Dass das Internet das Leitmedium dieser Zeit sei, ist so wahr, dass man es schon nicht mehr hören möchte. Man kann ja keine Lindenstraße und keine Tagesschau mehr sehen, ohne im Werbeumfeld der Sendung auf die Versprechen der digitalen Zukunft zu stoßen. Da gibt es glückliche Menschen vor Computern, die ihr Leben online organisieren und sich freuen, auch endlich drin zu sein. WeWeWe-Punkt und so weiter ist zum Schlagwort einer Realität geworden, die viele fragen lässt, ob sie es wohl noch schaffen werden, sich an den neuen Medien vorbei ins Rentenalter zu retten. Für diejenigen, die zu jung sind, und für jene unter den älteren, die die Reisen ihres Lebensabends online werden bestellen wollen oder müssen, gibt es rettende Handbücher. Sprache und Kommunikation im Internet von Jens Runkehl, Prof. Dr. Peter Schlobinski und Torsten Siever ist eines davon.
Der Titel lässt die Konzentration auf ein akademisches Thema vermuten, und die Seitenzahl von rund 200 mag den Eindruck der Beschränkung verstärken. Man täusche sich nicht! Links machen Bücher dicker; man liest mindestens doppelt so lang, wenn man all den Verweisen folgt, aus denen Bände wie diese naturgemäß bestehen. Zum anderen: Was ist denn nicht Sprache und Kommunikation?! Die Autoren lassen schon durch das gewählte Cover – ein Kompass über einer pixelligen Erdkugel – keinen Zweifel daran, dass sie gründliche Orientierung bieten wollen. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt denn auch, dass sie sich viel vorgenommen haben: Da geht es um die Geschichte des Internet ebenso wie um die zentralen Kommunikationspraxen (E-Mail, Newsgroup, Chatgroups, MUDs, Internet-Konferenz, WWW), da werden Online-Radio, Web-TV und Online-Zeitschriften ebenso vorgestellt wie Literatur im Netz, die Funktionsweise digitaler sowie elektronischer Werbung.
Dies alles geschieht jeweils mit dem Anspruch, technisches Know-How zu vermitteln, wie soziologischer Kommentar zu sein. Ehe man erfährt, wie die E-Mail-Kommunikation das menschliche Miteinander verändert, lernt man, eine E-Mail-Adresse richtig zu lesen und erfährt, welche Zahlenkombinationen sich dahinter verbergen. Zum Prinzip des Bandes gehört es, dass dabei ausgiebig authentisches Material zur Illustration angeboten wird, seien es E-Mails, Passagen aus MUDs und Chats (einschließlich eines chinesischen). Die Gebote der Netiquette und Chatiquette werden dabei ebenso mitgeliefert wie eine hilfreiche Auflistung der Smileys (wussten Sie, wie das Zeichen für Kuss aussieht?) und Akronyme (hätten Sie »w4u« als »waiting for you« entschlüsselt?). Da gibt es Erklärungen technischer Begriffen (TCP/IP, Cache, CSS), es gibt Curiosa wie jene zur britischen Royal Mail, die einen wesentlichen Mangel der E-Mails –die Voraussetzung eines Computer – dadurch behebt, dass sie alle für ihre Kunden eingegangenen Mails ausdruckt und in Briefform zustellt.
Manche Leser werden den Unterschied zwischen Provider und Online-Diensten freilich schon kennen und auch den Hinweis, wie man seine E-Mail mit einer Signatur versieht, bereits diversen Handbüchern oder der Hilfefunktion des Mailprogramms entnommen haben. Für andere, die technische Bücher gewöhnlich nicht in die Hand nehmen, mag gerade solche Information am Rande ein Gewinn sein und dazu führen, künftig nicht nur über die »Aufweichung formaler und grammatischer Regeln« in der E-Mail-Kommunikation zu berichten, sondern auch die eigene Mail endlich korrekt verschlüsseln zu können. Gerade die praktischen Hinweise – wie ein HTML-Code aussieht, wie man SMS vom Computer verschickt, wie eine Suchmaschine bedient wird, was die Symbole in der Navigationsleiste eines Browsers bedeuten – machen das Buch sicher für viele attraktiv, wird so doch neben den Informationen über Spache und Kommunikation im Internet zugleich eine internetbezogene Anwendungskompetenz vermittelt – und um die geht es zweifellos letztlich zuerst.
Was die theoretische Diskussion betrifft, so findet man eine Menge von Zitaten und Verweisen auf andere Forschungen vor. Das ist dem Ziel, einen breiten Überblick zu geben, völlig angemessen, und man ist den Autoren auf jeden Fall dankbar für die geleistete Lektüre und deren instruktive Belege. Kommt man zu einem Thema, mit dem man sich schon ein wenig auskennt, kann es allerdings geschehen, dass man sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Sachlage und den theoretischen Beiträgen wünscht; so zum Beispiel beim Kapitel »Literatur im Internet«.
Auf diesen siebzehn Seiten werden zunächst einmal die neuen Distributionsverhältnisse (der Texter zugleich als Setzer, Drucker und Verleger) im Netz sowie der Hypertext als neue Technologie der Datenstrukturierung vorgestellt. Die anschließende Diskussion der genuinen Eigenschaften des Hypertextes springt allerdings ein bisschen, als wolle sie sich die Diskontinuität des Hypertextes selbst zu Eigen machen. Von der Ausgangsfrage, ob der Hypertext konventionell ist, und dem hier sehr gut platzierten Hinweis Espen Aarseths auf die vielen gedruckten Hypertexte lange vor der Ankunft des Computers, gelangt man zu Ruth Nestvolds Auffassung, Hypertexte seien durchaus konventionell, und zwar weil sie in der Regel klar definierbare Anfänge und Enden besäßen. Dass dem gar nicht so sei, entnimmt man einer Aussage Norbert Gabriels – und man hätte auch auf den berühmten Satz aus der wohl berühmtesten Hyperfiction, Michael Joyces Afternoon. A Story, verweisen können, die Lektüre ende dann, wenn man sich im Kreis bewegt und auf keine neuen Textbestandteile mehr trifft. Die Frage um Anfang und Ende bleibt offen und die Autoren wollten hier erklärtermaßen nicht den Schiedsrichter geben. Sie lenken ein, man solle die Diskussion in keine der beiden Richtungen zu betont fortführen, sondern vielmehr nach den inhärenten Qualitäten des Hypertextes fragen. Der Vorschlag ist durchaus lobenswert, nur verwirrt seine Platzierung und Einleitung: Mit der Frage nach Anfang und Ende war man ja schon bei den inhärenten Qualitäten des Hypertextes; nun wird diese Frage paradoxerweise abgewürgt von dem Ruf, sie zu diskutieren.
Aber man muss nicht lang auf neue, ebenso spannende Aspekte warten. Im Folgenden geht es um die Eigenschaft des Links, durch den Verweis auf andere Texte immer auch vom Text wegzuführen. Die damit entstehende »zerfasernde Lektüre« kennzeichnen die Autoren mit Christian Bachmann sehr treffend als Angst, mit jeder Entscheidung etwas zu verpassen und als Lesen, das gleichzeitig Nicht-Lesen bedeutet. So richtig stimmt dies freilich erst, wenn die Links – so wie das reale Leben – vor irreversible Entscheidungen stellen, und genau dies tun sie bekanntlich nicht. Vielmehr helfen Übersichtskarten, farbliche Markierungen bisher besuchter Links sowie die im Browser und in Hypertextprogrammen wie Storyspace festgehaltene Linkhistorie, dass man den Faden nicht verliert und schließlich doch noch zu den bisher verpassten Texten gelangt.
Ebenso richtig ist der Hinweis auf die diskursive Mitarbeit des Lesers am Text, den er sich während der Lektüre erst zusammenstellt. Hier scheinen die Autoren nun der Ideologie vom entmachteten Autor auf den Leim gegangen zu sein. Hilmar Schmundts kritische Frage, ob die Lektüre einer Hyperfiction wirklich schon ein interaktives Erlebnis ist oder ob die Leser sich nicht vielmehr »interpassiv« verhalten – wie »Pauschaltouristen auf einem ferngelenkten Narrenschiff« –, wird zu schnell verworfen. Schmundt formuliert mit schöner Pointierung genau jene Einwände, die inzwischen allerorten gegen die revolutionäre Begeisterung der Anfangsjahre erhoben werden: Nein, der Leser wird noch nicht zum Autor, nur weil er Textstücke selbst kombiniert, und der totgesagte Autor ist vitaler und machtbewusster denn je, wenn er durch die von ihm gesetzten Links auch noch die Wege unserer Assoziationen vorzugeben trachtet.
Was die Literatur im engeren, fiktionalen Sinne betrifft, wenden sich die Autoren schließlich Susanne Berkenhegers preisgekrönter Hyperfiction Zeit für die Bombe zu und stellen akribisch deren Vernetzung auf einer Doppelseite grafisch dar. Diese beeindruckende Fleißarbeit wäre ein guter Ausgangspunkt, die strittige Frage zu diskutieren, inwiefern die Hyperfiction mit ihrem Verstoß gegen narrative Grundgesetze überhaupt ästhetischen Genuss bereiten kann. Für eine eingehendere Lektüre ist in diesem Buch freilich gar nicht der Platz und so bleibt es denn bei der Zitation von Allgemeinaussagen: dass eine Hyperfiction unterschiedliche Lesarten ermöglichen sollte und dass man für Kunst im Internet noch keine richtigen Bewertungskriterien habe. Hier hätte man sich am konkreten Werk eine kritischere Diskussion gewünscht, inwiefern unterschiedliche Navigation unterschiedliche Interpretationen erzeugt, und was dann eigentlich der Gewinn dieser Variabilität ist. Solche Erwartungen sollte man an breit angelegte Bücher wie dieses freilich gar nicht erst stellen. Sie bleiben Untersuchungen vorbehalten, die sich auf Literatur im Internet, genauer: auf Literatur des Internet beschränken und dann nicht nur Raum für Fallstudien haben, sondern auch für die Betrachtung der neuartigen Allianzen zwischen den Sprachen Text, Bild und Ton, die diese Literatur zunehmend kennzeichnen, und die im vorliegenden Buch noch unberücksichtigt bleiben.
Die hier angemerkten Desiderate wird freilich jeder tolerieren beziehungsweise übersehen, der sich zunächst einmal über die verschiedenen Aspekte der behandelten Themengebiete informieren will. Genau dies leistet der Band vorzüglich. Die reichlichen Literaturhinweise und die vielen Netzadressen (die durch eine »[Image]Site« zum Buch aktualisiert werden) laden ein, den Dingen gegebenenfalls selbst tiefer auf die Spur zu gehen. Das Buch hat seine Stärke darin, all jene Gebiete, die sich unter dem Begriff ›Sprache und Kommunikation‹ versammeln lassen, ›abzuscannen‹, und hält insofern das Versprechen des Covers, Kompass zu sein, durchaus ein: Man weiß nach der Lektüre sehr wohl, welche Fragen in welchen Hinsichten zu stellen sind.
Mit der Vermittlung von Grundwissen in technischer wie inhaltlicher Hinsicht wendet sich das Buch vor allem an jene, deren Medienkompetenz hier und da Lücken aufweist – also an die meisten von uns. So sind ihm viele Leser sicher. Es bleibt zu hoffen, dass sich darunter eine hohe Anzahl an Lehrern von Schule, Fachschule und Universität befinden, damit diese den Reden ihrer Schüler und Studenten wieder folgen können und eine ungefähre Vorstellung davon haben, was es eigentlich heißt, wenn es in der Werbung vor der Tagesschau heißt: »Schon drin.«
Roberto Simanowski (Göttingen) Roberto.Simanowski@dichtung-digital.de
Zuerst erschienen in: Dichtung Digital <www.dichtung-digital.de > (25. 05. 2000).