WARUM NOCH DRUCKEN? ÜBER DIE NACHTEILE GEDRUCKTER EDITIONEN

Abstract

Many paper based scholarly editions struggle with the limitations of paper and the typographic means of expression. They are difficult to use, potentially incomplete, and in many cases they do not meet the informational needs and expectations of the users. Digital editions offer serious solutions to many of these problems. They should not be seen simply as ›improved‹ editions, but as a new form of philological data storage. The computer allows new types of scholarly editions and new methods for accessing the data. It therefore is no longer necessary to offer all scholarly editions in print.

In der Editionsphilologie ist man sich schon lange[1] der Tatsache bewusst, dass trotz aller Bemühungen und trotz herausragender editorischer Leistungen viele wissenschaftliche Textausgaben[2] nicht den Erwartungen der potentiellen Benutzer entsprechen und nicht in der Lage sind, die informationellen Bedürfnisse der Leser abzudecken.[3] Meist sind es gerade die Editionen mit den höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, die ihr Publikum zu verfehlen scheinen, während es gleichzeitig für viele philologische Fragen auch keine Alternative zu den (historisch-) kritischen Editionen gibt. Doch woran liegt es, dass viele Editionen nicht so intensiv und erfolgreich verwendet werden wie erwartet? Sind es die Leser, die nicht über das notwendige Wissen verfügen, um Nutzen aus den Editionen ziehen zu können? Ist die Darstellungsform unzureichend und nicht geeignet, das Material auf angemessene, leicht zugängliche Weise zu präsentieren? Oder ist das Material als solches zu schwierig, um von den meisten Lesern verstanden zu werden?

Allgemeinverständlichkeit ist sicher kein notwendiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit. In den Naturwissenschaften, beispielsweise in der Quantenphysik oder Molekularbiologie, würde es niemand erwarten, dass selbst ein fortgeschrittener Student des Faches sehr spezifische und hochtheoretische Schriften vollständig versteht.[4] Wissenschaftliche Editionen sind ebenfalls sehr spezifische und anspruchsvolle Publikationen. Auch sie sind normalerweise nicht an ein breites Publikum gerichtet. Eine historisch-kritische Ausgabe »will und kann keine Volksausgabe[5] sein. Sie wendet sich zunächst und vor allem an den Wissenschaftler, ist für ihn Arbeitsinstrument und Nachschlagewerk«.[6] Zu einem gewissen Grad ist es also gerechtfertigt, wenn sich die Editoren (historisch-) kritischer Editionen in erster Linie dem Inhalt, dem Autor und dem Text verantwortlich fühlen. Sie konzentrieren sich auf die Genauigkeit der Daten, auf deren Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Der Leser wird hierbei nur insofern berücksichtigt, als die Editoren sich ihm gegenüber zur Wahrheit verpflichtet sehen. Von diesem Standpunkt aus wird den Ansprüchen und Erwartungen des Lesers dann Genüge getan, wenn man alle relevanten Fakten und Materialien so genau und vollständig wie möglich zur Verfügung stellt. Es ist die Aufgabe des Lesers, sich in die Lage zu versetzen, die Edition richtig benutzen zu können. Dieser Ansatz betont den Charakter der Edition als sekundäres Archiv, als Instrument der Texttradition und – im weitesten Sinne – des Kulturgutschutzes. Die Edition dokumentiert eine bedeutende Quelle, erschließt sie wissenschaftlich und sichert ihren inhaltlichen Fortbestand. Dabei wird dem Primat des Textes sehr oft und notwendigerweise die Benutzbarkeit untergeordnet.

Jede wissenschaftliche Edition ist jedoch auch ein Gebrauchsgegenstand, ›Arbeitsinstrument und Nachschlagewerk‹, ein Werkzeug in der Hand des Philologen. Editionen werden angefertigt, um Benutzern den Zugang zum Quellenmaterial zu erleichtern und ihnen in ihren informationellen Bedürfnissen so weit wie möglich entgegenzukommen. Die Edition soll den hermeneutischen Prozess positiv beeinflussen, nicht ihn behindern. Um wissenschaftlichen Nutzen und Sinn entfalten zu können, muss die Edition deshalb lesbar sein. Der umgekehrte Hinweis auf das Unvermögen der Benutzer, in angemessener Weise mit der Edition umgehen zu können, löst das Problem in keiner Weise. Da die Ursachen für einen misslungenen Kommunikationsprozess meist auf beiden Seiten zu suchen sind, darf die Kritik an der Verständlichkeit der Edition nicht einfach beiseite geschoben werden. Es muss gewährleistet sein, dass all jene Personen, die als Benutzer intendiert sind, auch gemäß ihren Absichten von der Edition profitieren können, und zwar auf effiziente Art und Weise. Doch wenn dem nicht so ist, warum soll man dann diese Editionen überhaupt noch drucken?

Tatsächlich liegt die eigentliche Ursache für den Prozess der Entfremdung von Edition und Benutzer weniger in den Mängeln der philologischen Ausbildung, als in den Anforderungen und Beschränkungen, die das Medium Papier und die Form des Buches den Editoren auferlegen. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich, dass die Editoren durch das Medium zu mehr Kompromissen gezwungen werden, als es den Daten dienlich ist, dass durch die Form des Buches der informationelle Wert der Daten verringert und das Informationspotential nachhaltig beeinträchtigt wird. Es wird deutlich, dass

[...] many conventions or requirements of traditional print editions reflect not the demands of readers or scholarship, but the difficulties of conveying complex information on printed pages without confusing or fatiguing the reader, or the financial exigencies of modern scholarly publishing.[7]

Auch daher setzt sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass Textausgaben, besonders kritische und historisch-kritische, aber auch all jene, die einen Text oder das Werk eines Autors nur in mehrbändiger Weise darstellen können, eine wesentlich angemessenere Präsentation in digitaler Umgebung erhalten würden:

[Electronic] technology is transforming our understanding of the scholarly edition, that monument to a nineteenth-century model of disciplinarity and specialist knowledge. The edition or ›archive‹, as it is more often and more properly described in its electronic assemblage, no longer depends upon the coded features and scientific structures of the book refined to their highest application, the hierarchical layering of information on the page, from reading text at the top to the humblest variant in the smallest font-size at the bottom, the complex appendices that need to be consulted in one place while one reads in another, and the shorthand ingenuities of typographic presentation – several sizes and styles of type, several kinds of bracket, deletion linings, superimpositions, etc. Instead, the electronic edition is itself an analogue computer, capable of constituting text in multiple forms.[8]

Trotzdem werden die meisten wissenschaftlichen Editionen immer noch in gedruckter Form herausgegeben[9] oder aber die Editionsprojekte münden in so genannte ›Hybrid-Editionen‹[10] (auf die später noch näher eingegangen werden muss). Daraus spricht heute jedoch kaum noch die generelle Ablehnung der Technologie, sondern sprechen sowohl Zweifel an der praktischen Nützlichkeit elektronischer Editionen als auch die langjährige Gewöhnung an die papierbasierte Arbeitsweise. Für viele Wissenschaftler ist das Buch nach wie vor die beste, verlässlichste Form der Datenspeicherung und alle digitalen Daten sind demgegenüber nur zweitrangig, sind weniger ›echt‹, da man sie nur durch Vermittlung des Computers sehen kann. Dabei offenbart das Buch als Mittel der Datenspeicherung und Datenpräsentation gerade im Vergleich mit den digitalen Medien seine Schwächen, die man so lange, wie es keine Alternativen gab, einfach hinnahm oder schlichtweg nicht erkannte.

Geringe Rückmeldung: Ein Nachteil aller papiergebundenen Publikationen ist der Mangel an detaillierten und empirisch verwertbaren Rückmeldungen über ihre konkrete Nutzung. Rezensionen und Reaktionen von Kollegen haben nur begrenzte Aussagekraft und beziehen sich meist nur auf einzelne Aspekte. Besonders bei Editionen, die – wie Lexika – der Bereitstellung von Fakten dienen und daran gemessen werden müssen, wie erfolgreich sie im praktischen Einsatz und über längere Zeiträume hinweg die informationellen Bedürfnisse ihrer Leser befriedigen können, wäre es hilfreich zu wissen, wie man sie nutzt, welche Probleme auftreten, ob bestimmte Daten beispielsweise nicht gefunden werden, obwohl sie vorhanden sind, oder ob die Benutzer häufig nach Daten suchen, die nicht enthalten sind.

In einer digitalen Umgebung ist es hingegen möglich, detaillierte Auskünfte über die Nutzungsgewohnheiten der Leser zu erhalten, was den Editoren erlaubt, gezielte Verbesserungen und Veränderungen durchzuführen.

Starre Form: Gedruckte Daten stellen die Endform des Produktionsprozesses dar. Die Tatsache der Unabänderlichkeit des Textes ist zum Teil verantwortlich für die lange und aufwändige Herstellung wissenschaftlicher Editionen: Da Korrektheit und Verlässlichkeit der Daten die wichtigsten Voraussetzungen für den wissenschaftlichen Nutzen der Edition sind, ist es nur verständlich, dass die Editoren sichergehen wollen, keine Fehler zu veröffentlichen. Trotzdem ist es in der Regel nicht zu vermeiden, dass irgendwann Ergänzungen oder Veränderungen notwendig sind. Der Fortschritt in der Forschung bestimmt den Alterungsprozess gedruckter Daten. Eine überarbeitete Neuauflage ist oft nicht möglich und kommt meist nur Autoren beziehungsweise Texten zugute, die über einen längeren Zeitraum dem literarischen Kanon zugeordnet wurden. Auch Ergänzungsbände sind keine ideale Lösung, da sie den Zugriff auf die Daten erschweren und die innere Ordnung des gedruckten Werkes perforieren. Die einzig praktikable Lösung für gedruckte Daten wären Loseblatt-Sammlungen, die jedoch kontinuierliche Pflege benötigen, weniger stabil und haltbar sind als gebundene Bücher und sich genau genommen erst dann lohnen, wenn sehr regelmäßig aufwändige Veränderungen beziehungsweise Ergänzungen vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang sollte man auch bedenken, dass die Daten einer Edition normalerweise erst dann veröffentlicht werden, wenn alle Daten für das Buch oder den Band vorliegen. Mitunter sind einige Abschnitte schon seit längerer Zeit ›publikationsreif‹, werden jedoch zurückgehalten, weil der Rest des Buches noch nicht fertig ist. Einige Lexika und Editionen begegnen diesem Umstand, indem sie in kleineren ›Lieferungen‹ veröffentlicht werden, was nur die Dimensionen des Problems verringert, es aber nicht beseitigt.

Für elektronische Daten gibt es all diese Beschränkungen nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form. Insbesondere Verbesserung und Ergänzung des Datenbestandes sind leicht möglich, wobei zur Bewahrung der wissenschaftlichen Nützlichkeit der Versionierung eine besondere Rolle zukommt. Auch muss es für den Benutzer möglich sein, Veränderungen am Datenbestand zu erkennen und gegebenenfalls den alten Zustand wieder herzustellen. Die Veränderbarkeit der Daten erlaubt es den Editoren zudem, Rückmeldungen konstruktiv zu nutzen, unmittelbar darauf einzugehen. Während bei gedruckten Daten die Veröffentlichung ein festes Ziel definiert, ist die Arbeit an digitalen Datenbeständen theoretisch ›open-ended‹.

Starre Präsentation: Da der Inhalt jeder Seite und die Abfolge der Seiten unabänderlich sind, werden die Daten immer auf dieselbe Weise dargeboten: Es ist normalerweise nicht möglich, drei oder vier Seiten eines Buches gleichzeitig zu betrachten, Daten auszublenden oder in eine andere Reihenfolge zu bringen. Die Farbe und Art der Schrift, die Größe der Buchstaben, die Auflösung der Bilder und die Verteilung des Textes auf der Seite können nicht verändert werden. Daher sind die Darstellung nicht-linearer Textzusammenhänge, die Beschreibung vielschichtiger textgenetischer Vorgänge und die Dokumentierung textueller Interdependenzen äußerst aufwändig, mitunter unübersichtlich. Prozesse können nur bedingt abgebildet werden, man muss sie verbalisieren und typografisch kodieren.

Flexibilität in der Datenpräsentation ist einer der größten Vorteile des Computers. Diese Flexibilität bezieht sich nicht nur auf äußere Merkmale wie Schriftgröße, -farbe oder -art, sondern auch auf die Zusammenstellung der Daten. Der Computer erlaubt die Darstellung dynamischer Vorgänge, die Generierung neuer Datenobjekte (beispielsweise einer Wortliste), die Veränderung der Anordnung von Daten und verschiedene Perspektiven auf die Daten. Theoretisch könnte man jede Textstufe oder Textfassung als Basistext verwenden. Es ist ferner möglich, Datenredundanzen zu vermeiden und trotzdem Daten, die sich aufeinander beziehen, immer zusammen zu präsentieren. Gleichzeitig können die Grenzen zwischen primären und sekundären Daten wesentlich deutlicher gemacht werden.

Starrer Typus: Die starre Form und Präsentation des Buches bedingen auch, dass jede Edition nur einem Typus angehören kann. Die Editoren müssen sich von Beginn an auf die Leserschaft, die Dimensionen (›Breite‹ und ›Tiefe‹) der Datenpräsentation, die editorischen Methoden und Ziele festlegen. Eine gedruckte historisch-kritische Edition kann nicht gleichzeitig eine Studien- und/oder Leseausgabe sein.

Digitale Editionen können theoretisch verschiedene Ausgabentypen in sich vereinen und – wenn sie entsprechend ausgelegt sind – nach Bedarf generieren. Durch die größere Variabilität in der Datendarstellung kann besser auf die augenblicklichen informationellen Bedürfnisse des Benutzers eingegangen werden, der Leser bekommt dabei nur die Daten zu Gesicht, die er wirklich benötigt, Details werden bloß angeboten, wenn sie gebraucht werden. Dies bedeutet, dass sich eine digitale Edition den Ansprüchen und Anforderungen des Benutzer (kontinuierlich) anpassen kann.

Kapazität: Papier hat eine festgelegte und begrenzte Datenkapazität pro Einheit. Die maximale Menge an Daten auf einer Seite kann nicht erweitert werden. Die Editoren müssen die Datenpräsentation diesen Gegebenheiten anpassen, jede Struktur muss sich dem unterordnen. Auch Größe und Anzahl der Seiten in einem Buch können nicht beliebig erweitert werden ohne die Handhabung nachhaltig zu erschweren. In einem Buch hat die Menge der Daten einen unmittelbaren Zusammenhang zur Materialität. Mehr Daten bedeuten zwangsweise ›mehr Buch‹. Bei vielen Editionen ist es daher notwendig, die Daten auf mehrere Bände zu verteilen und dadurch zu fragmentieren beziehungsweise durch Selektion und Kompression die Menge der Daten zu verringern. In einem größeren Zusammenhang betrachtet stellt die Verbindung zwischen Datenmenge und Datenmasse in einer Zeit beschleunigter und verstärkter Datenproduktion viele Bibliotheken vor Probleme.

Doch gerade auf dem Gebiet der Datenspeicherung entfaltet der Computer sein ganzes Potential. Besonders bei historisch-kritischen Editionen und bei Werken sehr produktiver Autoren, wenn also die Editoren mit großen Datenmengen konfrontiert werden, zeigt sich die Überlegenheit der digitalen Speicherung. CD-ROMs und DVDs bieten jeweils Platz für manche Meter Regal, zehntausende von Seiten, für viele hochauflösende, zoombare Bilder, für Sound- und Video-Dateien. Die Speicherkapazität wird zusätzlich erweitert, wenn der Datenzugriff über Computernetzwerke erfolgt. Außerdem sind die Editoren bei der Gestaltung von logischen Einheiten nicht an die Dimensionen einer Seite gebunden und es ist nicht notwendig, Daten verschiedenen Ursprungs zum Zweck der Speicherung oder Präsentation in einer Einheit zu verbinden.

Erhältlichkeit: Jedes Buch kann nur von einem Leser zurzeit benutzt werden. Wenn in einer Bibliothek nur ein Exemplar eines Buches zur Verfügung steht (was bei wissenschaftlichen Editionen die Regel ist) und dieses Exemplar gerade verwendet wird, müssen alle anderen Interessenten warten. Die ›Einmaligkeit‹ eines jeden Buches wird besonders dann deutlich, wenn das Buch auf der Leseliste eines Seminars steht und mehrere Personen gleichzeitig den Text für ihr wissenschaftliches Arbeiten benötigen, wenn das Buch abhanden gekommen ist oder wenn man es nur für einen begrenzten Zeitraum ausleihen darf, wie es beispielsweise bei Büchern der Fall ist, die über den Fernleihverkehr bezogen wurden. Für Personen außerhalb der akademischen Welt ist es oft noch umständlicher und langwieriger, Zugriff auf wissenschaftliche Editionen zu erhalten. Schließlich sollte auch die Situation in Ländern bedacht werden, in denen entweder das Bildungssystem in schlechtem Zustand ist und/oder zu wenige Personen Interesse an einer bestimmten Edition haben, um den öffentlichen Erwerb rechtfertigen zu können.

Digitale Daten können von vielen Personen gleichzeitig verwendet werden, wenn sie über Computernetzwerke zur Verfügung gestellt werden. Zudem entfallen die Ortsgebundenheit des Datenzugriffs wie auch jede zeitliche Abhängigkeit.

Materialität: Wissenschaftliche Editionen als ›akademische Werkzeuge‹ können der Abnutzung nicht entgehen, eingeschlossen Eselsohren, ausgeleierte Buchrücken, angestoßene Umschlagecken, Unterstreichungen, Randnotizen und zerknitterte, angerissene oder fehlende Seiten. Viele dieser Schäden werden auch durch das Fotokopieren verursacht, wobei hier durch die intensive Belichtung das Material zusätzlich belastet wird. Editionen als Gebrauchsgegenstände und Objekte können also grundsätzlich beschädigt werden, verloren gehen, verlegt (beispielsweise durch falsches Einordnen in die Regale) oder gestohlen werden.

Natürlich können digitale Datenträger wie CD-ROMs ebenso verloren gehen, verlegt oder durch Gebrauch abgenützt und Daten auf Festplatten beschädigt werden, doch es ist viel leichter, ihre Datenintegrität zu überprüfen und gegebenenfalls vollständig wiederherzustellen. Die Verwahrung von Sicherungskopien an verschiedenen Orten sowie präventive und regelmäßige Datenerhaltungsmaßnahmen gewährleisten die Integrität, Tradition und Funktionsfähigkeit der Daten.

Datenzugriff: Der begrenzte Platz auf den Seiten, der Versuch, redundante Daten zu vermeiden und die Anstrengung, zusammengehörige Daten auf der gleichen Seite zu präsentieren, haben zur Herausbildung unterschiedlicher Methoden der Transkription handschriftlicher Daten und verschiedener Typen von kritischen Apparaten geführt. In den meisten Fällen muss der Benutzer daher die gewünschten Informationen erst ›dekodieren‹ und anschließend kontextualisieren. Erschwerend kommt hinzu, dass es keine verbindlichen Regeln gibt, beziehungsweise mehrere Systeme. Der größte Nachteil beim Zugriff auf papiergebundene Daten ist jedoch, dass einzig und allein durch Lesen eine Verarbeitung erfolgen kann und ein gezielter Zugriff nur durch genaue bibliographische Referenzen in der Sekundärliteratur oder durch die von der Edition bereitgestellten Indizes und Verzeichnisse möglich ist. Die Verwendung eines Index kann sich jedoch als sehr mühsam und zeitaufwändig erweisen, besonders wenn man immer wieder – möglicherweise sogar in verschiedenen Bänden – hin- und herblättern muss. Automatisierte Datenextraktion ist nicht möglich.

Durch die Kapazität digitaler Datenträger, die Flexibilität in der Datenpräsentation und die Möglichkeiten des Computers zur Datenverarbeitung und zum Datenzugriff werden die funktionale Qualität und der Informationsgehalt der Daten erhöht. Darüber hinaus kann der Editor durch entsprechende Auszeichnung der Daten und die Verknüpfung mit Datenbanken oder mit anderen elektronischen Quellen das Informationspotential weiter steigern und den Benutzern den hermeneutischen Zugang und das Verstehen erleichtern.

Auf der Seite der Vorzüge des Buches gegenüber den digitalen Textausgaben werden drei immer wieder hervorgehoben: die leichte Bedienbarkeit, die Langzeithaltbarkeit und die Zitierbarkeit. Bücher sind (in der Mehrzahl) nicht nur leicht zu handhaben und zu transportieren, sondern benötigen grundsätzlich weder zusätzliche Maschinen noch elektrischen Strom um zu ›funktionieren‹. Überdies sind alle Daten immer an der gleichen Stelle zu finden. Zusammen mit dem Aspekt der materiellen Haltbarkeit ergibt sich die Eigenschaft der Datenpermanenz. Auch die Zitierbarkeit hängt damit zusammen: Unveränderliche Daten auf einem stabilen, ›Read-Only‹-Datenträger können sehr genau adressiert werden und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Daten so für einen längeren Zeitraum exakt nachprüfbar sind, begründet ihre Bevorzugung im wissenschaftlichen Diskurs.

Um diese Vorteile des Buches mit jenen der digitalen Daten und des Computers zu verbinden, werden verschiedene Ausgaben als Hybrid-Editionen angeboten. In Idealform dient hierbei ein gedruckter Teil als Leseausgabe, »während eine elektronische Fassung für die wissenschaftliche Aufschlüsselung sorgt durch Indices, eine Suchmaschine und durch intelligentes Tagging«.[11] Tatsächlich geben sich aber die wenigsten Editoren damit zufrieden, in gedruckter Form ›nur‹ eine Leseausgabe zur Verfügung zu stellen, sondern bieten eine vollständige (historisch-) kritische Edition, die jederzeit auch ohne die elektronischen Daten verwendet werden könnte. Oft entsteht daher der Eindruck, dass die digitale Komponente – normalerweise in Form einer CD-ROM – nur ein Add-On zu sein scheint, eine Dreingabe, die hauptsächlich dazu dient, die Modernität der Edition zu unterstreichen, ein Verkaufsargument zu liefern oder (im Vorfeld) die öffentliche Förderung sicherzustellen. Es ist daher auch häufig gerechtfertigt, eher von zwei völlig unabhängigen Editionen oder einer Doppeledition zu sprechen als von einer ›echten‹ Hybrid-Edition, bei der sich der volle Funktionsumfang und informationelle Nutzen erst aus der Kombination der beiden Teile ergibt. Bei Doppeleditionen hingegen muss die Frage gestattet sein, ob entweder die digitale Präsentation wirklich nutzbringend ist (was auch eine Frage nach dem Funktionsumfang der digitalen Komponente der Edition umschließt), oder – von der anderen Seite betrachtet – ob ein Druck überhaupt notwendig gewesen wäre und unter Umständen nur dazu dient, diejenigen Benutzer zu besänftigen, die dem Computer beziehungsweise der digitalen Edition skeptisch gegenüberstehen.

Vielleicht wollen die Editoren in dieser Zeit der digitalen Inkunabeln aber auch nur sicherstellen, dass die mühsam erarbeiteten Daten noch zur Verfügungen stehen, wenn die CD-ROMs und DVDs von heute technisch überholt oder materiell unbrauchbar geworden sind. Dabei ist klar, dass die Haltbarkeit des Datenträgers in keinem notwendigen Zusammenhang mit der Gültigkeit und Nützlichkeit der darauf gespeicherten Daten steht. Die Forderung, dass wissenschaftliche Editionen in ihrer Materialität einen Bestand von 200 und mehr Jahren haben sollen, und die Kritik an elektronischen Texten, gerade diese Qualität nicht erreichen zu können, hat nur indirekt mit der inhaltlichen Qualität tun.[12] Jede Edition kann schon zum Zeitpunkt der Drucklegung in Teilen veraltet sein. Ein endgültiger, vollständig abgeschlossener Zustand kann ohnehin in den seltensten Fällen erreicht werden, und der Druck stellt daher nur die Fixierung einer ›Etappe‹ auf dem Weg zur ›perfekten‹ Edition dar (die als solches nur ein Konstrukt ist). Dies zumal, als der überwiegende Teil einer Edition erst durch die Veröffentlichung in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht wird, was zwangsweise bedeutet, dass die Edition nur noch kritisiert, nicht aber nachhaltig verbessert werden kann.

Gewohnheitsmäßig werden digitale Editionen als elektronische Varianten eines bereits existierenden Editionstypus verstanden. Doch verschiedene editorische Unternehmungen wissenschaftlichen Anspruchs, insbesondere solche, die allein online verfügbar sind, vermeiden den Begriff ›Edition‹ und wählen stattdessen Bezeichnungen wie ›Projekt‹ oder ›Archiv‹. Zum einen wird dadurch die von der gedruckten Edition verschiedene Produktions- und Veröffentlichungsweise ausgedrückt, zum anderen aber auch eine veränderte Vorstellung von den Aufgaben und den Inhalten einer wissenschaftlichen Edition. Auch digitale Editionen, die durch die Flexibilität der Datenpräsentation in der Lage sind, mehrere Editionstypen zu generieren, sind grundsätzlich verschieden von den gedruckten Editionen, die nur einen Typus darstellen. Digitale Editionen – online und offline – können Daten anders und andere Daten darstellen als es bei gedruckten Editionen der Fall ist. Dadurch und durch die Funktionalität entsteht etwas, das nicht mehr in die gewohnten Ausgabentypologien passt, ein eigener Editionstypus.

Die beinahe ketzerische Frage nach dem ›Warum noch Drucken?‹ stellt also nicht Sinn und Zweck von wissenschaftlichen Editionen in Frage, sondern allein ihre gedruckte Manifestierung. Es ist eine Frage, die man heute an den Anfang eines jeden Editionsprojekts setzen muss. Es geht um ein realistisches und ehrliches Abwägen der Vor- und Nachteile aller zur Verfügung stehenden Veröffentlichungsformen. Dabei wird man zu dem Ergebnis kommen, dass es nicht länger notwendig ist, alle wissenschaftlichen Editionen gedruckt bereitzustellen.

Digitale Editionen sind auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Computerisierung unserer Gesellschaft zu sehen. Computer verändern die Art und Weise unseres Umgangs mit Daten und Informationen. Es ist daher unangebracht, sich darüber zu beschweren, dass die digitalen Editionen nicht in jeder Hinsicht mit den alten Arbeitsmethoden kompatibel sind, denn auch diese stehen grundsätzlich zur Diskussion und sind Veränderungen unterworfen. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nur möglich, wenn man alle zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen nutzt und sinnvolle Innovationen zulässt. Das Buch galt über Jahrhunderte als perfekte Symbiose von Form und Inhalt und erst jetzt, da elektronische Texte in allen Bereichen des Lebens eine immer wichtigere Rolle spielen und den Status der Alltäglichkeit erreicht haben, werden uns die Unzulänglichkeiten von Papier in gebundener Form deutlich vor Augen geführt. Auf wissenschaftliche Editionen können wir nicht verzichten. Doch es muss dringend die Frage gestellt werden, ob es immer sinnvoll ist, diese so mühsam erstellten Editionen zu drucken.

Sören Steding (Regensburg)

Sören Steding, M.A.
Institut für Germanistik
Universitätsstr. 1
93040 Regensburg
soeren.steding@yahoo.com


(26. November 2001)
[1] Siehe beispielsweise: Erhard Weidl: Das Elend der Editionstechnik. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1975, S. 192.
[2] Es geht im Folgenden hauptsächlich um Editionen literarischer Texte, wobei viele Aussagen auch auf wissenschaftliche Editionen anderen Inhalts zutreffen.
[3] Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart: Reclam 1997, S. 9.
[4] Siegfried Scheibe: Plädoyer für historisch-kritische Editionen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1990, S. 407.
[5] Der Begriff ›Volksausgabe‹ ist wenigstens problematisch und sollte wohl besser vermieden werden.
[6] Gunter Martens: Immer noch Wissenschaft auf Abwegen? In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1990, S. 399f.
[7] C. Michael Sperberg-McQueen: Textual Criticism and the Text Encoding Initiative. In: Richard Finneran (Hg.): The Literary Text in the Digital Age. Ann Arbor: University of Michigan Press 1996, S. 40.
[8] Ebda., S. 9.
[9] Siehe dazu beispielsweise die Übersicht der Editionsprojekte in der Germanistik.
[10] Normalerweise versteht man unter Hybrid-Edition eine Kombination von Buch und digitalen Daten (meist auf CD-ROM). Ebenso könnte man aber auch die Kombinationen Offline/Online (beispielsweise CD-ROM und Internet) oder Buch/Online als Hybrid-Editionen bezeichnen.
[11] Roland Kamzelak: Edition und EDV. Neue Editionspraxis durch Hypertext-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth et al. (Hg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin: Erich Schmidt 2000, S.78.
[12] Überdies muss bedacht werden, dass die Langzeitlagerung digitaler Daten ein dynamischer, kontinuierlicher Prozess ist und die dafür notwendigen Mechanismen und Methoden grundsätzlich verschieden sind von jenen für die gedruckten Daten.