LINKLISTE UND LESELUST. MÖGLICHKEITEN DER LITERATURVERMITTLUNG IM INTERNET
Abstract
The World Wide Web offers a lot of information on poets and literary texts, which may motivate people in continuing and intensifying their reading. The web-catalogue Erlanger Liste – Germanistik im Internet <http://www.erlangerliste.uni-erlangen.de> (4.11.2001), where internet resources on german literature are listed and commented, could help to find such places in the web. In doing so, the list also takes part in the renewal of a cultural memory under the sign of the new media. Literary science should observe both: the way, how readers present their reading in the net, but also the consequences for the literary tradition.
Die Tage der Euphorie, in denen man sich aus der Verbreitung des neuen Mediums Internet auch eine Revolution für die Literatur, die Bedingungen ihrer Entstehung, Verbreitung und Aufnahme versprach, scheinen endgültig vorbei zu sein. Eine neue Kunst, die mit den Möglichkeiten der Elektronik experimentiert und manchmal auch im Internet publik gemacht wird, hat ihre eigenen Foren wie das Karlsruher Zentrum für Medienkunst oder die Linzer Ars electronica gefunden. Und dort, wo die Nachbarschaft zum Beispiel zum Erzählen offenkundig ist wie in den inzwischen bisweilen auch in den Rang von Kunst erhobenen Computerspielen,[1] die in aller Regel auf knappen Plots basieren und darauf ihre labyrinthischen Lösungswege oder Spielvarianten aufzubauen, ist das Literarische daran für den Philologen so interessant wie die Darstellung eines literarischen Sujets in der bildenden Kunst, die Transponierung eines literarischen Textes in einen Kino- oder Fernsehfilm – streng genommen eigentlich nur als Phänomen der Rezeption. Unweigerlich werden sich also wie in den gerade genannten Fällen mit Kunstgeschichte oder Filmwissenschaft auch für die elektronische Kunst Disziplinen mit ihren eigenen Erkenntnisinteressen und damit einhergehenden Untersuchungsmethoden ausbilden. Und weil sich diese Kunst nicht bevorzugt aus der Sprachkunst ableiten lässt, sondern sich oft sehr viel eher von den Traditionen der bildenden und darstellenden Künste her verstehen lässt, kann man hoffen, dass die Germanistik, die sich fast zu schnell bereit gefunden hat, die Neuen Medien in den Kanon ihrer Gegenstände aufzunehmen, bei der Institutionalisierung der Wissenschaft von den Neuen Medien möglichst ohne Aderlass davonkommt.
Diese Distanzierung von der für das Zeitalter der Neuen Medien prognostizierten und bisher allenfalls in ihren Grundansätzen zu erkennenden Medienkunst bedeutet nun freilich nicht, dass das Internet für die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht doch ein interessantes Feld darstellt. Ich will deren mögliche Dimensionen in wenigen grundlegenden Überlegungen und unter Hinweis auf einige Beispiele in diesem Beitrag anzudeuten versuchen.
Das Internet und die damit verbundenen Möglichkeiten der Verfügbarmachung von Daten jeglicher Art auf weltweit verteilten Servern gab früh zur Hoffnung Anlass, es könne ein Speicher des menschlichen Wissens sein, der dieses Wissen jedermann leicht zugänglich halten könne. Wir erkennen heute, dass die Datenflut, die sich täglich in die Server ergießt, unüberschaubar und damit nutzlos wird. Wissensmanagement wird in dieser Situation zu einer neuen, gefragten Qualifikation. Beides berührt auch unser Thema, denn mit zu den ersten Wissensbeständen, die in die elektronischen Speicher eingingen, zählten Texte, literarische zumal. Exemplarisch steht hierfür das Projekt Gutenberg, das zunächst englische und amerikanische Autoren am Bildschirm lesbar machte, sofern nicht Urheberrechte dagegen standen.[2] Das Vorhaben fand Nachahmer in vielen Nationalliteraturen, darunter auch ein deutsches Projekt Gutenberg.[3] Textsammlungen zu einzelnen Autoren, Anthologien zur Lyrik oder Epigrammatik folgten und wachsen teilweise kontinuierlich weiter.[4] Andere dagegen haben die Schwierigkeiten des Urheberrechtes unterschätzt und offenkundig oft auch unter dem Druck von juristischen Abmahnungen ihren Betrieb wieder eingestellt.
Den rechtlichen Bestimmungen folgend dominieren also im Internet die Texte der Vergangenheit. Trotzdem ist es für den Literaturwissenschaftler überraschend, in welcher Breite die Werke von Autoren auch weit zurückliegender Epochen im Netz präsent sind. Das gilt übrigens auch für Seiten im WWW, die sich weniger den Texten als der Verbreitung von Kenntnissen über einzelne Autoren widmen: die Auswahl bildet keineswegs einen wie immer gearteten Kanon literarischer Bildung ab. Sofern sich Gründe für die Wahl eines Gegenstandes ausfindig machen lassen, liegen sie zum Beispiel in verwandtschaftlichen Beziehungen, in lokalgeschichtlichen Interessen oder sie gehen auf Studienerfahrungen der Seitengestalter zurück. Die Spannbreite ist immens: von der wissenschaftlich fundierten Seite von Spezialisten auf ihrem Gebiet oder aus universitären Seminarprojekten über die Informationen der mit der Pflege ihres Namensgebers befassten literarischen Gesellschaften bis hin zu Schülerprojekten zu den Namenspatronen ihrer Schulen oder auch den Initiativen engagierter Leser reicht das Spektrum. Entsprechend finden sich auch alle Niveaus der Darstellung: neben dem eigens verfassten wissenschaftlichen Essay oder dem Wiederabdruck von bereits anderswo publizierten Aufsätzen steht das rudimentäre Lexikonexzerpt, neben multimedialen Ereignissen der tabellarische Lebenslauf, neben penibel zusammengetragenen Forschungsbibliographien der Hinweis auf eine aus guten Gründen längst nicht mehr aufgelegte Lehrerhandreichung.
Diesem eher retrospektiven Bereich des Netzes stehen Angebote gegenüber, die sich der Literatur der Gegenwart verschrieben haben. Virtuelle literarische Salons bestehen ebenso wie Mitschreibprojekte und Autorenwettbewerbe. Neben der Neugier der Betreiber auf die Möglichkeiten des Mediums ist der Wunsch unverkennbar, einen Beitrag zur literarischen Kultur in den Zeiten des Netzes zu leisten. So überrascht es nicht, dass als Veranstalter solcher literarischer Salons auch Institutionen der traditionellen Schriftlichkeit auftreten. Der Futuristische Leses@lon zum Beispiel ist ein Unternehmen der Stadtbücherei in Stuttgart.[5] Inzwischen haben auch Verlage das Medium für sich entdeckt und informieren über ihre Autoren und deren Werke, bieten aber auch Raum für das literarische Experiment, wie im erstmals in diesem Jahr in Kooperation zwischen Deutschem Taschenbuch-Verlag und T-Online durchgeführten Literaturwettbewerb literatur digital.[6] Auch der umgekehrte Weg lässt sich beobachten. Aus einigen Internet-Angeboten haben sich Kleinstverlage entwickelt, die Anthologien der in ihnen erstveröffentlichten Texte anbieten und damit vor allem dem Wunsch der Beiträger entgegenkommen, aus der Flüchtigkeit des Netzes zum beständigen Papier wechseln zu dürfen.[7] Entsprechend ist die Bandbreite groß. Neben den Leseproben arrivierter Schriftsteller stehen im noch herrschaftsfreien Raum des Internets die quasi-literarischen Versuche auch noch des Untalentiertesten.
Ein dritter Bereich, der sich mit den Möglichkeiten des Internets herausgebildet hat, ist der der Netzkommunikation. Neben der vergleichsweise traditionellen Möglichkeit, über elektronische Post Nachrichten über kulturelle Ereignisse oder Neuerscheinungen in den Verlagen zu verbreiten, ermöglicht das Netz in den Newsgruppen, Chaträumen oder Online-Foren ja auch unmittelbare Kommunikation der Nutzer untereinander. Zwar haben Newsgruppen wie de.rec.buecher bei weitem nicht den Umfang wie solche zu Computer-Themen oder auch zu politischen oder historischen Fragen, aber Interessenschwerpunkte der Nutzer solcher Angebote werden bereits deutlich. So dominiert in der eben zitierten Gruppe die jeweils aktuelle Unterhaltungsliteratur, in der ersten Hälfte des Jahres 2001 zum Beispiel Joan Rowlings Harry-Potter-Romane. Demgegenüber bleibt das Angebot zum Chat zu einzelnen Autoren auf spezialisierten Web Sites weitgehend ungenutzt oder die Nutzung hat eine ganz spezifische Ausrichtung, die ebenfalls wieder Aufschluss über Erwartungshaltungen im Hinblick auf das Netz gibt. Gleich in zweifacher Hinsicht kann hierfür das Forum der Internationalen Gryphius-Gesellschaft als beispielhaft gelten. Es wurde überwiegend von Schülern genutzt, die zur Erledigung schulischer Arbeitsaufträge Rat und vor allem tatkräftige Hilfe suchten. Dass es nun wieder eingestellt ist, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass ein anderes Diskussionsniveau nicht zu erreichen war.[8]
Mit diesen drei Bereichen, in denen sich literarisches Leben im Netz manifestiert, muss sich eine an der Rezeption von literarischen Texten interessierte Forschung in verschiedener Hinsicht zwingend beschäftigen. Denn selbst wenn sie die Vermittlung von Literatur nicht als ihre unmittelbare Aufgabe ansehen kann, wird sie nicht daran vorbeigehen können, dass das neue Medium den literarischen Kanon und damit den Gegenstandsbereich der Wissenschaft ebenso transformieren wird, wie das in den Medienwechseln der Jahrhunderte vorher geschehen ist.
In der Beschreibung der Aufgaben will ich meine Auflistung ausgehend von eigenen Erfahrungen mit dem Projekt der Erlanger Liste – Germanistik im Internet in umgekehrter Richtung abschreiten. Zur Frage der Kommunikation haben Gunther Witting und ich seit der Gründung der Liste im Herbst 1995 dezidiert den Standpunkt vertreten müssen, dass wir es nicht leisten können, Auskünfte auf Anfragen hin zu erteilen, die über einen Hinweis auf vorhandenes Material hinausgehen. Die Anzahl und die Art der dennoch gestellten Fragen machen aber deutlich, dass ein steigerungsfähiger Bedarf für qualifizierte Auskünfte zur Literatur besteht. Eine Einrichtung in Analogie zu den bestehenden Sprach- und Grammatiktelefonen könnte also eventuell einen Beitrag dazu leisten, potentiellen Lesern ihre Leselust zu erhalten. Die Frage allerdings stellt sich, wo eine solche Auskunftsstelle angesiedelt und wie sie sinnvoll organisiert sein könnte.
Die Erlanger Liste versucht bewusst einen anderen Weg, der insgesamt einem breiteren Interesse gerecht zu werden versucht: Sie ist ein Katalog der Internet-Ressourcen zur Literatur- und Sprachwissenschaft, der nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern sinnvolle Wege zu verlässlicher Information weisen will. Sie wird ergänzt um den Bereich der bildenden Kunst. Dabei überschneiden sich die Zielgruppen, für die die Katalogeinträge gedacht sind, durchaus. Nur ein Teil lässt sich der Kategorie ›Leselust‹ zuordnen; viele Angebote, die aufgelistet werden, wenden sich ausschließlich an das germanistische Fachpublikum. Die Breite des Dokumentierten rührt nicht zuletzt aus der Genese des Projektes her, denn am Anfang stand die Überlegung, das im Netz Vorhandene überhaupt zu dokumentieren. Inzwischen können wir das Brauchbare herausfiltern, denken dabei aber immer sowohl an den Laienleser als auch an den Wissenschaftler. In der Lektürepraxis, zu der das Angebot ja immer in einem Verhältnis stehen soll, sind die Grenzen ja ohnehin fließend: aus der ursprünglichen Leselust erwächst schnell ein vertieftes Interesse, das sich eben nur noch mit Mitteln des wissenschaftlichen Zugangs wirklich befriedigen lässt. Entsprechend breit gestreut ist deshalb die Qualität der verzeichneten Einträge, die nicht nur dem Wissenschaftler die Fachkommunikation erleichtern sollen, sondern auch auf Informationsbedürfnisse von Studenten, Lehrern und Schülern zugeschnitten sein können. Dabei sollen sich die Bereiche gegenseitig ergänzen: dem Literaturfreund und -vermittler soll der Zugang zu wissenschaftlicher Arbeit ermöglicht und damit auch die Möglichkeit der Weiterbildung geboten, dem Literaturwissenschaftler ein Einblick in die Rezeption von Literatur verschafft werden.
In diesem Punkt unterscheidet sich das Informationsangebot der Erlanger Liste grundlegend von dem, das man bei sonst durchaus vergleichbaren Portalen vorfindet. <http://www.kindlers.de> (4.11.2001) oder die Linklisten bei <http://www.libri.de> (4.11.2001) wenden sich ausschließlich an den nicht-professionellen Leser und wollen erste Informationsbedürfnisse über Autoren oder literaturgeschichtliche Sachverhalte erfüllen. Die Verzeichnisse von Ulrich Goerdten sind dagegen auf Vollständigkeit angelegt und nehmen deshalb keine Auswahl vor, so dass der Benutzer orientierungslos bleibt.[9] Die damit verbundenen Frustrationen durch nicht funktionierende Links oder inhaltlich wenig brauchbare Angebote sind für den literaturinteressierten Laien demotivierend. Diesem Faktum wird nun seit einigen Monaten zunehmend Rechnung getragen, indem man einen Teil der Links mit charakterisierenden Bemerkungen versieht.
Die Anzahl der Linklisten mit ähnlicher Zielsetzung suggeriert ein starkes Interesse der Internet-Nutzer an diesen Inhalten. Ein solches lässt sich empirisch allerdings nicht belegen. Vielmehr muss man einräumen, dass die Angebote auf die Hoffnung hin bestehen, über einen Verdrängungswettbewerb die vorhandenen Interessenten an sich zu binden und zur regelmäßigen Nutzung der eigenen Informationen zu motivieren. Für in ihrer Substanz eigentlich entgeltpflichtige Datenbanken wie <http://www.kindlers.de> (4.11.2001) oder Buchhandelsunternehmen wie Libri ergibt sich das schon aus ihrem Unternehmenszweck. Aber auch für wissenschaftliches Personal, das unter erheblichem Zeitaufwand das Linksammeln und -kommentieren vornimmt, ist die Zahl der Zugriffe ein Gradmesser dafür, ob sich das Engagement lohnt, und die Art der Nutzung – abzulesen an den eingehenden Suchanfragen – ein Indiz dafür, ob man von einem Beitrag zumindest zur Literaturvermittlung, wenn nicht gar zur Fachkommunikation sprechen kann.
Die Statistik, die regelmäßig über die Nutzung der Erlanger Liste erstellt wird, spricht hierzu eine deutliche Sprache. Insgesamt sind zwar die Zugriffszahlen und die Mengen der übertragenen Daten beachtlich. So werden zurzeit innerhalb einer Woche durchschnittlich circa 35.000 Seitenanfragen registriert, wobei die Verteilung der Zugriffe über den Tag und über die Woche deutlich machen, dass es sich in aller Regel um professionelle Nutzer handelt, denn die Höhepunkte liegen in den späten Vormittagsstunden von Werktagen. Das war noch vor drei Jahren anders, als die abendlichen und nächtlichen Nutzer einen erheblichen Anteil ausmachten – damals fragten noch regelmäßig Angehörige nordamerikanischer Colleges und Universitäten die Informationen ab, während heute der Bereich des amerikanischen Bildungswesens (also Anfragen aus Domains mit der Endung ›.edu‹) gerade noch ein halbes Prozent unter den Nutzern ausmacht.
Entscheidend ist aber, dass die Mehrzahl der Seitenaufrufe nicht der literarischen oder literaturwissenschaftlichen Inhalte wegen erfolgt. Bei 88.000 Seitenanfragen innerhalb der ersten drei Septemberwochen 2001 zielten 11.500 auf das Verzeichnis der Lexika und Nachschlagewerke,[10] 4.000 auf die Liste der Suchmaschinen und Recherchehilfen;[11] mit 1.700 Zugriffen ist das Verzeichnis elektronischer Texte die in diesem Zeitraum am stärksten nachgefragte Seite mit literarischen Gegenständen gewesen,[12] dicht gefolgt von dem Verzeichnis zu den literaturgeschichtlichen Inhalten.[13] Hier überrascht allerdings auch, dass – soweit man die Zahl der Aufrufe tatsächlich auch als Gradmesser für die Nutzung nehmen kann – Informationen zur Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik wesentlich häufiger nachgefragt werden als solche zum 19. und 20. Jahrhundert, denn diese Teilseite des Epochenverzeichnisses erlebte nur 360 Aufrufe gegenüber den 1.600 des ersten Teils.
Auch die Suchanfragen, die Nutzer auf das Verzeichnis der Erlanger Liste leiten, weisen in die gleiche Richtung. Sieht man von Anfragen ab, die durch das unmittelbare Tagesgeschehen bedingt sind (in den Statistikzeitraum fällt der Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, was eine Reihe von Zugriffen durch die Suchanfrage »livecam new york« generierte),[14] so ist der Abstand zwischen dem Suchwort »Lexika«, das 680 Nutzer zur Erlanger Liste führte, und dem Suchwort »Germanistik«, das gerade 91 Nutzer verwendeten, signifikant. Die Statistik der 25 am häufigsten verwendeten Suchbegriffe weist dann auch nur noch fünf literarische Suchworte in diesem Zeitraum aus, nämlich »Barock« (70 Anfragen), »Uwe Johnson« (66), »Epochen« (65), »Parodie« (60) und »Barocklyrik« (49).
Man muss also feststellen, dass die Erlanger Liste zurzeit im Wesentlichen noch unter dem Gesichtspunkt des Internets als eines grenzenlosen Repertoriums genutzt wird, nicht aber als Kommunikationsplattform. Das Verzeichnis der Nachschlagewerke hilft offenkundig dabei, sich im Angebot zurechtzufinden. Die literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Links, die Verzeichnisse zur Netzliteratur und zu den elektronischen Texten erleben jeweils während des Semesterbetriebs und hier zu einzelnen Tagen eine Konjunktur, die sich unschwer auf Einführungsveranstaltungen für Studenten zurückführen lässt. Als ›das‹ Portal für Literaturinteressierte im Netz ist sie aber mit Sicherheit noch nicht wirklich etabliert. Das liegt nicht an besonders potenter Konkurrenz; vielmehr ist schon die Tatsache, dass nur ganz wenige Nutzer den Links von anderen Literaturseiten auf die Erlanger Liste folgen, ein Indiz dafür, dass die Konsultation des Internets im Rahmen von Lektüren offenkundig überhaupt noch keine große Rolle spielt.
Dennoch halte ich das Bemühen um einen Katalog der literarischen und literaturwissenschaftlichen Ressourcen im Netz auch unter dem Gesichtspunkt der ›Leselust‹ für geboten. Ein Ergebnis der Statistik bestärkt mich dabei, weil es dokumentiert, wie die Linkliste ihren Beitrag dazu leistet, das Interesse für bestimmte Gebiete zu verstärken. Ich habe auf die besondere Rolle der Suchbegriffe »Barock« und »Barocklyrik« aufmerksam gemacht. Ihr Rang in der Statistik steht im Gegensatz zur landläufigen Einschätzung der Literatur der Frühen Neuzeit in großen Teilen der Fachöffentlichkeit wie unter den Literaturlehrern. Der Zusammenhang mit der Tatsache, dass es gerade zur Epoche des Barock einige bemerkenswerte Initiativen im Netz gibt, liegt jedoch auf der Hand. Sie reichen von Schülerseiten zur Kultur- und Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts bis zu Seminarprojekten über Lyrik des Barock. Hinzu kommt, dass die Forschung und die Materialpräsentation zur Frühen Neuzeit im Internet auch im Vergleich zu anderen Epochen der deutschen Geschichte gut vertreten sind. Drucke der Zeit lassen sich unter anderem durch die Angebote der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel oder die Universitätsbibliothek Mannheim online studieren, über Teilaspekte der Geschichte der Frühen Neuzeit – darunter das Aufmerksamkeit heischende Thema der Hexenverbrennungen – informiert der Frühneuzeit-Server,[15] große Ausstellungen etwa zum Westfälischen Frieden sind weiterhin wenigstens online erreichbar.[16] Das alles trägt zu einer Präsenz der Epoche bei, angesichts der es nicht verwunderlich ist, wenn die erste mir bekannt gewordene Lehrerhandreichung zur Erstellung eines Hypertext-Projekts von der Epoche des Barock ausgeht.[17] Übrigens gibt es noch einige solche Inseln innerhalb der Literaturgeschichte, an denen sichtbar wird, dass sich Internet-Angebote gegenseitig bedingen und verstärken, etwa zu Franz Kafka oder zu Bert Brecht. Andere Zeiträume und Autoren dagegen treten völlig zurück, so die Zeit des Sturm und Drang, zu der es – obwohl sie noch einigermaßen dem Kanon der Gegenstände des Deutschunterrichts zugehört – keine einzige Seite aus einem Schulprojekt gibt, aber auch bisher kaum Nennenswertes von Seiten der Wissenschaft.
Setzen die eben angesprochenen Gegenstände wegen ihrer Historizität eine Hinführung zum Beispiel im Rahmen des Schulunterrichts voraus und entspringt das Interesse für die Sache folglich nicht unbedingt einer ohnehin vorhandenen Leselust, so kann man sie bei Interessenten für Einträge im Verzeichnis »Pixel Pegasus« der Erlanger Liste wohl eher voraussetzen. Sie verweisen auf Literaturprojekte und Internet-Kunstforen, die den Möglichkeiten des neuen Mediums in irgendeiner Form gerecht zu werden versuchen. Aber auch alle Einträge, die die Organisation kulturellen und besonders literarischen Lebens betreffen, also Veranstaltungskalender, Theater- und Ausstellungsprogramme, die auf der Seite zu den Kontexten der Literatur zusammengetragen sind, tragen zur Vermittlung von Literatur mehr oder weniger bei. In der Nutzung der Erlanger Liste spielen sie aber eine eher untergeordnete Rolle, was nicht verwundert, wenn man den spärlichen Zuspruch des Publikums insbesondere zu Angeboten der Interaktion und Kommunikation beobachtet. So lässt sich zum Beispiel kaum jemand zur Rezension eines Romans in <http://www.roman-kritik.de> (4.11.2001) oder zur angebotenen Beurteilung eines Buches auf den Seiten der Internetbuchhändler animieren. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Nutzer eher Antworten auf Fragen suchen, als selbst mit Inhalten zur weiteren Ausgestaltung des Internets beitragen zu wollen. Insofern sind also selbst sehr spezielle Teilverzeichnisse der Erlanger Liste – obwohl sie eigentlich ausschließlich auf ein Fachpublikum abzielen, wie die Liste der Archive im Netz[18] oder das Verzeichnis germanistischer Institute und Institutionen[19] – eher an den Bedürfnissen der Netznutzer orientiert.
Die Erlanger Liste und vergleichbare Web-Kataloge haben also durchaus das Potential, Lesern Orientierung in der Flut von Informationen im World Wide Web zu geben. Dass sie, indem sie die Präsenz von Literatur im Netz dokumentieren, zugleich eine rezeptionslenkende Funktion übernehmen, ist schon angeklungen. Auch wenn es vor diesem Hintergrund methodologische Probleme gibt, so bilden sie darüber hinaus eine Ausgangsbasis für Untersuchungen zur Rezeption von Literatur.
Die Fragen liegen, das macht ein Beispiel deutlich, schon für den nichtgermanistischen, netzerfahrenen Nutzer durchaus auf der Hand; sie werden vorwissenschaftlich auch bereits formuliert. So erfasst Helmut Schulze in seinem Linkverzeichnis zur deutschen Literatur statistisch, wie häufig ein bestimmter Text im Internet vertreten ist. Eine Momentaufnahme vom Beginn des Jahres 2001 ergab die folgenden Spitzenplätze hinsichtlich der Präsenz von Texten im Netz:
35 Rilke: Der PantherSchulze schließt an seine Erhebung auch Beobachtungen an. So fragt er unter anderem nach der besonderen Attraktivität des Textes:
Auch die Zusammenhänge, in denen das Gedicht zitiert wird, sind zuweilen aufschlussreich: etwa Seiten, die sich mit Zoologischen Gärten und Tierheimen beschäftigen, oder solche, in denen es persönlich oder allgemein um Existenzkrisen geht.
Dass manch eine(n) das Raubtierhafte fasziniert, das durch den Titel evoziert wird, mag das beigegebene Bild bezeugen, das mir persönlich etwas zu blutrünstig aussieht, aber doch 4-5 Mal das Gedicht auf den besuchten Internetseiten begleitet.[21]
Neben der eher psychologisierenden Frage, warum nun gerade dieses Gedicht unter aktiven Internet-Nutzern einen solchen Anklang findet, interessiert, in welchen Kontexten das Gedicht gesehen wird. Und die Frage lässt sich auf alle anderen Texte erweitern: erscheinen sie als Teil einer übernommenen oder selbst erstellten Anthologie, haben sie – singulär verwendet – den Stellenwert eines Mottos oder sind sie in ihrer Präsenz im Netz vielleicht sogar nur Resultat kultusministerieller Erlasse über das Erlernen von Gedichten? Unstrittig dürfte angesichts der auf den Seiten häufig anzutreffenden Bemühung um eine hervorhebende und auszeichnende Gestaltung des Textes sein, dass die Anbieter mit der Veröffentlichung des Textes einen besonderen Bezug zu ihm, zum Autor, eine Einstellung zur Literatur überhaupt dokumentieren wollen.
Weiter ist natürlich auffällig, dass die Lyrik unter den verzeichneten Texten bei weitem dominiert. Das bestätigt zwar einerseits die Beobachtung, dass das Internet die Domäne kurzer Texte sei, steht andererseits zur These im Widerspruch, Bildschirmtexte müssten daraufhin konzipiert sein, schnell und ohne Widerstand wahrgenommen werden zu können:[22] Wird man das von poetischen Texten schon so generalisierend nicht sagen dürfen, so ist die Platzierung von Celans Todesfuge ein beredtes Zeugnis dafür, dass sich die Texte im Netz nicht an die theoretisch formulierten Forderungen halten.
Es verdienen, und das will ich als Ergebnis meiner Beobachtungen festhalten, gerade die aus privater Initiative hervorgegangenen Seiten zu literarischen Gegenständen eine besondere Berücksichtigung, denn in ihnen dokumentiert sich meiner Ansicht nach ein Interesse an Literatur, das mit der in jüngerer Zeit wieder beschworenen Leselust[23] in zweifacher Weise zusammenhängt. Zum einen sind die Angebote Ausweis eines spezifischen Lesevergnügens des Erstellers, zum andern sind sie häufig Versuche, Leselust überhaupt zu wecken, zur Lektüre des vorgestellten Autors beziehungsweise seiner Werke zu animieren. Es bietet sich hier – unter den nicht von wirtschaftlichen Zwängen bestimmten Privatinitiativen – die einmalige Gelegenheit, Lesegewohnheiten und Vorlieben empirisch zu erheben. Die Einschränkungen, unter denen solche Untersuchungen stehen müssen, sind deutlich: Der Zugang zu dem von Technik bestimmten Medium ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht selbstverständlich. Die Aktiven im Netz gehören nach wie vor zu einer technischen Avantgarde, wobei dies freilich einem anhaltenden Wandel unterliegt. Neben dem aktiven Ingenieur oder Informatiker steht zunehmend der Literaturpädagoge, der mit dem technischen Medium seine Schüler zu motivieren hofft, inzwischen aber auch der Ruheständler, der seine Lektüre auf der privaten Homepage präsentiert. So heterogen das Material an sich ist, erweist es sich in jedem Fall für den Literaturwissenschaftler als ergiebiger als die Umfragen, die im Auftrag des Buchhandels durchgeführt wurden. Anders nämlich als bei diesen Untersuchungen, die nach Lesehäufigkeit und Status des Buches in unserer Gesellschaft fragen und dabei das tatsächlich Gelesene nicht erfassen, haben wir im Internet ausschnitthaft Lesegewohnheiten und Lektürevorlieben dokumentiert. Die hier vorliegende Untersuchungsbasis lässt sich vielleicht am ehesten mit der für das 18. Jahrhundert vergleichen, wo mit den Ausleihkatalogen von Lesegesellschaften und Bibliotheken, aber auch den Bestandsverzeichnissen von Privatbibliotheken Buchbesitz und Zugang zu Literatur besser als in den Zeiten vorher oder nachher empirisch fassbar sind.
Ernst Rohmer (Erlangen)
PD Dr. Ernst Rohmer
Institut für Germanistik
Universität Erlangen-Nürnberg
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