WALTER JENS (HG.): KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON. DAS 23-BÄNDIGE WERK AUF EINER CD-ROM. MÜNCHEN: SYSTHEMA 2000. [PREIS: 398,- DM].
HEINZ LUDWIG ARNOLD (HG.): DAS KLG AUF CD-ROM. KRITISCHES LEXIKON ZUR DEUTSCHSPRACHIGEN GEGENWARTSLITERATUR. EINSCHLIESSLICH 67. NACHLIEFERUNG. MÜNCHEN TEXT + KRITIK 1999. [PREIS: 460,-DM].[1]
»Wenn es unser Literaturlexikon auf CD-ROM geben wird, war ich die längste Zeit beim Verlag. Es ist doch auch zum Schmökern da.« Germanistentagung Frankfurt/Main 1996, sinngemäße Wiedergabe der Antwort eines Verlagsvertreters auf die Frage, warum es denn sein Lexikon noch nicht auf CD-ROM gäbe.
In letzter Zeit wurden immer mehr germanistische Nachschlagewerke auf CD-ROM zu Verfügung gestellt,[2] die sehr verschiedene Möglichkeiten, Vorteile und Nachteile im Vergleich zu ihren gedruckten Vorbildern bieten.
Dem Trend zur Digitalisierung folgten im letzten Jahr auch zwei der wichtigsten Literaturlexika: Kindlers Neues Literatur-Lexikon,[3] und das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG).[4] Wenn beide in der Folge in ihrer neuen Form verglichen werden sollen, so kann das freilich nicht in Bezug auf ihren Inhalt geschehen. Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung ist offensichtlich, dass sich Zweck und Anlage der beiden Werke zu sehr unterscheiden.
Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Druckwerken liegt im Aufbau und Zweck: Der Kindler ist ein traditionelles Lexikon. Es erscheint in gebundener Form in zweiundzwanzig Bänden plus zwei Essay- und einem Registerband; außerdem ist, beziehungsweise war, es in einer Halbleder, einer Leinen- und einer Paperback-Studienausgabe erhältlich. Demgegenüber repräsentiert das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einen dynamischeren und jüngeren Typus von Nachschlagewerk. Diese Sammlung von losen Blättern, gesammelt in Ordnern, ist – sehr sinnvoll für ihren zeitabhängigen Inhalt – erweiterbar und aktualisierbar, ohne dass man neuerlich das Gesamtwerk erwerben muss. Mit ihm ist kein Staat zu machen, es war niemals ein »Muss für den Bildungsbürger«. Im KLG spürt man eher den diskursiven Geist der 70-er – und das nicht nur wegen des Adjektivs »kritisch« im Titel, sondern, weil das Konzept tatsächlich darauf ausgerichtet ist, auf die Gegenwartsliteratur zu reagieren und sie mitsamt ihren Wurzeln und Tendenzen zur Diskussion zu stellen: der älteste Dichter im Lexikon ist vielleicht nicht zufällig Gottfried Benn, der umstrittene Ahnvater der deutschen Nachkriegslyrik.
Wir haben also zwei unterschiedliche Lexikonkonzepte vor uns. Beide bringen unterschiedliche Voraussetzungen für die Übertragung auf den Computer mit, und in beiden Fällen wurde die vorhandene Basis auf unterschiedliche Weise genützt.
Am Anfang steht die Installation, und sie ist hier schwer: nicht, weil sie kompliziert wäre, sondern weil man bei der Einrichtung der CD-ROM offensichtlich in punkto Flexibilität gespart hat.
Wer noch immer – Verzeihung! – einen Apple Macintosh (in diesem Fall ein G3-Powerbook 233 Mhz) benützt, rümpft kaum mehr die Nase, wenn eine CD-ROM nicht für MacOS geeignet ist. Schließlich gibt es Programme zur PC-Simulation, auf denen Nachschlagewerke in der Regel ganz gut laufen. Mit Virtual PC 2.1 und Windows98 lernt man am Kindler zu scheitern.
PC-Benutzer haben es nicht leichter: auf einem Pentium-Notebook (Windows98) verlangt das Programm nach der scheinbar erfolgreichen Installation – die Original-CD-ROM (!), die natürlich eingelegt ist. Der rechtmäßige Benutzer des Kindler scheitert am Kopierschutz, den der Besitzer eines neueren Kopierprogramms für CD-ROMs ja doch ohne Probleme umgeht.[5] Unerklärlich findet das auch der freundliche Berater der Hotline und – kann nicht weiterhelfen. Ebensoviel Pech kann man auf einem stationären Computer mit Windows95 oder WindowsNT[6] haben; manchmal funktioniert's, bei einigen nicht. Nur mit Windows 2000 gab es keine Probleme; nach dem Klick auf »Setup« geht die Installation zügig vor sich, und man kann sich auf die Suche nach der Literatur begeben.
Die Startseite des Kindler <http://www.kindlers.de/Cdrom/Cdrom_Haupt.htm>, zuletzt gesehen am 02.09.2001, präsentiert sich klassisch: vor einem Hintergrund mit alten Drucken gibt es ein sparsam und übersichtlich angelegte Menüs: »Autoren«, »Werke«, »Essays« und einen Verweis auf das Vorwort, die Gliederung der Buchausgabe wird auf den ersten Blick aufrechterhalten. Man kann dann auf »Autoren« klicken und sich kurz die Beine vertreten – die Maske erscheint auf einem 700 Mhz-PC nach circa einer halben Minute –, bis ein kleines Fenster erscheint, über das man dann wie gewohnt zum Autoren- und von dort aus weiter zu den Werkartikeln kommt. Tatsächlich braucht man das Autorenmenü jedoch gar nicht – unter »Werke« gelangt man zu einem Fenster, das den Autor, seine Werke und deren Erscheinungsjahre nebeneinander darstellt. In allen Feldern kann man jeweils per Eingabe einfache Recherchen durchführen. Über eine von Anfang an am unteren Bildrand sichtbare Menüleiste kann man jedoch die CD-ROM richtig zur Geltung kommen lassen: dort gibt es den Menüpunkt »Recherche«.
Die nun erscheinenden Suchfenster lassen sich in zwei schon bekannte Kategorien einteilen: »Autoren« auf der linken und »Werke« auf der rechten Seite. Ein Problem ist, dass sich diese beiden Kategorien überschneiden. So kann zum Beispiel die geographische Zuordnung der Recherche in drei Fenstern erfolgen: autorenseitig unter »Land« und »Literatur« und werkseitig unter »Sprache«.
Nehmen wir das Beispiel einer Suche nach jenen deutschsprachigen Autoren, die während der nationalsozialistischen Herrschaft nach Frankreich ins Exil gingen. Die Autoren gehören zur »deutschen Literatur« und haben ihre Werke von »1933 bis 1945« verfasst. Wenn man danach fragt, in welchen Autorentexten die Suchbegriffe »Exil Frankreich« vorkommen, ist das Suchergebnis Null, fragt man, in welchen Werken diese Begriffe vorkommen, erscheinen acht Suchergebnisse. Für biographisch orientierte Recherchen ist der Kindler demnach ungeeignet – grundsätzlich hat er einen Werkschwerpunkt.
Auch diese vermutliche Stärke des Kindler soll getestet werden. Die Rechercheaufgabe soll sein, sämtliche Dramen der frankophonen Literatur zu finden, welche einen existentialistischen Einfluss erkennen lassen. Um Ergebnisse zu bekommen, muss man in der französischsprachigen Literatur von 1940 bis 2000 nach dem Suchtext »existenti*« suchen. Wenn man nun eine ODER- beziehungsweise eine UND-NICHT-Suche anschließen will, so stößt man auf die Eigenheiten des CD-ROM-Kindler. Seine Recherchefunktionen sind fensterorientiert:[7] das Recherchefenster zeigt die beschriebene Grundmaske, dann öffnet sich ein Ergebnisfenster, das die Anzahl der Fundstellen mit den Optionen angibt, diese anzuzeigen (worauf ein neues Anzeigefenster geöffnet wird) oder die Suche zu erweitern. Nur über diese Funktion kommt man zu der Suche mit Boolschen Operatoren. Andere CD-ROM-Lexika für Literatur, zum Beispiel Killys Literaturlexikon in der Digitalen Bibliothek,[8] haben gezeigt, dass es mit einer einheitlicheren und komplexeren Maske auch möglich wäre, sämtliche Abfragen samt Boolschen Operatoren auf einer halben Bildschirmseite unterzubringen, während auf der zweiten Hälfte die Ergebnisse zu sehen sind. Wenn man sich im Kindler die Suchergebnisse einmal als Textfenster angesehen hat, wechselt man ins erste Fenster »Recherchieren«, um die Suche verändert zu wiederholen.
Was die üblichen Features von CD-ROMs betrifft, so ist alles vorhanden, was das Leben des Benutzers erleichtert: die Texte lassen sich leicht und komfortabel in Textverarbeitungsprogramme kopieren oder auch als Textdateien exportieren, es lassen sich Lesezeichen erstellen, und den einzelnen Texten kann man Notizen beifügen. Ein Protokoll ermöglicht das Zurückverfolgen der Rechercheschritte, und es gibt eine Möglichkeit, bibliographische Angaben zu generieren und zu exportieren. Doch diese Funktionen sollten auf einer modernen textorientierten CD-ROM schon selbstverständlich sein.
Beim KLG gibt es mit der Installation keinerlei Probleme; mit dem Start von »Setup« bringt man das Lexikon in kurzer Zeit zum Laufen – allerdings weigert sich auch das KLG standhaft, auf einem Apple unter der erwähnten Simulation zu funktionieren. Schon weiter oben haben wir die grundlegenden Differenzen erwähnt, die den Kindler vom KLG trennen; das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist von vornherein daraufhin angelegt, immer wieder erneuert und auf dem neuesten Stand gehalten zu werden. Die Nachlieferungen werden bei der Softwareversion mit der Neulieferung der ganzen CD-ROM realisiert. Mag einem das anfangs auch überflüssig erscheinen, so hat es doch seine Vorteile: es entsteht kein elektronischer Müll auf der Festplatte, und die Browser-Software ANDCompLex, auf der auch anderen Lexika (zum Beispiel das Wörterbuch von Wahrig) laufen, wird auf diese Weise auf dem neuesten Stand gehalten.
Die Suchfunktionen des KLG werden wohl für den potentiellen Kunden das wichtigste Kriterium bei der Entscheidung sein, ob es sich lohnt, von der gedruckten auf die elektronische Version des Lexikons umzusteigen oder nicht. Sie erscheinen sofort am zweigeteilten Startbildschirm, dessen linke Hälfte der KLG-Werbung zufolge »mehr als 35 Indexe«[9] zur Verfügung stellt. Zu Beginn wird unter der Kategorie »Inhalt« eine Liste der rund 630 Autoren angezeigt; die Inhaltsmaske erlaubt jedoch nur, nach Autorennamen zu blättern, also zu scrollen, was dementsprechend langsam vor sich geht. Eine Vielzahl von Kategorien kann man nach Einträgen durchsuchen, deren Existenz wohl eher durch die gedruckte Form des Lexikons als durch ihre Nützlichkeit begründet ist. Unten werden wir uns ihnen noch genauer widmen. Um nach einem gewünschten Begriff zu suchen, zum Beispiel einem Autornamen, muss man dann die jeweilige Spezialkategorie wählen (zum Beispiel »Namen«), oder man kann natürlich auch über die Volltextsuche dahin gelangen, wenn man in Kauf nimmt, vorher noch auf einige Erwähnungen desselben Autors in anderen Artikeln hingewiesen zu werden.
Eine weitere mögliche Recherche ist die nach dem Geburtsjahr, und sie erlaubt auch tatsächlich nur die Recherche nach dem Geburtsjahr. Sehr präzise ist das nicht, und kombinierte Recherchen zwischen bestimmten Daten werden dadurch nicht erleichtert. Man kann nach Ländern recherchieren: doch Elias Canetti scheint unter seinem Geburtsland Türkei, zu dem der heute bulgarische Geburtsort des Dichters damals gehörte, nicht auf, sondern unter Österreich, Großbritannien und der Schweiz. Nur von einer Minderheit wird wohl die Möglichkeit genutzt werden, nach den vergebenen Preisen und dem Jahr ihrer Vergabe zu suchen. Wer bekam im Jahr 1985 den Döblin-Preis? Hier wird die Abhängigkeit vom gedruckten KLG deutlich; man könnte sich andere Fragen eines durchschnittlichen Benutzers vorstellen als die nach den Literaturpreisen (die man ebenso über die Volltextrecherche suchen kann). Aber vielleicht wird ja in nächster Zeit eine sicherlich nicht uninteressante Arbeit über die Politik der Preisvergabe während des Kalten Krieges geschrieben werden, und das KLG auf CD-ROM macht diese Arbeit erst möglich. Auf ganz ähnlicher Basis existieren noch eine Suche nach der Mitgliedschaft von Autoren in Akademien und Gruppen sowie die schon erwähnte Suche im Namensregister. Als praktisch könnte sich auch die vorgesehene Suche nach Verlagen der Primärliteratur erweisen.
Eine genauere und benutzerfreundlichere Suchmaske, die alle Bereiche zusammenfasst, verspricht natürlich mehr Gewinn als die beschriebenen speziellen Suchfunktionen, die die Möglichkeiten zu kombinierten, komplexen Suchen doch deutlich einschränken. Unter »Erweiterte Suche« ist es möglich, alle beschriebenen Indexe kombiniert zu befragen; nehmen wir ein einfaches Beispiel: Zu suchen wären alle Autorinnen und Autoren mit Land »Österreich«, die Bezüge zu »Frankreich« (Volltextsuche) aufweisen, egal, ob sie dort in der Emigration waren oder das Land nur in ihrem Werk eine Rolle spielt. Unter den sieben gefundenen Ergebnissen findet sich eines der bekanntesten Beispiele eines Frankreich-Bezuges österreichischer Autoren nicht: Peter Handke. Zu erklären ist dies mit dem grundsätzlich essayistischen Aufbau des KLG: die beiden Autoren des Handke-Artikels verwenden im Biogramm zum Autor nur das Wort »Paris«, nicht aber Frankreich – ein vollkommen willkürlicher Zufall, der sich auf abgewandelte Weise im gesamten Lexikon hundertfach wiederholt und somit ein verlässliches Rechercheergebnis unmöglich macht. Dass derlei Probleme mit der Komplexität der Fragestellung zunehmen, liegt auf der Hand. Beim KLG scheitert der Benutzer demnach nicht an einer mangelhaften Suchmaske, sondern an der mangelhaften Aufbereitung des Texts für die Recherche, daran, dass der gedruckte Text vom Editor der CD-ROM nicht überarbeitet, sprich formalisiert worden ist, um ihn für eine Abfrage nach bestimmten Kriterien überhaupt brauchbar zu machen.
Was beim, oder besser nach dem Suchen sehr hilfreich ist, ist das so genannte »Protokoll«. Mit seiner Hilfe kann man durch die vollzogenen Suchschritte blättern und muss so kein Suchergebnis verloren geben. Benutzerfreundlich ist das KLG dort, wo es um das direkte Zitieren aus dem Text geht. Ausschneiden und Kopieren von Textstellen ist problemlos möglich. Auch ist die Formatierung so flexibel gestaltet, dass der Benutzer keine Zeit mit dem Beseitigen von Formatierungen aus dem Lexikon vergeuden muss. Das wird noch durch eine Exportfunktion ergänzt, mit der man ganze Texte entweder als Text- oder als rtf-Dateien abspeichern und weiterverarbeiten kann.
Leider werden die Möglichkeiten für die Aktualisierung nicht extensiver genutzt als in der Druckversion. So stammt die letztverzeichnete Sekundärliteratur zu Wolfgang Koeppen aus dem Jahr 1992. Außerdem hätte das KLG in seiner neuen Umgebung – wenn man das Konzept konsequent weitertreibt – die Möglichkeit, zu einem Standardwerk für die neuere deutsche Literatur zu werden, indem es zu den in ihm besprochenen Schriftstellern die vollständigste Bibliographie aller Nachschlagewerke aufweist. Aus der Sicht des praxisorientierten Literaturwissenschaftlers ist es nur zu bedauern, dass sich noch niemand entschlossen hat, ein rein CD-ROM- beziehungsweise – noch besser – internetgestütztes Literaturlexikon zu schaffen, das eine Kombination von standardisierten biographischen Angaben, qualitativ wertenden, kritischen Texten nach dem Muster des KLG und einer möglichst vollständigen Auflistung der Sekundärliteratur nach dem Beispiel etwa der bibliographischen Zeitschrift Germanistik darstellt. Zusätzlich könnte man übers Internet das Fachpublikum an der Aktualisierung der Bibliographie beteiligen.
Sowohl das KLG als auch der Kindler fühlen sich in ihrem neuen Gewand noch nicht sehr wohl – alles in allem merkt man ihnen den Buchdeckel noch allzu sehr an. Die Konzeption der CD-ROM ist jeweils zu überdenken; wenn es zu keiner Wechselwirkung zwischen Inhalt und Form kommt, so war der Sprung ins digitale Zeitalter überflüssig und hat bestenfalls etwas Gewicht und Recherchezeit gespart, nicht zu vergessen den beachtlichen Preisunterschied. Doch im Gegensatz zum Buch darf es für ein Literaturlexikon auf CD-ROM nicht genügen, wenn man darin Angaben zu Werken und Biographien nachlesen kann. Es sollte in seiner neuen Form ermöglichen, auf bisher unbeachtete, synchrone und diachrone, genetische und typologische Zusammenhänge[10] zwischen einer sonst unübersichtlichen Fülle von literarischen Erscheinungen aufmerksam zu werden. Dann und erst dann könnte das neue Medium die Literaturwissenschaft auch in methodischer, qualitativer Hinsicht inspirieren.
Beide Lexika hätten es verdient, auch im neuen Kleid zu Klassikern zu werden – nicht jedoch zu starren, sondern zu expandierenden, niemals ruhenden. Doch müssten sie dazu noch ein bisschen offener, dynamischer und vielseitiger, kurz noch mehr zu CD-ROMs werden. Sonst sind sie tatsächlich zum Schmökern besser geeignet als zum Recherchieren.
Michael Wögerbauer (Prag)
Michael Wögerbauer, M.A.
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