J. Yellowlees Douglas arbeitet seit bald zehn Jahren zum Thema ›Hypertext‹, dies sowohl als Autorin als auch als Kritikerin. Ihre Hyperfiction I Have Said Nothing, die 1994 entstand und bei Eastgate auf Diskette erschien, wurde zusammen mit Michael Joyces Hyperfiction-Inkunabel Afternoon, a Story 1997 als erste Hyperfiction überhaupt in die Norton-Anthologie Postmodern American Fiction aufgenommen und erhielt somit die offizielle Anerkennung der literarischen Welt. Ebenfalls 1994 veröffentlichte Douglas das in der amerikanischen Szene viel beachtete Essay How do I stop this thing, eine Untersuchung, die die Wirkung eines literarischen Hypertextes und insbesondere der Verdrängung des Schlusses einer Geschichte auf den Akt des Lesens prüfte. Darin analysierte Douglas vor allem Michael Joyces Hyperfiction Afternoon, a Story, die bereits 1987 entstanden war und 1991 durch die Publikation bei Eastgate einem breiten Publikum zugänglich gemacht worden war.
Im neuen Buch The End of Books – or Books without End? thematisiert Douglas die Rezeption von literarischen Hypertexten und Print-Texten. Ihr spezielles Interesse gilt der Art und Weise, wie Hyperfictions funktionieren und auf den Leser wirken. Die zentrale Frage des Buches lautet: Wie liest man überhaupt Hyperfiction? Weiter wirft die Autorin einen genauen Blick auf den Stand der (amerikanischen) Hypertext-Kritik, wagt einen Ausblick auf die Zukunft von interaktiver Narration und skizziert einen »New Realism« (S. 157f.).
»Das Buch ist tot, es lebe das Buch!« Die Begrüßung im ersten Kapitel von Douglas' Buch ist unmissverständlich. Einführend geht sie auf einige wichtige Bücher und Essays von Theoretikern zum Thema ›Hyperfiction‹ ein. Dabei erhalten die ältern Aufsätze (1988-1994), die sich ausschließlich mit dem Thema ›Narration in den Werken von Michael Joyce und Stuart Moulthrop‹ befassen, positive Beurteilungen, während Espen Aarseth (1997), der sich mit seiner umfassenden Studie in neue Dimensionen vorwagt, Federn lassen muss. Douglas kritisiert Aarseths Auffassung von Interaktivität, die sich ausschließlich auf das Verhältnis Autor-Computer-Text bezieht, wenig Interesse am Verhältnis Autor-Text-Leser zeigt und den Hypertext als ein statisches Phänomen beschreibt im Gegensatz zum dynamischen Cybertext.
Eine interessante und zentrale Unterscheidung gelingt Douglas basierend auf Janet Murrays Hamlet on the Holodeck (1997): Sie grenzt textzentrierte Hypertexte wie Stuart Moulthrops Victory Garden mit dem Begriff »Hypertext Fiction« und bildbasierte Texte beziehungsweise multimediale Spiele wie Jordan Mechners The Last Express mit dem Begriff »Digital Narratives« voneinander ab. Doch trotz den offensichtlichen Unterschieden sieht sie zahlreiche Gemeinsamkeiten: Beide Kategorien befassen sich mit ihrem Medium sowie mit den vorausgegangenen Genres wie »Adventures« und »Science Fiction«, im Falle der »Digital Narratives«, und »Avantgarde-Literatur« mit multiplen Perspektiven im Falle der »Hypertext Fictions«. Diese zentrale Feststellung dient Douglas als Ausgangspunkt einer großen Frageliste zu narrativen und interaktiven Aspekten von konventionellen Print-Texten, Hypertexten und digitalen Werken. Die wichtigsten Fragen lauten: Was hält eine Narration zusammen? Welche Hypertext-Geschichten eignen sich als Geschichten ohne Enden? Was bewirkt Interaktivität? Und welchen Einfluss wird Interaktivität darauf haben, wie wir Geschichten in Zukunft erzählen werden? Die Antworten auf diese Fragen gibt Douglas in den nachfolgenden Kapiteln mittels detaillierter Erörterung narrativer Textbeispiele und minutiöser Schilderung von Leseerfahrungen.
Das zweite Kapitel mit dem Titel »Bücher ohne Seiten – Romane ohne Enden« dient Douglas dazu, dem Leser in einer Tour d'Horizon die Gattung Hypertext und ihre narrativen Möglichkeiten zu vermitteln. Sie stützt sich dabei in erster Linie auf Joyces Afternoon, a Story und Andrew Nelsons Titanic: Adventure out of Time (1996) und geht ausführlicher auf die acht unterschiedlichen ›End‹-Spiele letzterer Narration ein. Hypertext Fiktionen arbeiten mit zahlreichen Segmenten und mehreren hundert Links und geben einem Leser so die Möglichkeit, hunderte von möglichen Textversionen zu generieren; darunter auch einige, die dem Autor nicht bekannt sind oder die er nicht vorausgesehen hat. Hypertext ist für Douglas ebenso ein Konzept wie eine Form von Technologie. Leser interaktiver Narrationen können die neu gefundene Freiheit der Auswahl und der Entscheidungen genießen und selbst bestimmen, wie das Ende der Story aussehen wird. Doch andererseits wird gerade bei einer interaktiven Narration wie Titanic: Adventure out of Time durch das Erkennen der limitierten Auswahlmöglichkeiten klar, dass ein Hypertext-Leser (beinahe) so eingeschränkt ist wie der Leser eines konventionellen Textes, denn auch er begegnet ständig Determinationen im Text und in der Knotenstruktur, die er nicht umgehen kann. Eine solche Erkenntnis widerspricht der verbreiteten Meinung, dass Hypertext einen nicht endenden Text darstellt, der von der Dominanz des Lesers befreit wurde. Immerhin: Der Leser findet eine relative Freiheit, die ihm erlaubt, die Erfüllung zu determinieren, aus der das Ende bereitet wird.
Douglas versucht weiter, die Differenzen zwischen Print- und Hypertext-Literalität aufzuzeigen. Was können interaktive Narrationen, das Print-Erzählungen nicht können? Einbezogen werden Barthes Lust am Text, Borges Garden of Forking Paths, Joyces Twelve Blue sowie die Spiele Titanic: Adventure out of Time und Douglas Adams Starship Titanic. Douglas erarbeitet die Parallelen von Hypertext und Printtext, schält aber auch unmissverständlich die Schlüsselunterschiede heraus, die ihrer Meinung nach vor allem die Struktur von Hypertext und Printtext betreffen: die Organisation um so genannte ›Knoten‹ (Nodes) oder Programmfenster, die aus ihrer Natur heraus nicht nur in einer einzigen sequenziellen Anordnung verstanden werden können, sondern eine Sortierung oder multisequenzielle Verknüpfung erlauben.. Die wichtigsten Unterschiede gegenüber Printtexten: Interaktive Narrationen haben keine einzeln definierten Anfänge und Schlüsse. Leser können in einer Geschichte lediglich durch Auswahl weiter kommen. Ohne eine Entscheidung und deren Umsetzung passiert nichts. Einzelne Textsegmente existieren in einem Netzwerk von Verbindungen, die im virtuellen dreidimensionalen Raum ausgelegt sind. Dies erlaubt es, dass eine Narration wie zum Beispiel Victory Garden in unterschiedlichen Abfolgen gelesen werden kann, die trotzdem kohärente Lesarten ergeben.
Wie aber sieht das Ende eines Hypertextes aus? Und wie kann ein Leser wissen, wann er die Lektüre beenden soll? Leider, so stellt Douglas fest, existieren praktisch keine Studien, die das Leseverhalten in Hyperfictions genauer untersucht haben. Sie greift darum auf Erfahrungen von Studenten, auf einige Texte von Stuart Moulthrop sowie auf ihre eigenen Erlebnisse im Umgang mit Hyperfictions und Adventure Games zurück. Unsere Lesegewohnheiten, so stellt Douglas dabei fest, sind von einer unmissverständlichen Manie zum Schluss gepräg.Wir suchen nach einem Schluss und wollen ihn stets mit Kausalität und Absicht verbunden haben, auch wenn diese Eigenschaften vollkommen fehlen.
Wenn der Leser einer Hyperfiction realisiert, dass er bei seinem Lesedurchgang nur einen von verschiedenen möglichen Schlüssen erlebt hat, erweitert sich sein Sinn für den Schluss eines Romans. Alle Leser, so wertet Douglas die Lese-Erfahrungen der Studenten aus, streben nach dem Schluss, doch dieser Schluss muss in einem Hypertext nicht der absolute Schluss eines Printtextes sein, der mit dem Zuklappen des Buches auch faktisch zelebriert wird. Enden sind im Hypertext meist provisorisch. Sie sind weniger physischer Abschluss des Textes als die Möglichkeit, einen Abschluss zu wünschen, indem man eine plausible Version unter all den möglichen anstrebt. Douglas zeigt dies anhand der Beschreibung mehrerer Lesedurchgänge von Joyces Afternoon, a Story. Von einem zum nächsten Lesedurchgang verändern sich nicht nur einzelne Handlungsstränge sowie die Kenntnisse über zentrale Vorgänge der Geschichte beziehungsweise ihre Interpretation, sondern mit den zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechten auch die einzelnen Charaktere der Geschichte, so dass sich unsere Interpretationen zwangsläufig verändern. Das Wegfallen eines klaren physischen Endes der Geschichte ist für Douglas kein Mangel, vielmehr lässt es uns auf andere Aspekte aufmerksam werden, die unser Bedürfnis nach einem Schluss befriedigen können: die Auflösung der narrativen Spannung und die Reduktion der Zwiespältigkeiten der Geschichte, beziehungsweise die Lösung des Rätsels sowie die Herstellung einer (subjektiven) kohärenten Fassung mit möglichst vielen narrativen Elementen. Trotzdem lädt Hypertext Fiction anders als gedruckte Fiktion den Leser dazu ein, die Geschichte nochmals neu zu lesen, denn der hergestellte Sinn einer einzigen Lesung zeigt lediglich ein mögliches Ende unter vielen auf. Ein solcher Art erreichtes Ende ist nicht vergleichbar mit dem bei Benjamin konstatierten definitiven, todesähnlichen Ende einer Geschichte, sondern kann lediglich als eine das Gemüt besänftigende, plausible Version der Geschichte gesehen werden, die dem Leser aber zumindest ausreicht, einen subjektiven Schlussstrich zu ziehen.
Das Kapitel »Intentionales Netzwerk« diskutiert die Beziehung zwischen Autor und Leser, die in Hyperfictions um eine diskursive netzwerkähnliche Struktur erweitert wird. Diese Struktur findet sich zwischen Leser und Text und zwingt den Leser dazu, in eine Interaktion mit dem Text zu treten, die vom Autor skizziert und damit in einem hohen Masse prädeterminiert wurde. Der Autor selbst hatte beim Entwickeln seiner Skripte nicht nur Handlung und Figuren, sondern auch seine Leserschaft und deren Verhaltensweise fiktionalisieren müssen, um eine diskursive Struktur aufzubauen, die es erlaubt, die Interaktionen richtig einzuplanen. Dies geht weit über das Einplanen eines Modell-Lesers wie in konventionellen Texten hinaus, da in einer Hyperfiction Verhaltens- und Beteiligungsstrukturen von fiktionalen Lesern (und schließlich Beta-Test-Lesern) unter dem Aspekt der Möglichkeit verschränkt werden.
Schließlich bezeichnet Douglas die Fülle an interaktiven Möglichkeiten, die dem Leser zur Verfügung stehen und die analog zu den Verhaltenweisen in der realen Welt funktionieren, als »neuen Realismus«. Dieser »neue Realismus« basiert auf den Grundfesten der neuen Technologien und könnte in Zukunft bestimmen, wie der Leser lesen wird. Hypertext Fiction und Interaktive Narrationen enthalten dank ihrer narrativen Strukturen eine große Fülle von Details, die einem Leser zur Entdeckung offen stehen. Der Leser, der diese Details ausfindig machen und einordnen will, muss eine immersive Rolle annehmen und Teil der Fiktion werden. Douglas veranschaulicht dies einleuchtend anhand einiger Sequenzen aus Jordan Mechners The Last Express (1997), einem herausragenden Orient-Express-Krimi-Spiel, das den Leser zur handelnden Figur in der Person des jungen Robert Cath macht. Wie in anderen Adventure Games wird der Leser direkt in die lebensweltlichen Geschehnisse mit einbezogen: Er kann wie auf einer richtigen Bahnreise immer wieder Gespräche anderer Bahnreisenden mit anhören, er kann und muss Mitreisende ansprechen, belanglose und wichtige Dialoge führen, Beobachtungen verschiedener nebensächlicher Begebenheiten anstellen und selbstverständlich strategisch und zweckgebunden handeln. Die zentralen Eigenschaften guter Adventure Games treten besonders klar zutage: Jede Handlung, welche der Spieler als Hauptfigur der realistischen Fiktion vornimmt, muss zweckorientiert sein, ein falscher Entscheid in einem falschen Moment hat schwerwiegende sofortige Konsequenzen und kann das Spielvergnügen vorzeitig beenden.
Eine derartige Immersion in Narrationen vertieft nach Douglas ohne Zweifel das Streben nach einem »neuen Realismus« (S. 165f.). Dies nicht zuletzt auch, weil das Erschaffen einer interaktiven Narration wie The Last Express auf der Autoren- oder Regisseurenseite einen relativ großen Aufwand mit Skripten und Subskripten bedingt, welche die potenziellen Interessen und Wünsche der Leser antizipieren, mögliche Verhaltensmuster, Bewegungen, Dialoge und Aktionen sorgfältig planen und orchestrieren müssen und damit die eigentliche Basis für die Skripte, die Szenen, Sequenzen und Handlungsabläufe für den Leser legen. Douglas sieht in dieser Zentriertheit auf den Leser und sein tatsächliches Verhalten den »neuen Realismus«. In diesem »New Realism«, einem Begriff, den sie vor allem auch an Joyces Afternoon, a Story festmacht, sieht sie eine Chance, die der neugeborenen Technologie erlaubt, aus dem Medium eine Quelle der Unterhaltung zu machen, die zugleich Exploration und Flucht vermitteln kann und ihre ästhetischen Aspekte genauso gut an den Leser, User oder Zuschauer bringt wie ein Roman oder ein Film.
Die Stärken von Douglas Buch liegen eindeutig dort, wo sie den Leseprozess bei Hyperfictions anhand von kommentierten Lesebeispielen sorgfältig aufzeigt und dabei in die Tiefen der Details hinabsteigt. Schritt für Schritt deckt sie auf, wie eine Hyperfiction wie Afternoon, a Story oder eine interaktive Narration wie Titanic: Adventure out of Time gelesen und interpretiert werden kann. Der Leser erfährt so nicht nur einiges über die Primärtexte selbst, sondern auch über unterschiedliche Lesedurchgänge, repetitives Lesen, graduelle Entwicklung von Narration, verborgene Barrieren, vermutete zentrale Texteinheiten, die Anzahl der möglichen Enden oder die mögliche Entwicklung einer Strategie zum Abschließen seiner Lektüre. Als eine weitere Stärke erweist sich die anfangs erwähnte klare Unterscheidung in Hyperfictions und Interaktive Narrationen. Denn trotz der Zurückhaltung von Douglas gegenüber Spielen werden multimediale interaktive Narrationen genauso wie textbasierte Hyperfictions in ihre Untersuchungen mit einbezogen und liefern nicht zuletzt dank ihrer klaren Struktur und Verständlichkeit erstaunlich viele anschauliche Beispiele und Argumente.
Doch Douglas interessiert sich lediglich für ausgewählte Abenteuerspiele, die als komplexe Narrationen angelegt sind. Ein Einbezug von oder eine Abgrenzung zu den anderen Genres sowie zu qualitativ weniger hoch stehenden Spielen findet nicht statt. Douglas wählt für ihre Lesestudie zwei hochnarrative Spiele aus dem großen Fundus der PC- und Videospiele aus. Dasselbe Vorgehen wählt sie bei den Hyperfictions: die Autorin pickt sich auch da im Grunde zwei komplexe ›seriöse‹ Hypertexte heraus zwecks genauen Studiums. Hierbei ist kritisch zu vermerken, dass Douglas lediglich bekannte ›ältere‹ amerikanische Hyperfictions berücksichtigt, die sämtlich im Autorenprogramm Storyspace geschrieben und in der ersten Hälfte der neunziger Jahre bei Eastgate auf Diskette veröffentlicht wurden. Von den zahlreicheren webbasierten Hyperfictions ist im ganzen Buch nirgends die Rede. Ganz zu Beginn wird kurz auf Geoff Rymanns »Hypertext-Roman« (S. 11) 253. A Novel for the Internet about London Underground in Seven Cars and a Crash (1996) verwiesen, wohl nur, weil eine Printversion (1998) existiert, die Bekanntheit erlangte. Nichtamerikanische Hyperfictions und Hyperfictions, die nach 1996(!) entstanden, werden außen vor gelassen. Dies gilt selbst für die neueren webbasierten Texte von Michael Joyce wie On the Birthday of the Stranger (1999), Lasting Image (mit Caroline Guyer; 1999) und Reach (2000), die sich zumindest anböten, um die Weiterentwicklung des Genres anhand des einzigen Hyperfiction-Autors zu zeigen, der im internationalen Literaturbetrieb einen Namen erlangt hat.
Und schließlich darf man auch kritisch anmerken, dass Douglas in ihrem Buch weder literarische noch kritische Werke in anderen Sprachen als Englisch berücksichtigt. Dies, obwohl beispielsweise die deutschsprachige Szene seit einigen Jahren dynamischer und experimentierfreudiger ist als die angloamerikanische und sowohl mit literarischen Werken wie Susanne Berkenhegers Hilfe!, Reinhard Döhls und Johannes Auers Experimenten in Kill the Poem oder Guido Grigats 23:40 als auch mit theoretischen Erörterungen wie in Roberto Simanowskis einzigartiger Online-Fachzeitschrift Dichtung Digital, der erstaunlichen Datensammlung zur Netzwissenschaft von Reinhold Grether, Heiko Idensens Projekt Odysseen des Wissens und diversen Projekten an den Universitäten München, Siegen, Kassel, Zürich und Wien – um nur einige zu nennen – mehr als zu überzeugen weiß.
Beat Suter (Zürich)
Universität Zürich
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