PETER ROBINSON (HG.): CHAUCER. THE WIFE OF BATH'S PROLOGUE ON CD-ROM. CAMBRIDGE U.A.: UNIVERSITY PRESS 1996. [PREIS: 150,- GBP].

ELIZABETH SOLOPOVA (HG.): CHAUCER. THE GENERAL PROLOGUE ON CD-ROM. CAMBRIDGE: UNIVERSITY PRESS 2000. [PREIS: 150,- GBP].

ESTELLE STUBBS (HG.): THE HENGWRT CHAUCER DIGITAL FACSIMILE. LEICESTER: SCHOLARLY DIGITAL EDITIONS 2000. [PREIS: 70,- BZW. 150,- GBP].

Die Chaucer-Forschung hat in letzter Zeit durch eine Reihe von elektronischen Editionen entscheidende Impulse erfahren. Getragen werden diese Publikationen durch das von Norman Blake und Peter Robinson geleitete Canterbury-Tales-Projekt (ehedem Oxford, jetzt Sheffield und Leicester), das mittlerweile auf eine über zehnjährige Tätigkeit zurückblickt und nunmehr innerhalb kurzer Zeitabstände drei digitale Teilausgaben der Canterbury Tales vorgelegt hat. Zunächst im traditionsreichen Verlagshaus Cambridge University Press, zuletzt im Eigenverlag Scholarly Digital Editions erschienen, dokumentieren die drei CD-ROM-Ausgaben zugleich unterschiedliche Stationen und Ausrichtungen der zunehmend komplexer gewordenen Projektarbeit.[1]

Wissenschaftsgeschichtlich steht die elektronische Chaucer-Edition in der Tradition der Forschungen von Manly und Rickert, die im Jahr 1940 ein achtbändiges Werk zur Überlieferungsgeschichte der Canterbury Tales vorlegten, das in der Fachwelt jedoch nur wenig Anerkennung fand.[2] Auf der Grundlage der Kollation sämtlicher Textzeugen versuchten die Verfasser zu einem ›Urtext‹ der Canterbury Tales vorzudringen, deckten dabei jedoch allenfalls die Probleme einer schwierigen, über 80 Handschriftenzeugen umfassenden Textgeschichte auf, die von unterschiedlichen Schreibergewohnheiten, iterierenden Varianten (im englischen Sprachgebrauch: »coincident variation«), Vorlagenwechseln, Kontamination und divergierenden Anordnungen der Tales geprägt ist. In vielen Fällen stellten die beiden Verfasser mehr Fragen als sie beantworten konnten.

Robinson setzt an diesem Punkt mit seiner elektronischen Edition von The Wife of Bath's Prologue an, der nach philologischem Ermessen zugleich einen Paradefall jener überlieferungsgeschichtlichen Probleme darstellt, die in den Canterbury Tales begegnen. Die Ausgabe umfasst die Transkriptionen sämtlicher Handschriftenzeugen, die von einem an Manuskript Hengwrt orientierten Basistext aus erschlossen werden. Letzterer beansprucht nicht, mit dem Autortext identisch zu sein; vielmehr soll er es den Lesern ermöglichen, in die verzweigten Wege der Überlieferung vorzudringen. Durch Hypertext-Links gelangen die Benutzer der CD-ROM in die einzelnen Handschriften, die ein durchaus heterogenes Bild vom Charakter der Frau aus Bath zeichnen. So versucht beispielsweise das Hengwrt-Manuskript (angefertigt um 1400, Chaucers Todesjahr) die lüsternen Allüren der Frau von Bath zu glätten, während die etwa aus derselben Zeit stammende Handschrift Ellesmere diesbezüglich sehr viel freizügiger verfährt.[3] Auf diese Weise können die Benutzer abweichende Lesarten in der Vernetzung mit dem Basistext wahrnehmen und die Varianten zugleich im Kontext der einzelnen Handschriften betrachten. »It will be possible to see the text as a living and developing entity«, betont der Chaucer-Forscher Norman Blake in einem Aufsatz, der in einer Begleitreihe zum Projekt erschienen und der CD-ROM außerdem in digitalisierter Form beigegeben ist.[4] Weitere wissenschaftliche Beiträge der CD-ROM befassen sich mit den von der Projektgruppe erarbeiteten Transkriptionsrichtlinien (einem Mischtyp zwischen dem genauen Nachvollzug des Schriftbilds – etwa mit allen Abkürzungen und Buchstabenformen – und bestimmten Vereinheitlichungen, zwischen so genannter graphemischer und graphetischer Schreibweise), mit handschriftlichen Marginalien, den Manuskriptbeschreibungen und einer neu erarbeiteten Zeilenzählung.

Den eigentlichen Wert der CD-ROM aber machen jene Elemente aus, die in einer Buchedition nur unzureichend dargestellt werden können: Die Transkriptionen sind mit Schwarz-Weiß-Abbildungen der einzelnen Handschriften verlinkt, was einen Einblick in individuelle Schreibergewohnheiten gewährt. Hinzu treten Kollationen in normalisierter und unnormalisierter Schreibweise, eine Datenbank zu den einzelnen Wortformen, die ihrerseits mit den Transkriptionen verlinkt ist, sowie Suchmöglichkeiten in einer »Find«-Leiste. Im Hintergrund der Aufbereitung dieses Datenmaterials steht das Softwareprogramm Collate, das Peter Robinson für die Transkription der Textzeugen und deren Kollationierung entwickelt hat. Es zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es große Datenmengen verarbeiten kann und gegebenenfalls den Wechsel der dem Basistext zu Grunde gelegten Leithandschrift erlaubt.[5]

Während die Edition von The Wife of Bath's Prologue angesichts einer mittlerweile schon etwas veralteten Benutzeroberfläche und der technisch unzulänglichen Schwarz-Weiß-Faksimiles einen mitunter etwas spröden Eindruck vermittelt, haben die beiden im Jahr 2000 erschienenen Folgeausgaben beachtliche Neuerungen zu bieten. Zwar hat sich auf der von Elizabeth Solopova herausgegebenen CD-ROM des General Prologue das äußere Erscheinungsbild nur unwesentlich geändert; doch sind hier die Transkriptionen und handschriftlichen Abbildungen durch stemmatologische Untersuchungen ergänzt, die von den Benutzern interaktiv nachvollzogen werden können.

In einem »Analysis Workshop« verdeutlicht Robinson, dass er nicht die Rekonstruktion eines Archetypus anstrebt, sondern den Benutzern eine Lektüreerfahrung vermitteln möchte, die ihnen die Überlieferungsvielfalt der Canterbury Tales vergegenwärtigt. Der Schwerpunkt verschiebt sich von dem durch die Autorität eines Herausgebers verantworteten Autortext auf die Beteiligung der Leser am Editionsvorgang: »[...] our aim is not to help editors edit, but to help readers read« (unpag.), betont Robinson. Er trifft sich hierbei mit neueren textwissenschaftlichen Tendenzen, die sowohl einen verbindlichen Autortext wie auch die Endgültigkeit von dessen editorischer Erschließung in Frage stellen.[6] Wenn Robinson sein Verfahren einigermaßen provozierend »New Stemmatics« (unpag.) nennt, so hat er dabei nicht die traditionelle Stemmatologie im Sinn. Aus den vielfältigen Überlieferungsvarianten und handschriftlichen Verästelungen soll kein ›Urtext‹ hergestellt werden, vielmehr geht es um die Identifizierung der maßgeblichen Handschriftengruppen (»fundamental witness groups« (unpag.)), die für die Überlieferungsgeschichte bestimmend sind.

Robinson ermittelt diese Gruppen über so genannte ›Unrooted Trees‹, die keinen Archetypus als Aufhängungspunkt haben. Vielmehr machen sie, ausgehend von einem virtuellen Zentrum (gewissermaßen dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Überlieferungsvarianzen), Handschriftenbündel sichtbar, die dezentral von diesem Mittelpunkt ausgehen. Methodisch ist das Verfahren mit Forschungen vergleichbar, die der Romanist Anthonij Dees in den Siebziger- und Achtzigerjahren an altfranzösischem Material durchgeführt hat.[7] Doch lehnt sich Robinson insgesamt stärker an naturwissenschaftliche, insbesondere evolutionsbiologische Methoden an. Für die Bestimmung handschriftlicher Verwandtschaften speist er die Transkriptionen und Datenkollationen in kladistische Analyseprogramme wie PAUP und SplitsTree ein.

Zu Grunde liegt hierbei die Annahme, dass handschriftliche Abweichungen und Übereinstimmungen entsprechend den verwandtschaftlichen Beziehungen der biologischen Arten untersucht und dargestellt werden können. Die auf diese Weise durchgeführten Algorithmen sind jedoch nicht der ›stemmatologische‹ Endpunkt der Untersuchung; sie stehen vielmehr am Beginn einer philologischen Erforschung der Textgeschichte. Nachdem die mit dem Computer ermittelten ›Unrooted Trees‹ einen ersten Eindruck von handschriftlichen Gruppierungen vermittelt haben, führt Robinson mit Hilfe einer Variantendatenbank statistische Untersuchungen durch, die allein erst eine philologische Beurteilung der Variantenstreuung und eine Ermittlung von Handschriftengruppen ermöglichen. Im Verbund der kladistischen Analysen mit den Datenbank-Erhebungen werden die textgeschichtlichen Befunde zunehmend verfeinert.[8]

Die dabei erzielten Ergebnisse vermögen ältere überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu den Canterbury Tales einerseits zu bestätigen, andererseits zu korrigieren und zu präzisieren. Dies gilt etwa für die Beurteilung der Handschriftengruppe α, die auf eine frühe Redaktion der »Canterbury Tales« zurückgehen könnte. Mit aller gebotenen Vorsicht vermag Robinson zu zeigen, dass dieses α-Exemplar vermutlich älter als das Hengwrt-Manuskript und unabhängig von weiteren Großgruppen wie AB und CD war. Es hätte Zusatzverse, wie sie in der Ellesmere-Handschrift begegnen,[9] und weit auseinander liegende Abschnitte wie den General Prologue und The Wife of Bath's Prologue enthalten (was der in der Chaucer-Forschung immer wieder vertretenden Annahme einer frühen Verbreitung separater Teile der Canterbury Tales widerspräche).

Die Benutzer der CD-ROM werden angeregt, solche Thesen nachzuvollziehen und kritisch zu beurteilen, indem sie ihrerseits mit dem beigegebenen Analyseprogramm SplitsTree und der von Robinson zur Verfügung gestellten Variantendatenbank experimentieren. Der ausführliche stemmatologische Kommentar, der auf den »Analysis Workshop« folgt, widmet sich der philologischen Beurteilung von Einzellesarten.

Einen anderen Weg philologischer Textaufbereitung beschreitet die dritte von Estelle Stubbs herausgegebene CD-ROM. Sie macht mit dem Hengwrt-Manuskript eine wichtige Einzelhandschrift der Canterbury Tales im elektronischen Medium verfügbar. Der mit dieser Publikation erzielte technische Fortschritt zeigt sich unmittelbar im Blick auf die erste Seite des Codex (Bl. 2r). Während die CD-ROM zum General Prologue nur eine schlecht lesbare und ästhetisch unbefriedigende Schwarz-Weiß-Kopie bietet, liegen nunmehr hochwertige, mit einer Digitalkamera angefertigte Farbaufnahmen vor. Methodisch steht hier die möglichst authentische Darstellung eines einzelnen Überlieferungsträgers im Vordergrund, auch wenn textgeschichtliche Fragen nicht völlig ausgeblendet werden.

Den Abbildungen der Handschriftenseiten beigegeben sind schematische Erläuterungen der Lagenstruktur und Angaben zur Zeilenzählung (unterschieden nach der konventionellen Zählung der Chaucer-Forschung, nach der Riverside-Ausgabe und nach der von der Projektgruppe entwickelten Zählung). Die Bildgröße kann von 100 Prozent auf bis zu 25 Prozent verkleinert und auf bis zu 200 Prozent vergrößert werden. Ein zusätzlich eingeblendetes Zeigefeld, das die Handschrift ›en miniature‹ abbildet erlaubt es den Benutzern, sich auch bei hohen Vergrößerungsmaßstäben auf der nebenstehenden Manuskriptseite zurecht zu finden. Optional aufrufbar sind die Transkriptionen der einzelnen Handschriftenseiten, ein Parallelabdruck mit der Transkription des Ellesmere-Manuskripts sowie Darstellungen der in der aufgeschlagenen Handschrift gegenüberliegenden Seiten beziehungsweise der auf den einzelnen Doppelblättern einer Lage zusammengehörenden Seiten (englisch: ›conjugates‹). Hypertext-Links ermöglichen zu jeder Zeit das Wechseln zwischen den Abbildungen, Transkriptionen und Lagenbeschreibungen, die ihrerseits die Ordnung der Tales im Hengwrt-Manuskript dokumentieren. Erwähnung verdienen auch die eleganten Suchmöglichkeiten der CD-ROM. Ein SGML-basierter Befehl gestattet nicht nur das Auffinden einzelner Wörter und Wortfolgen, sondern ermöglicht zudem die Suche nach Textstellen, die bei der Transkription besonders kodiert wurden (etwa bei Streichungen oder Ergänzungen). Über ein »Go to«-Menü können einzelne Handschriftenseiten ebenso wie bestimmte Verse aufgerufen werden.

Diese Darstellungsverfahren ermöglichen ein genaues Studium der Handschrift und dürften für unterschiedlichste Forschungszwecke dienlich sein. Denkbar sind paläographische, dialektologische und überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, die nun unabhängig vom lokalen Standort der Forscher durchgeführt werden können. Auch konservatorischen Gesichtspunkten kommt das Verfahren sehr entgegen.

Ergänzend enthält die CD-ROM eine exakte Handschriftenbeschreibung, die hier – wie auch in den früheren elektronischen Ausgaben – von Daniel W. Mosser stammt. Estelle Stubbs, die das Manuskript über mehrere Jahre hin transkribiert hat, steuert Beobachtungen und Überlegungen zum Herstellungsprozess der Handschrift bei. Aufschlüsse über die Entstehungsgeschichte gestattet auch die tabellenartige Übersicht zur Verwendung unterschiedlicher Tintensorten durch den Hauptschreiber. Weitere Schemata zeigen die Gliederung der Handschrift nach Kopfzeilen (in der Regel Kurztitel wie »The Knyght«, »The Millere«) und die unterschiedliche Anordnung der Tales in den beiden Haupthandschriften Hengwrt und Ellesmere auf. Zusätzliche Farbabbildungen dokumentieren das für Hengwrt verwendete Binde- und Makulaturmaterial sowie Überlieferungsgestalt und Wortlaut des Merthyr Fragments, dessen walisische Glossen transkribiert und ediert werden. Einschlägige Artikel befassen sich mit Aspekten der Schreibsprache und der photographischen Herstellung der digitalisierten Faksimiles.

Während die meisten Elemente der CD-ROM auf das Hengwrt-Manuskript konzentriert bleiben, eröffnet die erwähnte Synopse mit der Transkription des Ellesmere-Manuskripts auch für diese dritte CD-ROM eine überlieferungsgeschichtliche Perspektive. Im Parallelabdruck und dessen farblichen Auszeichnungen werden die Varianten dieser beiden frühen Haupthandschriften der Canterbury Tales sichtbar.

Insgesamt bilden die drei von der Projektgruppe herausgegebenen Editionen einen wichtigen Markstein nicht nur der Chaucer-Forschung, sondern der Mittelalterphilologie ganz allgemein. Sie bekunden eine neue, an der Materialität der Überlieferungsträger orientierte Haltung im Zugang zu den Textzeugen, die nun auch eine den technischen Möglichkeiten angemessene mediale Umsetzung erfährt. Bis zu einem gewissen Grad ist damit jene Publikationsstufe erreicht, die Bernard Cerquiglini in seinem pamphletartigen und heftig umstrittenen Eloge de la variante als Ziel einer postmodern orientierten Mediävistik in Aussicht gestellt hat.[10] Es kann hier nicht darum gehen, diese Diskussion erneut aufzurollen, doch seien vor ihrem Hintergrund abschließend die Möglichkeiten und Grenzen einer digitalen Edition der Canterbury Tales erwogen.

Zweifellos kann eine elektronische Mehrtextedition nicht von den wissenschaftlichen Aufgaben einer kritischen Textausgabe entbinden, geschweige denn diese ersetzen. Der Blick auf die handschriftliche Varianz eines mittelalterlichen Textes mag faszinierende Lektüreerfahrungen vermitteln, doch wird die große Mehrzahl derjenigen, die mit Texteditionen zu tun haben, nach wie vor einen verbindlichen Lesetext und eine Buchausgabe (mit den ihr eigenen Möglichkeiten des Blätterns und Anstreichens) wünschen. Dies gilt für die wissenschaftlichen Leser im engeren Sinne ebenso wie für eine breitere Öffentlichkeit, die sich den Canterbury Tales von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen her nähert. Dies gilt aber auch für Verlagshäuser, die sich in Editionsprojekten engagieren, und es gilt nicht zuletzt für die Herausgeber selbst, denen an einer nicht nur virtuellen Publikationsform ihrer jahrelangen editorischen Bemühungen gelegen ist.

Ungeachtet solcher Vorbehalte aber bietet die digitale Aufbereitung eine notwendige, ja künftig wohl unverzichtbare Voraussetzung für die Edition von handschriftlich reich überlieferten Texten, wie sie die Canterbury Tales darstellen. Die von Peter Robinson genutzten und in den elektronischen Publikationen dokumentierten Analysemethoden stellen zweifellos einen (wenn vielleicht auch nur einen) Weg zur wissenschaftlichen Durchdringung einer quantitativ und qualitativ komplexen Überlieferungsgeschichte dar. Im Rückgriff auf kladistische und statistische Methoden werden Wege durch das Dickicht einer sonst nur noch schwer durchschaubaren Textgeschichte gangbar.

Die Überlieferungsvielfalt selbst lässt sich in elektronischen Verfahren weitaus effizienter darstellen, als dies in kritischen Editionen des Printmediums mit konventionellen Apparaten möglich ist. Ein Ziel künftiger editorischer Bemühungen könnte darin bestehen, dass man die Möglichkeiten einer elektronischen- und einer Buchedition miteinander kombiniert. Im HTML-Bereich ist mittlerweile eine Editionsform machbar, die über verschiedene Fenster einen kritisch edierten Text mit einem oder mehreren Variantenapparaten, mit Handschriftentranskriptionen und digitalisierten Faksimiles verknüpft. Die Benutzer entscheiden dann von Fall zu Fall selbst, welche Textform sie benötigen oder ansteuern wollen. Je nach Fragestellung und Bedürfnissen kann von einer der genannten Komponenten zu einer anderen gewechselt werden. Kritischer Text und Variantenapparat(e) lassen sich zudem technisch komfortabel in eine Printedition überführen.

Wenig überzeugend ist der mitunter geäußerte Einwand, eine elektronische Mehrtextedition sei im Hinblick auf die mittelalterlichen Lektüregewohnheiten nicht angemessen, da die damaligen Leser nur selten mehr als einen Codex vor Augen gehabt hätten. Wissenschaftliches Arbeiten besteht ja gerade darin, nach Möglichkeit einen dem Untersuchungsobjekt übergeordneten Standpunkt einzunehmen und es von diesem Blickwinkel aus zu beurteilen. Was elektronische Textausgaben bieten, ist ein neuer Blick auf den handschriftlichen Text und sein materielles Erscheinungsbild. Die Ära nach Gutenberg gewährt damit auch Einblick in eine Zeit, in der Texte mühsam abgeschrieben wurden und dabei in ihrer Gestalt weitaus weniger stabil waren, als dies der Buchdruck mit der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift suggerierte. Unter den gegenwärtigen medialen Voraussetzungen dürfte die elektronische Publikation handschriftlicher Texte diese nicht einfach nur konservieren oder gar ersetzen, sondern vielmehr ein neues Interesse an deren Lektüre wecken.

Michael Stolz (Basel)

Prof. Dr. Michael Stolz
Unversität Basel, Deutsches Seminar
Arbeitsstelle Parzival-Projekt
Bernoullistr. 28
CH-4056 Basel
M.Stolz-Hladky@unibas.ch


(27. November 2001)
[1] Vgl. die Projektwebpage <http://www.cta.dmu.ac.uk/projects/ctp> (28.10.2001).
[2] John M. Manly/Edith Rickert: The Text of the Canterbury Tales. Studied on the Basis of All Known Manuscripts. 8 Bde. Chicago: University Press 1940.
[3] Berühmt sind die Zusatzverse 622-626 der Riverside-Ausgabe (aufgenommen in den Basistext der elektronischen Edition als Verse 604-4 bis 604-8): »I ne loved neuere by no discrecioun/But euere folwed myn appetit/Al were he short or long or blak or whit/I took no kepe so that he liked me/How poore he was ne eek of what degree« – ›Nie liebte ich mit Besonnenheit, sondern folgte immer meiner Begierde, gleichgültig ob er [sc.: mein Liebhaber] groß, klein, dunkel oder hell war. Mich kümmerte das nicht, solange er mir gefiel, wie arm und von welchem Stand er auch immer war‹.
[4] Vgl. Norman Blake: Editing the Canterbury Tales. An Overview. In: ders./Peter Robinson: The Canterbury Tales Project Occasional Papers Volume I, Oxford: Office for Humanities Communication. University Computing Services 1993, S. 5-18, hier S. 15.
[5] Vgl. Peter Robinson: Collate. A Program for Interactive Collation of Large Textual Traditions. In: Don Ross/Dan Brink (Hg.): Research in Humanities Computing 3. Selected Papers from the ALLC/ACH Conference, Tempe (Arizona), March 1991, Oxford: University Press 1994, S. 32-45.
[6] Maßgeblich beeinflusst haben die mediävistische Diskussion Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris: Éditions du Seuil 1989, sowie die Beiträge zur ›New Philology‹ in der Zeitschrift Speculum 65,1 (1990). Innerhalb der Altgermanistik wäre an die Mehrtextedition der Nibelungenklage von Joachim Bumke zu erinnern: Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Berlin u.a.: de Gruyter 1999. Dazu ders.: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin u.a.: de Gruyter 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]); und die kürzlich erschienene Besprechung von Karl Stackmann: Joachim Bumkes Ausgabe der Klage. Notizen zu einer bemerkenswerten Neuedition, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 120 (2001), S. 381-393.
[7] Vgl. etwa Anthonij Dees: Considérations théoriques sur la tradition manuscrite du Lai de l'Ombre. In: Neophilologus 60 (1976), S. 481-504; ferner die übersichtliche Zusammenfassung in der leider schwer zugänglichen Dissertation von Margot van Mulken: The Manuscript Tradition of the Perceval of Chrétien de Troyes. A stemmatological and dialectical approach. [Diss. Vrije Universiteit Amsterdam. Faculteit der Letteren] 1993, S. 45-61. Berührungen mit Dees' Schülerkreis zeigt Peter Robinsons Aufsatz: Computer Assisted Stemmatic Analysis and ›Best-Text‹ Historical Editing. In: Pieter van Reenen/Margot van Mulken (Hg.): Studies in Stemmatology. Amsterdam u.a.: John Benjamins 1996, S. 71-103.
[8] Neben der CD-ROM des General Prologue ist dieses Vorgehen auch dokumentiert in den Beiträgen von Robert O'Hara/Peter Robinson: Computer-Assisted Methods of Stemmatic Analysis. In: The Canterbury Tales Project Occasional Papers Volume I (wie Fußnote 4), S. 53-74; und Peter Robinson: A Stemmatic Analysis of the Fifteenth-Century Witnesses to The Wife of Bath's Prologue. In: Norman Blake/ders. (Hg.): The Canterbury Tales Project Occasional Papers Volume II, London: Office for Humanities Communication 1997, S. 69-132.
[9] Vgl. Fußnote 3.
[10] Vgl. Fußnote 6, S. 111-116.