CHRISTINE L. BORGMANN: FROM GUTENBERG TO THE GLOBAL INFORMATION INFRASTRUCTURE. ACCESS TO INFROMATION IN THE NETWORKED WORLD. CAMBRIDGE/LONDON: MIT PRESS 2000.

Wird eine globale digitale Bibliothek die Informationsversorgung revolutionieren, indem sie umfangreiche Angebote vernetzt und ihren Benutzern eine völlig neue Qualität bietet? Oder werden digitale Dienste die traditionellen Angebote der Bibliotheken lediglich in bestimmten Nischen ergänzen?

Das lesenswerte Buch von Christine Borgmann (University of California, Los Angeles) beschäftigt sich mit diesen Fragen und bezieht dabei sowohl die digitale als auch die traditionelle Informationsvermittlung mit ein. Die Autorin nimmt eine bibliothekswissenschaftliche Perspektive ein, was aber zu keiner thematischen Einschränkung führt. Der Blickwinkel von Borgmann umfasst informationswissenschaftliche, technologische, wirtschaftliche, rechtliche und soziale Aspekte, so dass insgesamt ein sehr vollständiges Bild der Herausforderungen durch digitale Bibliotheken entsteht.

Die eingangs gestellten Fragen thematisieren einen revolutionären und einen evolutionären Prozess. Borgmann sieht die zukünftige Entwicklung eher in der Mitte und glaubt, die traditionellen Medien und die neuen Technologien seien »co-evolutionary« (S. 30). Sie werden sich beide in Abhängigkeit voneinander weiterentwickeln, und es wird zu keiner vollständigen Verdrängung etwa des Verlags- und Bibliothekswesens durch digitale Dienste kommen. Diese durchaus plausible These zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und führt zu einer wohl tuenden Konsistenz bei den Ausblicken in die Zukunft.

Um die These aufzubauen, zeigt Borgmann im ersten Kapitel, wie eine Gesellschaft, eine Organisation oder ein Individuum generell neue Technologie adaptiert. Sie bespricht darüber hinaus, was eine globale Infrastruktur sein könnte und welche weitreichenden politischen Ziele vor allem die Industriestaaten in dieser Richtung formuliert haben.

Im zweiten Kapitel versucht Borgmann, den Begriff ›digitale Bibliothek‹ zu definieren. Dabei kommen auch Stimmen zu Wort, die dies für einen Widerspruch in sich halten. Essentielle Bestandteile des Begriffs sind eine nicht ausschließlich aus Referenzen bestehende Kollektion, die durch ein Ordnungssystem zugänglich wird, und eine Zielgruppe, für deren Bedürfnisse die Bibliothek gestaltet ist.

Das dritte Kapitel mit dem Titel »Access to Information« versucht einige weitere Grundbegriffe zu klären, insbesondere ›Zugang‹, ›Information‹ und ›Dokument‹. In diesem Zuge werden Metadaten eingeführt und auch der populäre Dublin Core Standard tritt auf. Die Diskussion des Informationsbegriffs fällt sehr kurz aus und hilft wenig weiter. Für die Zwecke des Buches wäre die informationswissenschaftliche Definition hilfreich, welche die Benutzerperspektive in digitalen Bibliotheken gut wiederspiegelt. Demnach ist Information der Teil von Wissen, der in einem aktuellen Informationsprozess in Anspruch genommen wird und zu einer Problemlösung beiträgt.

Das vierte Kapitel diskutiert verschiedene Phasen von Informationsprozessen und fokussiert zunächst auf die Entstehung von Wissen und erläutert als Beispiel das akademische Publikationsverhalten. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten des aktuellen Marktes scheinen die möglichen Veränderungen durch die Digitalisierung auf, welche auch zu neuen Rollenverteilungen zwischen Autoren, Herausgebern, Verlagen und Bibliotheken führen können. Nicht zuletzt das Jahrbuch für Computerphilologie zeigt, dass diese Prozesse im Gange sind.

Ein Aspekt, der immer bedeutender wird, ist die Evaluierung von Publikationen durch scheinbar objektive Kriterien wie Anzahl von Zitationen und andere automatisierbare Maße. Dies wird ausführlich diskutiert, wobei eine etwas genauere Darstellung einfacher Algorithmen der Bibliometrie sinnvoll gewesen wäre. Weiterhin skizziert Borgmann den aktuellen Forschungsstand zum Verhalten bei der Informationssuche.

Die beiden folgenden Kapitel »Why are Digital Libraries Hard to Use?« und »Making Digital Libraries Easier to Use« greifen die zentralen Forschungsgebiete zum Thema auf: Retrieval und Mensch-Maschine-Interaktion. Diese Forschungsbereiche stehen in einem engen Zusammenhang und sollten gemeinsam betrachtet werden. Der Versuch, sie in enger Verbindung darzustellen, ist daher verständlich. Allerdings differenziert Borgmann hier zu wenig, und etliche der vorgestellten Probleme und Lösungen werden nicht klar einer Thematik zugeordnet. Digitale Bibliotheken können verbessert werden, wenn effektivere Suchverfahren entstehen (Information Retrieval), aber auch mit den bestehenden Suchalgorithmen ließen sich bessere digitale Bibliotheken bauen, wenn diese in adäquatere Benutzungsoberflächen integriert wären (Mensch-Maschine-Interaktion). Die Vermischung der Perspektiven des Information Retrieval und der Mensch-Maschine-Interaktion zeigt sich besonders im sechsten Kapitel, das auf vier Trends für die weitere Forschung hinweist (S. 144):

• von Metadaten zu Daten (hier ist der Trend hin zu Volltexten und anderen Formen des vollständigen Inhalts gemeint),

• von unabhängigen zu verlinkten Systemen,

• von der Suche zur Navigation (diesem wichtigen Aspekt widmet Borgmann ausreichend Raum),

• von individueller Arbeit zu Gruppenprozessen.

Während der erste und zweite Trend klar dem Information Retrieval zuzurechen sind, bildet die computerunterstützte Gruppenarbeit ein Teilgebiet der Mensch-Maschine-Interaktion. Eine Trennung hätte der besseren Strukturierung gedient.

Das siebte Kapitel greift die These der Koevolution der bestehenden und der neuen Technologie auf und zeigt, warum der Titel nicht einfach ›Digitale Bibliotheken‹ lautet, sondern die Phrase »Global Information Infrastructure« enthält. Borgmann betrachtet eben nicht nur die neuen Informationssysteme, sondern diskutiert, wie sich digitale und traditionelle Systeme und Dokumente ergänzen können. Nach ihrer Ansicht führen die nach wie vor wichtigen Leistungen von Bibliotheken in Verbindung mit den Vorteilen elektronischer Publikationen in Zukunft zu hybriden Bibliotheken.

Die Globalisierung der zu schaffenden Infrastruktur steht im Zentrum des folgenden Kapitels. Unterschiedliche Sprachen, Zeichensätze, Technologien, Standards und nicht zuletzt Kulturen erschweren die Suche und Orientierung über Grenzen hinweg. Obwohl Borgmann dabei die maschinelle Übersetzung als ein Desideratum anspricht, widmet sie ihr keinen weiteren Raum. Insgesamt spielt die Sprachtechnologie in diesem Buch wie auch in der Forschung zu digitalen Bibliotheken noch generell eine untergeordnete Rolle. Die Probleme im Zusammenhang mit Zeichensätzen und Namenskonventionen lassen sich übrigens im Literaturverzeichnis nachvollziehen. Die 40 Seiten stellen zwar eine wertvolle Ressource dar, aber so manche Suche wird wohl ins Leere laufen, da zum Beispiel Umlaute nicht korrekt dargestellt sind oder Namenszusätze zu falschen Einordnungen führen.

Die Globalisierung führt auch zu einem Wachstum der Infrastruktur, das zahlreiche Probleme mit sich bringt. Das letzte Kapitel befasst sich mit der nötigen Skalierung, wobei sich Borgmann hier auch auf technische Aspekte des Internets bezieht. Fallstudien aus Osteuropa illustrieren die Thematik.

Insgesamt zeigt Borgmann sehr gut, wie umfassend sich die Thematik ›Digitale Bibliotheken‹ darstellt. Sie stellt den aktuellen Stand der Forschung und Technik verständlich dar, wobei vor allem die bestehenden Probleme deutlich werden. Lösungsansätze finden sich weit weniger. Die Strukturierung und Theoriebildung geraten etwas kurz, was dem breiten thematischen Umfang geschuldet sein mag. Als Lehrbuch im Grundstudium ist das Buch daher kaum geeignet. Aber es bleibt für alle diejenigen lesenswert, die sich für die aktuellen Entwicklungen und Fragestellungen im Bereich digitale Bibliotheken interessieren oder an der globalen Infrastruktur zur Informationsversorgung mitarbeiten.

Thomas Mandl (Hildesheim)

Dr. Thomas Mandl
Universität Hildesheim
Fachbereich III
Informations- und Kommunikationswissenschaften
Marienburger Platz 22
31141 Hildesheim
mandl@uni-hildesheim.de


(2. Oktober 2002)