zurückblicken, wenn man darunter auch die textbasierten MUDs (Multi User Dungeons beziehungsweise Dimensions) zählt – auf Computernetzwerken spielbare phantastische Textumgebungen im Stile J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe, in welchen der Spieler über vordefinierte, eingetippte Sprachbefehle navigiert und kommuniziert. Aus diesen MUDs entstanden Anfang der 1980er-Jahre grafikbasierte Adventure Games – Computer- oder Videospiele, welche sich traditionsgemäß und im Vergleich zu Genres wie Action- oder Jump'n'Run-Spielen durch ein intensives Zusammenspiel von spielerischen als auch erzählerischen Aspekten auszeichnen.
Die akustisch vielfältige und grafisch opulent-fotorealistische Spielwelt wie auch die Komposition der Erzählung erzeugen in Myst III: Exile eine Spannung zwischen dramatischen und epischen Momenten. Als Serienprodukt verweist das Repertoire des Spiels mittels intertextueller Bezüge, die nicht nur formal, sondern auch thematisch von Bedeutung sind, auf seine Vorgänger.[50] Myst III: Exile handelt vom Zwist zwischen Atrus, der Hauptfigur aus beiden Myst-Vorgängern, und dem Gelehrten und einst Vertrauten Atrus', Saveedro. Atrus hatte sich, nachdem mit der Insel Riven auch ein Großteil der Urkultur der D'ni unterging – ein Volk, welches in der Kunst der Buchherstellung kundig war und dieses Wissen auch an Atrus weitergab – dazu entschlossen, ein neues Zeitalter zu schreiben: die Inselutopie Releeshahn.[51] Zur Inspiration – dies berichtet Atrus zu Beginn des Spiels in einer Videosequenz – besuchte Atrus ältere, von ihm zu einem früheren Zeitpunkt erschaffene Zeitalter; besonders J'nanin, The Lesson Age, schien ihm geeignet, als Vorbild für eine bessere Welt zu dienen. J'nanin wurde, wie es sein Beiname verrät, ursprünglich aus didaktischen Gründen, nämlich zur Erziehung seiner Söhne Sirrus und Achenar, erschaffen.[52] Von J'nanin aus führen vier Verbindungsbücher in die Zeitalter Voltaic (The Age of Energy), Amateria (The Age of Dynamic Forces), Edanna (The Nature Age) und Narayan (The Age of Balance). Atrus' Söhne, potentielle Nachfolger seiner seltenen Handwerkskunst, sollten die jeweiligen Gesetze von Voltaic, Amateria und Edanna verstehen lernen, bevor sie im als einzigen bevölkerten Zeitalter von Narayan ihre Grundausbildung vervollständigten.
Diese Vorgeschichte fand circa 25 Jahre vor den Ereignissen in Myst III: Exile statt; sie fand ihr tragisches Ende darin, dass die Brüder Sirrus und Achenar in Narayan Unfrieden stifteten und das Gleichgewicht des Zeitalters, welches auf ungewöhnlichen Natursymbiosen zwischen algenartigen Bäumen und Sporen bildenden Pflanzen beruht, empfindlich störten, so dass die Insel vom Untergang bedroht war. Saveedro, von Atrus zur Betreuung der Jugendlichen verpflichtet, reiste ihnen auf ihrer Flucht nach J'nanin nach – diese flüchteten weiter nach Myst, und zerstörten dabei ihr Linking Book, so dass Saveedro für die nächsten 25 Jahre auf J'nanin festsaß.[53]
Das Spiel beginnt nun damit, dass der Spieler – wie in Myst und Riven aus der subjektiven Perspektive (First Person View) – auf der Insel Tomahna Atrus' Gattin Catherine begegnet, welche ihn einlädt, im Studierzimmer auf Atrus zu warten, der ihm von seiner neusten Erschaffung – Releeshahn – berichten möchte. Kaum ist der Spieler in Atrus' Zimmer angekommen, springt ein fremdartig gekleideter, langhaariger Mann durchs Fenster, setzt das Zimmer in Brand und bemächtigt sich des Verbindungsbuches zu Releeshahn. Er verschwindet, nicht aber ohne ein anderes Buch und ein paar giftige Worte zu verlieren.
Durch diese Einleitung in mehreren Cut-Scenes (Atrus' Äußerungen, Unterhaltung mit Catherine und Rede Saveedros) wird der dramaturgische Bogen gleich zu Anfang gespannt. Der Spielauftrag ist klar: Das Verbindungsbuch zu Releeshahn muss wiederbeschafft werden. Mittels des Linking Books nach J'nanin – dem von Saveedro liegen gelassenen Buch – gelangt der Spieler vom Lesson Age in die Zeitalter von Voltaic, Amateria, Edanna und Narayan, wo er schließlich das Releeshahn-Buch zurückerhält. In jedem dieser Zeitalter hat der Spieler nur Erfolg beziehungsweise gelingt es ihm, die dort gestellten Rätsel zu lösen, wenn er die jeweils zu Grunde liegenden – elektrotechnischen, mechanischen oder flora- und faunaspezifischen – Gesetze kennt und anwenden kann.[54] Die Rätsel – das spielspezifische Merkmal der Adventure Games – stehen in Myst III: Exile in engem Zusammenhang mit der Erzählung und vice versa. Einerseits gelingt es auf Grund des Erzählkontextes, Rätsel zu lösen: Im Schlussrätsel auf Narayan zum Beispiel helfen unter anderem die verbalen Äußerungen und Tagebucheinträge Atrus' dabei, die verschiedenen Mantras zusammenzusetzen, um den Eisschild, der die Insel umgibt, zum Schmelzen zu bringen, was wiederum Saveedro ermöglicht, nach Hause zu gelangen und seinen Hass zu vergessen.
Andererseits tragen Rätsel dazu bei, die Erzählung weiter voranzutreiben. In jedem Zeitalter folgt auf die Lösung von Rätseln mit der Abspielung von Filmsequenzen von Saveedro beziehungsweise Atrus mehr erzählerischer Hintergrund. Zudem findet der Spieler während des Explorierens der Inseln neue Tagebuchseiten aus Saveedros Journal, welche die anfangs unbegreiflichen, mit jeder gefundenen Seite jedoch verständlicheren Taten Saveedros erhellen. Dies wiederum hat Einfluss auf die Entscheidung des Spielers am Schluss, wenn es ihm frei steht, a) Saveedros Bitte um Hilfe blind Folge zu leisten, was ihm aber eine bittere Enttäuschung beschert und ihn vor Atrus und Catherine beschämt, bevor ihn Saveedro k.o. schlägt, b) das Linking Book nach Releeshahn zu erhalten, Saveedro einzusperren und ihn sitzen zu lassen, was wiederum Atrus zu nachdenklichen, moralisierenden Sätzen verleitet, oder c) Saveedro, nach Erhalt des Releeshahn-Buches, zu seiner Familie ins gerettete Narayan zurückfliegen zu lassen – das eigentliche Happy End.
Die Schlussentscheidung von Myst III: Exile ist einer Textinterpretation, einer Konkretisation im Iserschen Sinne gleichzusetzen: Der Spieler vergleicht alle Sinnentwürfe, die er im Verlaufe des Spiels aufgestellt und wieder verworfen hat, was im Vergleich zu anderen Spielen, welche mit stereotypen Charakteren arbeiten, ein differenzierter Vorgang ist: Bis zum Schluss bleibt der Charakter des Antagonisten schillernd; gleichzeitig ist die Integrität Atrus' ebenfalls nicht durchgehend gewährleistet – es stellt sich zuweilen die Frage, ob der gottgleiche Status, welcher ihm Saveedro trotz seines Hasses verleiht, nicht maßlos übertrieben sei und ob Atrus' Mission, D'ni um jeden Preis zu retten, nicht vor allem durch Selbstbestätigung motiviert sei.
Die Handlung, die sich dem Spieler entfaltet, wird hauptsächlich durch die Figuren Atrus und Saveedro bestimmt. Der Spieler ist nicht nur außenstehender Akteur, sondern als Spielfigur gefühlsmäßig insofern in das Geschehen involviert, als er in Videosequenzen, von Atrus milde, von Saveedro teils auf heftige Art und Weise, direkt angesprochen beziehungsweise angeschrien wird, was die Identifikationsleistung gravierend beeinflusst. Das Repertoire, die Materialfülle des ›Textes‹, wird innerhalb des Spiels multimedial dargestellt: Die Geschichte rekonstruiert sich aus audiovisuellen Nachrichten über Tagebuchseiten und Höhlenmalereien bis zu den Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Welten, den Bildern und Tönen, die bei bestimmten Ereignissen aufscheinen und erklingen.
Neben dem Umstand, dass sich Myst III: Exile auf Riven, noch stärker aber auf Myst bezieht (intertextueller Aspekt des Repertoires eines Textes) und somit im Leser Erwartungen und Vorurteile geweckt werden, die seine späteren Interpretationen beeinflussen können,[55] sind noch andere Repertoire-Elemente an diesem Strukturierungsprozess beteiligt.
Der grundlegend stereotype Plot – der Held zieht aus, um das Böse zu besiegen und eine einst heile Welt wiederherzustellen beziehungsweise das Volk aus dem Exil nach Hause zu führen – verweist einerseits auf den biblischen Bereich, andererseits auf den Kontext zahlreicher Heldenepen und Abenteuergeschichten. Ebenso ruft die Rätselstruktur der Erzählung und die Funktion des Spielers als Detektiv das Genre der Detektivgeschichten und damit spezifische Assoziationen und Erwartungen auf.[56] Darüber hinaus weist die Situation des Spielers als Abenteurer Analogien zu Robinson Crusoe auf, welcher sich, auf einer einsamen Insel gestrandet, mit Kultur und Lebenssystem der Gegend befassen muss, um zu überleben. Futuristische Apparate und Transportmittel, die Reise in andere Zeitalter per Linking Book und Ähnliches erinnern an unzählige Science-Fiction-Romane, TV-Serien und Spielfilme mit surrealen Ereignissen.
Nicht zuletzt findet sich im Namen ›Atrus‹ eine Anspielung an die Artus-Epen, was sich mit dem ritterlichen Auftrag, eine Dame zu befreien[57] oder die Herrschaft machtgieriger Tyrannen zu untergraben[58] beziehungsweise ein Reich des Friedens zu schaffen,[59] verbinden lässt. – Soweit die offensichtlicheren literarischen Zitate.
Wie verhält es sich mit der Anspielung auf epochale Sinnsysteme? Die Grundproblematik der Erzählung ist ethischer Natur – es handelt sich um den Kampf zwischen Gut und Böse, wobei diese Pole im ambiger angelegten Spiel Myst III: Exile viel näher beieinander liegen, als dies bei seinen Vorgängern der Fall ist. In allen Myst-Spielen verbinden sich außerdem die Topoi Liebe (Atrus und Catherine), Brüder-Konflikte (Achenar und Sirrus) und Vater-Sohn- oder Freundes-Konflikte (Gehn und Atrus, Brüder und Atrus, Atrus und Saveedro), Machtmissbrauch (Gehn, Achenar und Sirrus, eventuell Atrus), politische Revolten (die Organisation der Moiety-Rebellen; Sirrus und Achenar) und kulturelle Traditionen (D'ni, Buchkultur) zu einem locker gewobenen, aber fesselnden Narrationsstrang.
Wurde bisher zunächst das Adventure Game in seinen formalen und inhaltlichen Grundzügen dargestellt und somit der künstlerische Interaktionspol markiert, so interessiert nun die Art und Weise, wie der Spieler sich darin zurechtfindet und seine Sinnkonstrukte schafft. Die Art und Weise, wie er auf der Suche nach Orientierungspunkten oder Informationsspuren durch die Welten navigiert, ist ein Hin und Her im Gadamerschen Sinne, denn durch diese Bewegung entsteht das »hermeneutische Gespräch«, befragt der Spieler den Text, welcher ihm stückweise Sinnangebote zukommen lässt. Das Hin und Her entspricht außerdem dem mentalen Modell des Iserschen »wandernden Blickpunkts«. Dieser manifestiert sich auf der Oberfläche des Spiels bildlich als Händchen-Ikon und akustisch in der Klickbewegung. Dass Myst III: Exile nicht wie ein traditioneller Buchtext linear strukturiert ist, sondern teilweise linear, teilweise nonlinear,[60] ändert nichts an der Tatsache, dass der wandernde Blickpunkt des Spielers eine – wenn auch räumlichere – sinnbildende Thema-Horizont-Struktur konstituiert. Auf Grund der medialen und technischen Beschaffenheit von Myst III: Exile äußert sich denn der Vorgang des Weckungsstrahls, welcher den wandernden Blickpunkt unterbricht und neu fokussiert, als assoziatives Pendant zur Nonlinearität der Spielstrukturen. Kann eine durchwegs nonlineare Strukturierung, wie sie den Hyperfictions zum Teil zugrundeliegt, als Mangel an Leserführung empfunden werden und zur Orientierungslosigkeit führen, bedeutet demgegenüber ein strikt linearer Erzähl- und Spielstrang eine unangebrachte Einengung des Lesers. In Myst III: Exile wird die Strukturierung folgendermaßen realisiert: Während der Spielstrang partiell linear, partiell nonlinear ist, ist der Narrationsstrang der Videosequenzen konsequent linear. Das heißt, ungeachtet der Reihenfolge, in welcher der Spieler die Zeitalter besucht und die Rätsel löst, wird nach dem ersten erfolgreich absolvierten Spielabschnitt die erste Videosequenz gezeigt, nach dem zweiten Rätselkomplex die zweite, und nach dem dritten die letzte. Die Abfolge der Erzählsituationen ist also nicht von der Reihenfolge der Spielaktionen abhängig, obwohl diese thematisch miteinander in Verbindung stehen.
Wurde bereits bei den Erläuterungen zum Konzept des Weckungsstrahls darauf hingewiesen, dass der Verstehensprozess gemäß Iser assoziativer Natur ist, so zeigt sich hier eine Entsprechung auf der medialen Oberfläche insofern, als der Weckungsstrahl in Myst III: Exile technisch als Zip-Modus implementiert ist: Stellen sich beim Spieler während der Navigation durch die Welten Assoziationen ein, auf Grund deren er einen Perspektivenwechsel vornehmen beziehungsweise an eine bereits begangene Stelle zurückkehren möchte, so hilft ihm (falls er sich innerhalb einer gewissen Reichweite befindet) der Zip-Modus, eine als Blitz-Ikon erscheinende Schnelltransport-Funktion, die die gewünschte Spielstelle heranzoomt.
Bei der Erarbeitung des Bezugsrahmens wird vom Spieler verlangt, dass er sich jedes bedeutungsvolle Detail einprägt, um es an gegebener Stelle rekonstruieren und einsetzen zu können. Der Vorstellungsprozess ist dabei, analog zu einem Leseakt, vor allem auf Grund der reichen Bild- und Tonwelt und der Rätsel, welche mit dem Erzählstrang interagieren, relativ komplex und wird durch technische Mittel unterstützt.
Auf Grund der Speichermöglichkeit von Spielständen kann der Spieler, wenn eine signifikante Einzelheit vergessen wurde, an eine vorherige Stelle zurückschalten und diesen Spielabschnitt nochmals begehen – so wie der Leser die Seiten zurückblättert, um eine unverstandene Stelle nachzulesen. Zudem erweist sich die Speicherfunktion, falls sich der Spieler tatsächlich im Labyrinth der Spielwelt verirren sollte, als die letzte Möglichkeit, ihn aus seinem ›Exil‹ zu befreien.
Durch die spielerische Interaktion des Lesers mit dem ludisch strukturierten Text entspringt eine Konkretisation des literarischen Textes, welche für jeden Leser eine andere ist, da jeder mit unterschiedlichen Erwartungen, Hintergrundinformationen und Methoden an den Text herantritt. Dass sich solche mentalen Prozesse auf der Ebene des Mediums manifestieren, zeigt sich am Beispiel von Adventure Games, ist aber ein Merkmal von Hyperfiction allgemein, wo jeder Spieler einen eigenen Pfad beschreitet und die nonlineare Struktur anders auslotet. Je nachdem, wie sorgfältig er liest beziehungsweise spielt, welche Informationen er verknüpft, welche Links er anklickt, besetzt er Leerstellen und schafft Sinnstrukturen. Im Schlussrätsel von Myst III: Exile als einer der wichtigsten Leerstellen des Spieles wird die Interpretationsleistung des Spielers auf die Probe gestellt. Um den inneren als auch den äußeren Eisschild Narayans, der von Atrus zum Schutz beziehungsweise zur Abschirmung kreiert wurde, zum Schmelzen zu bringen, muss der Spieler die auf jedes Zeitalter (Voltaic, Amaterion, Edanna und Narayan) passenden Lehrsätze in eine Maschine eingeben. Diese Mantra-Sprüche entnimmt der Spieler zwar mühelos Atrus' Tagebuch, versteht die Funktion der Symbole und deren Anordnung in der Maschine jedoch nicht, falls er nicht die Gesetzmäßigkeiten der Inseln und deren Symbole mit den Lehrsätzen kombiniert. Dass die Eingabe der Symbole der unbewohnten Welten von Voltaic, Amaterion und Edanna die innere Eisdecke von Narayan löst, steht ebenso symbolisch für den gesamten Plot und die Spielstruktur wie der Umstand, dass das Mantra für Narayan, der scheinbar dem Untergang geweihten Welt, welche schließlich gerettet wird, den äußeren, umfassenderen Schild zum Schmelzen bringt: Das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der unbewohnten Zeitalter, welches sich im Auffinden der Kernsätze äußert,[61] fließt in ein grundlegendes Verständnis der komplexeren Zivilisation und der Bedeutung von Tradition ein (»Balance systems stimulate civilisation«), was schließlich in der Befreiung von Narayan und der Versöhnung von Antagonist und Protagonist resultiert.
In seinem Beitrag Songlines. Landschaft und Architektur als Modell für den Datenraum im Sammelband HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien[62] setzt sich Hartmut Winkler mit Nobert Bolz' These auseinander, wonach die »Bedeutung eines elektronischen Texts [...] sein Gebrauch in der jeweiligen Lektüre«[63] sei. Kritisch merkt Winkler dazu an, dies heiße letztlich, »Bedeutung entstehe ›im Grunde‹ immer erst in der linearen Erschließungsbewegung, der Navigation, und damit für jeden Nutzer individuell und neu«.[64] Tatsächlich sei »diese Lösung mit keinem, und sei es noch so rezeptionsorientierten Bedeutungsbegriff vereinbar, und die eigentliche Frage, wo die Grenze zwischen der textuellen Vorgabe und der Eigenaktivität des Rezipienten verläuft«, werde »systematisch verfehlt«.[65] Was nach Hartmut Winkler daher in der Theoriebildung ansteht, ist ein Modell, dem es gelingt, »die Wechselbeziehung als eine tatsächliche Wechselbeziehung und als eine strukturbildende Kraft zu rekonstruieren«.[66] Wie die vorangehenden Überlegungen und Argumentationslinien zu zeigen versuchten, könnte dies möglicherweise naheliegender als über den figurativen Anschluss an Songlines der australischen Aborigines über den Rückgriff auf den ästhetischen Begriff des Spiels in seiner komplexen performativen Verwendung in der Texthermeneutik der Rezeptionsästhetik erreicht und an den avanciertesten Beispielen von Computerspielen musterhaft verfolgt werden.
Manuela Kocher/Michael Böhler (Zürich)
Manuela Kocher, M.A.
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Prof. Dr. Michael Böhler
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