ANJA RAU: WHAT YOU CLICK IS WHAT YOU GET? DIE STELLUNG VON AUTOREN UND LESERN IN INTERAKTIVER DIGITALER LITERATUR. BERLIN: DISSSERTATION.DE 2000 ONLINE-VERSION UNTER <http://www.dissertation.de/PDF/ar271.PDF> (2.4.2002)

Über die Möglichkeiten und die Funktion von Autoren und Lesern herrscht in der Forschung zu digitaler Literatur ein scheinbar undurchdringbarer Dschungel von Vorurteilen, Meinungen und Halbwahrheiten. Anja Rau wagt sich mit ihrer Dissertation What you click is what you get? Die Stellung von Autoren und Lesern in interaktiver digitaler Literatur daran, diesen zu lichten. Und das gelingt ihr mit beachtlichem Erfolg. Die Autorin legt auf der Grundlage von Offline-Hyperfictions, Adventure-Games und pragmatischen Offline-Hypertexten eine umfassende Analyse der Funktion von Autor und Leser vor. Die in einem Teil der Forschung vertretene Vorstellung einer demokratiestiftenden Funktion von Computern (beziehungsweise Technik allgemein) wird verortet und aus verschiedenen Perspektiven kritisiert. Die Hauptthese der Autorin ist, dass die herkömmliche, vor-poststrukturalistische Autor- und Leserfunktion in digitaler Literatur trotz des Medienwechsels beibehalten werde. Rau vertritt die Ansicht, digitale Literatur dürfe weder als Verkörperung poststrukturalistischer Theoriekonzepte betrachtet noch dürften Leser digitaler Literatur als Autoren der Texte gewertet werden. Im Gegenteil macht sie in der digitalen Literatur nicht nur eine Bestätigung, sondern sogar eine medienbedingte Bestärkung der herkömmlichen Autor- und Leserfunktion aus.

Das Buch ist modular aufgebaut. In den sechs Kapiteln werden unterschiedliche Methoden angewandt, um die Stellung von Autoren und Lesern in interaktiver digitaler Literatur auszuloten. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen zu Hyperfiction und Hypertext werden auch die für diesen Forschungszweig grundlegenden Werke, vor allem von Barthes, Eco und Iser, integriert. Die jeweiligen Kapitel sind klar strukturiert. Der Preis für diese breite methodische Abstützung ist eine gewisse Redundanz sowie stellenweise der Eindruck von Inkonsistenz. Der Zusammenhang der Kapitel untereinander wird nicht immer klar; die Kohärenz zwischen den Einzelkapiteln fehlt weitgehend.

Im einführenden Kapitel legt die Autorin zentrale Begriffsbestimmungen vor. Hier wie auch bei späteren Begriffsbestimmungen wird ein gutes Gleichgewicht gewahrt zwischen erklärenden Ausführungen und vorausgesetztem technischen Wissen der Leser. Der Forschungsstand zu interaktiver digitaler Literatur wird aufbereitet, wobei das Schwergewicht auf der US-amerikanischen Forschung liegt. Ziel sowie Methode der Arbeit kommen zur Sprache, und schließlich werden die verwendeten Primärquellen aufgeführt.

Das zweite Kapitel Auctor ex machina beschäftigt sich mit dem Computer als Autor. Dabei wird klar gemacht, dass ein Hypertext nicht im Prozess des Lesens entsteht, sondern immer schon von einem Autor angelegt und als Gesamtes vorhanden ist. Neben diesen vermeintlichen thematisiert Rau auch tatsächliche Textgeneratoren; auch diese sind stets von Menschen gemacht und gefüttert.

Anschließend wird der Begriff des »virtuellen Autors« eingeführt. Darunter summiert Anja Rau die Gesamtheit der Autorfunktionen, die dazu führt, dass beispielsweise bei einem Adventure eine scheinbar personale Instanz hinter einem Spiel wahrgenommen werden kann. Diese Wahrnehmung wird durch Verpackung und Marketing unterstützt und generiert einen erweiterten Text. Auf der Grundlage technisch-struktureller Analysen von digitaler Literatur legt die Autorin verschiedene Reader- beziehungsweise Shell-Formen vor. Darunter ist die Leseumgebung zu verstehen, also Rahmen, Navigationsoberfläche, Orientierungshilfen, Hilfefunktionen und so weiter. Rau kommt zum Schluss, dass sowohl durch die Verschmelzung der Schreiber- mit der Programmiererfunktion im virtuellen Autor als auch durch autoritäre Reader-Formen die herkömmlichen Rollen von Autor und Leser bestärkt werden.

Im vierten Kapitel hinterfragt die Autorin kritisch die Interaktivität digitaler Literatur. Die aus der frühen Hypertext-Forschung bekannte ›Verkörperungstheorie‹, gemäß welcher digitale Literatur eine technische Umsetzung poststrukturalistischer ästhetischer Konzepte sei, wird als nicht adäquat befunden. Weder die Navigation auf der Textoberfläche noch andere Interaktionsmöglichkeiten sind für den Text sinnstiftend und dadurch relevant; jede Aktion der Leser ist durch die Autorinstanz vorberechnet. Die Aktivität der Leser bei Offline-Hyperfictions und Adventures macht Rau als rein kinetisch aus. Im Gegensatz dazu werden Internetliteratur, MUDs und MOOs als Träger einer über das Kinetische hinausgehenden Leser-Interaktivität gewertet; doch die Verschmelzung der Leser- mit der Autorrolle findet auch in diesen Fällen nicht statt.

Kapitel fünf untersucht die Leser-/Benutzerführung in digitaler Literatur. Die Autorin legt literaturtheoretische Konzepte von Barthes, Eco und Iser zur Beschreibung von Kunstwerken beziehungsweise Rezeptionsvorgängen an die Struktur digitaler Literatur an. Die untersuchten hyperfiktionalen Texte werden als für die Leser hochgradig opak beschrieben. Dadurch diagnostiziert Rau eine weitgehende Entmündigung der Leser. Adventures dagegen, die sich genrebedingt durch eine stringentere Benutzerführung auszeichnen, ermöglichen es den Spielenden bis zu einem gewissen Grad, die Folge ihrer Aktionen abzuschätzen und die Strukturen des Spiels zu durchschauen. Häufig laufen sich allerdings strukturelle und narrative Inhalte in digitaler Literatur regelrecht entgegen. So wird beispielsweise die Leerstelle nach Iser in Hyperfictions durch Links besetzt und dadurch ihrer ursprünglichen Funktion für den Leser beraubt. In Adventures können Leerstellen durch Rätsel besetzt sein. Schließlich grenzt Rau die Interaktivität digitaler Literatur klar von offenen Texten gemäß Eco ab.

Im nächsten Kapitel geht die Autorin auf eine eher experimentelle Weise an ihr Untersuchungsgebiet heran. Nachdem sie in den vorhergehenden Kapiteln aufgezeigt hat, dass die bestehende interaktive digitale Literatur die Differenz zwischen Autor und Leser vielmehr festigt als auflöst, stellt sie abschließend eine Reihe von Techniken zusammen, mit denen dieses Verhältnis tatsächlich verschoben werden könnte. Nur zu einem Teil sind diese Techniken in der berücksichtigten – und in der verfügbaren – digitalen Literatur bereits realisiert. Die Zusammenstellung hat also teilweise einen hypothetischen Charakter. Die betreffenden Vorschläge leitet Rau aus der postmodernen Printliteratur und von den nicht ausgeschöpften Möglichkeiten digitaler Medien ab. Es ist dies beispielsweise die Selbstreferenz von Text, entweder als Metafiktion oder in einer technischen Umsetzung als Schlaufe, die Darstellung der Virtualität eines Texts, die Thematisierung der (Begrenztheit der) Interaktivität, der Leserrolle oder des machtlosen Autors. Das Experiment gelingt, obwohl es für eine Dissertation eher unüblich ist: Die Autorin entwickelt wertvolle Anregungen für die weitere Forschung (und für Hyperfiction-Autorinnen und -Autoren).

In den abschließenden Bemerkungen situiert Rau ihre Hauptthese in der aktuellen Forschungslandschaft und konstatiert dabei, dass Hypertext-Theoretiker der »zweiten Generation« (S. 247) den Autor vermehrt als Kontrollinstanz anerkennen. Als aktuelle und zukünftige Forschungsfelder nennt sie die Klärung der Frage, ob Hypertext mediengebunden sei und – etwas unvermittelt – die Typologisierung von Links und die Aufwertung des Links zum eigenständigen Element im Hypertext.

Die Beschränkung auf ein bestimmtes Problemgebiet von interaktiver digitaler Literatur, nämlich auf die Stellung von Autoren und Lesern, welche die Autorin vornimmt, bewährt sich: Die Verzettelung, an der vor allem frühe Publikationen zum Thema kranken, wird vermieden.

Der aktuelle Forschungsstand (zur Zeit der Arbeit am Buch, dass heißt bis 1999) ist gut in die Arbeit integriert, wenn auch das Gewicht des US-amerikanischen beziehungsweise norwegischen Hyperfiction-Forschungszweigs überwiegt.[1] Hier hätten deutschsprachige Arbeiten zu Hyperfiction, die sich vor allem auf Online-Literatur stützen, wertvolle weiterführende Fragestellungen in Bezug auf die Rolle von Autor und Leser eröffnen können. Hypertext-Forschung, die nicht aus deutsch- oder englischsprachigen Ländern oder aus Norwegen stammt, wird nicht einbezogen. Beim Rückgriff auf ältere Theorietexte ist etwas störend, dass ein Teil ebendieser Werke nicht direkt konsultiert, sondern lediglich über die Vermittlung von Hyperfiction-Theoretikern zur Kenntnis genommen wird (beispielsweise Barthes' S/Z oder Sartres Les Mots).

Die Quellen werden zur Unterstützung der Thesen ausführlich beigezogen. Dabei wahrt Anja Rau das ideale Gleichgewicht zwischen erklärender Inhaltsangabe und vorausgesetztem Vorwissen der Leser. Statt der x-ten Nacherzählung von Myst wird das Adventure problemorientiert beigezogen, und die betreffenden Spielszenen werden kurz kontextualisiert. Das Korpus ist mit zehn Offline-Hyperfictions und achtzehn Adventures sowie den drei pragmatischen Hypertexten repräsentativ: Es wird, bezogen auf die Fragestellung, eine breite Spannweite von Texten der betreffenden Genres untersucht, und zentrale Werke sind berücksichtigt.[2] Allerdings hat die Entscheidung, nur US-amerikanische Primärquellen zu verwenden, einen wesentlichen Einfluss auf die gesamte Arbeit. Die US-amerikanische Hyperfiction wurde nämlich vor allem in der Anfangszeit durch Hypertext-Programme (wie beispielsweise Storyspace und HyperCard) geprägt. Dadurch konnten sich ästhetisch anspruchsvolle Offline-Hyperfictions entwickeln. Durch den Verzicht auf Online-Hyperfiction (die durchaus existiert) ergibt sich eine nicht unwesentlich beschränkte Sicht auf die Stellung von Autoren und Lesern. Dasselbe gilt für die Beschränkung auf rein textbasierte Hyperfictions und für den Verzicht auf das Einbeziehen von MOOs und MUDs.

Dass Anja Rau sich bei ihren Prognosen über die Weiterentwicklung von interaktiver digitaler Literatur zum Teil verschätzt hat, kann ihr bei der Veränderlichkeit und Schnelllebigkeit des Untersuchungsfeldes nicht vorgeworfen werden.

Die Grundthese, dass die herkömmliche Stellung von Autoren und Lesern in interaktiver digitaler Literatur beibehalten beziehungsweise bestärkt wird, lotet Rau durch den modularen Aufbau der Arbeit aus verschiedenen Perspektiven aus und plausibilisiert sie. Methodisch geht sie dabei auffallend problemorientiert-pragmatisch und mit einem weitgehend aus der bestehenden Hyperfiction-Forschung stammenden Instrumentarium vor. Der Eindruck einer eklektischen Methode lässt sich nicht immer vermeiden. Innovation findet dagegen bei der Verschränkung der literaturtheoretisch-philosophischen mit der technischen Sicht auf digitale Literatur statt, die der Autorin beispielhaft gelingt. Die dadurch gewonnenen Begriffe, beispielsweise »Shell«/»Reader« (S. 2-107) und »virtueller Autor« (S. 83-92), könnten noch weiter ausgeschöpft werden.

Judith (Zürich)

Judith Mathez
Schweizerisches Jugendbuch-Institut
Zeltweg 11
CH-8032 Zürich
kjmedien@ds.unizh.ch


(2. April 2002)
[1] Mit den Exponenten Espen J. Aarseth, Jay David Bolter, Jane Yellowlees Douglas, Michael Joyce, George P. Landow und Stuart Moulthrop.
[2] Beispielsweise Shelley Jackson, Patchword Girl; Michael Joyce, Afternoon – A Story; Stuart Moulthorp, Victory Garden sowie Adventures aus der Kings-Quest-Reihe, aus der Discworld-Reihe, Myst und Riven.