»THINK BIG»: DISZIPLINARITÄT ALS WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE BENCHMARK DER COMPUTERPHILOLOGIE
Abstract
The article's point of departure is a clarification of the principle conditions that would have to be fulfilled by Computer Philology in order to qualify as a discipline. This is followed by reviewing steps taken with a view to the possible institutionalization of Computer Philology at Hamburg University. The above theoretical considerations, as well as the reference to the practical example will form the backdrop for reviewing three articles presented in recent years which have aimed to answer the question »What is Computer Philology?«. The contributions under discussion are seen to differ mainly with regard to the implications which they hold for Computer Philology's development into a discipline proper. The article's conclusion is that we ought to »Think Big» in Computer Philology and aspire to meet the criteria for disciplinarity which are considered an important scholarly benchmark.
Der Terminus ›Computerphilologie‹ bezeichnet ein noch junges Phänomen innerhalb des philologischen Wahrnehmungshorizontes. Was jemand, der sich als ›Computerphilologe‹ bezeichnet, betreibt, darüber hat man eine ungefähre Vorstellung (er oder sie traktiert Texte mit dem Computer); was man sich jedoch unter Computerphilologie als solcher vorzustellen hat, ist eine Frage, die traditionell arbeitende Philologen zumeist ratlos lässt, handelt es sich doch um keine bereits fest etablierte oder gar institutionalisierte – ja, was nun: Disziplin? Methodik? Schule?
Aber auch die Propagandisten der Computerphilologie selbst scheinen noch weit davon entfernt, sich auf eine eindeutige Selbstdefinition zu einigen. Die Debatte, die unter der Generalüberschrift »Was ist Computerphilologie?« beziehungsweise »What is Humanities Computing?« geführt wird, hält vielmehr ungemindert an. Ein wesentliches Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, drei exemplarische Bestimmungsversuche daraufhin zu befragen, welche Perspektiven sie einer Etablierung von Computerphilologie als wissenschaftlicher Disziplin eröffnen. Vorausgesetzt wird damit, dass das Kriterium der ›Disziplinarität‹ als eigentlicher Bewertungsmaßstab zur Klärung des wissenschaftlichen Status von Computerphilologie – als sogenannte ›Benchmark‹ – heranzuziehen ist. Die Plausibilität oder zumindest Fruchtbarkeit dieser Grundannahme wird, so hoffe ich, am Ende dieses Diskussionsbeitrags deutlich geworden sein.
Diese Prämisse bestimmt zugleich meine Reaktion auf die fünf Leitfragen, die uns von den Herausgebern des Jahrbuchs aufgegeben worden sind. Diese Leitfragen verlangen von den Beiträgern eine Stellungnahme zum Aspekt
• der disziplinären Eigenständigkeit des Fachs ›Computerphilologie‹ beziehungsweise ›Humanities Computing‹;
• der Bestimmung seiner genuinen Inhalte;
• der Ausgrenzung von extern zugewiesenen, jedoch inkompatiblen Inhalten;
• des Verhältnisses der Computerphilologie zu den philologischen Bezugsdisziplinen;
• der Chancen und Notwendigkeit zur Integration computerphilologischen Wissens in die Lehre.
Positiv an diesem Fragenkatalog ist, dass er die essentialistische Problemstellung des »Was ist?« in praktische und kohärente Teilaspekte auflöst, die in eine funktionale Rangordnung gebracht werden können. Aber gerade diese Systematisierung nährt andererseits die Illusion, wissenschaftliche Disziplinen entstünden überhaupt auf die in der Katalogform gespiegelte Weise – nämlich im deduktiven Modus, indem man also zunächst eine klare theoretische wie inhaltliche Bestimmung des Fachs erarbeitet, die anschließend unter Berücksichtigung der Maßgaben, die durch rationale Bedarfsanalysen und institutionelle Entwicklungsplanungen gesetzt werden, in eine planungskongruente Praxis überführt wird. Die Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen vollzieht sich jedoch, wie die wissenschaftshistorische Forschung zeigt, im Zuge eines multifaktoriellen und selten vorausplanbaren Prozesses – und die Schwierigkeiten, diesen Prozess zu modellieren, haben nicht zuletzt damit zu tun, dass bereits der Begriff der ›Wissenschaftsdisziplin‹ als solcher definitionsbedürftig ist. Aus einer wissenschaftshistorischen Globalperspektive betrachtet, die die Extension des Terminus' anhand empirischer Fallbeispiele untersucht, wird eines schnell deutlich: nicht nur die Wissenschaftsdisziplinen sind historische Phänomene – der Disziplinbegriff als solcher ist dem Wandel unterworfen. Was das in Hinblick auf die Bemühungen um die Einordnung von wissenschaftlichen Aktivitäten in disziplinäre Kategorien bedeutet, hat Lorraine Daston so umrissen:
[...] die Geschichte einzelner Disziplinen ist bedingt durch eine Geschichte der Disziplinarität, und in der Regel gilt, daß man sich auf die gegenwärtige Unterteilung der disziplinären Landkarte um so weniger verlassen kann, je weiter man in der Zeit zurückgeht.[1]
Eingedenk dieser Warnung wird jede der fünf zur Behandlung aufgegebenen Fragen nachfolgend zwar auf die eine oder andere Weise berührt werden; ihrer vorgegebenen Systematik indes kann mein Beitrag nicht entsprechen. Wer von einem ›Fach Computerphilologie‹ spricht und dessen Gegenstands- und Geltungsbereich insbesondere im Bereich der Lehre abzugrenzen sucht, hat prinzipiell bereits ein positives Urteil über den disziplinären Status des Unternehmens als Ganzes gefällt. Ich werde demgegenüber zunächst auf die Grundsatzfrage eingehen, unter welchen Voraussetzungen Computerphilologie überhaupt eine Disziplin sein könnte. Daran schließt sich ein Erfahrungsbericht über die Schritte zu einer möglichen institutionellen Etablierung von Computerphilologie an der Universität Hamburg an. Vor diesem Hintergrund soll schließlich – und in Rückwendung zur Grundsatzfrage der Kriterien von ›Disziplinarität‹ – etwas über drei in den letzten Jahren vorgelegte Ansätze zur Beantwortung der Frage »Was ist Computerphilologie?« gesagt werden. Diese definitorischen Versuche unterscheiden sich, so viel sei bereits vorweggenommen, in Hinblick auf die mit ihnen mehr oder minder bewusst implizierten Entwicklungsmöglichkeiten von Computerphilologie zur wissenschaftlichen Disziplin sui generis. Am Ende meines Beitrags wird eben jene These nochmals aufgegriffen werden, die sein Titel – in bewusst provokativer Parlance – auf die Formel »Think Big« bringt. Dieser Appell ist Ausdruck meiner Überzeugung, dass Computerphilologie nicht nur guten Grund hat, ihren Anspruch auf Disziplinarität zum Maßstab ihrer wissenschaftlichen Praxis wie Programmatik zu erheben – sondern dass sie geradezu gehalten ist, sich um ihrer wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit willen keinen geringeren als eben diesen Maßstab zu setzen.
Der oben zitierte Hinweis Lorraine Dastons auf die Geschichtlichkeit des Disziplinbegriffes selbst schließt den Versuch nicht aus, eine ›disziplinäre Landkarte‹ aus unserer aktuellen Sicht und unter Zugrundelegung eines zeitgenössischen Disziplinkonzepts zu skizzieren. Wie ließe sich ein derartiger moderner Disziplinbegriff fassen, der wenn schon nicht seine eigene dynamische Natur, so doch wenigstens die Tatsache der historischen Genese und Wandelbarkeit von Disziplinen selbst reflektierte?
Die Wissenschaftshistoriker Martin Guntau und Hubert Laitko haben 1987 unter der Überschrift Entstehung und Wesen wissenschaftlicher Disziplinen[2] eine Annäherung an den Disziplinbegriff vorgenommen, bei der ein historisches Merkmalsraster auf eine systematische Grundbestimmung abgebildet wird. Unter einer wissenschaftlichen Disziplin verstehen sie in systematischer Perspektive eine ›Entwicklungsform der Wissenschaft‹: also eine nach bestimmten Kriterien formal bestimmbare Variante der Wissenschaftsentwicklung, die ihrerseits auf den Generalnenner der »Entstehung neuen Wissens«[3] gebracht werden kann. Guntaus und Laitkos Folgerung für ihren anschließenden historischen Definitionsversuch:
Wir verzichten bewußt darauf, durch Angabe pseudo-definitorischer Formulierungen für den Begriff ›Wissenschaftsdisziplin‹ das Vorhandensein einer Theorie des Phänomens vorzutäuschen und bevorzugen die Einführung des Disziplinbegriffs auf dem Weg über eine Gesamtheit von Merkmalen.[4]
Die Merkmalsliste, die darauf folgend genauer vorgestellt wird, bildet in der Abfolge ihrer argumentativen Entwicklung nun zugleich den historischen Life Cycle einer typischen Disziplingenese ab. Ansatzpunkt der Argumentation wie Ausgangspunkt des genetischen Prozesses ist nach Guntau und Laitko die epistemologische Grundlegung einer Disziplin, die sich in der Spezifik ihrer Gegenstandsorientierung[5] ausdrückt; Bedingung ihrer praktischen Realisierung als Disziplin ist eine institutionelle Verankerung, die in Abhängigkeit von den ›gesellschaftlichen Mechanismen der Disziplingenese‹ erfolgt. Nur unter der Bedingung der Institutionalisierung (wobei die Formen der Institutionalisierung historisch variieren) erwirbt die Disziplin dabei auch die Fähigkeit zur Selbstevolution und -reproduktion. Der definitorische Primat liegt jedoch bei der Bestimmung von Erkenntnisziel und -intention:
Eine disziplinäre Gemeinschaft wird primär durch die auf den disziplinspezifischen Gegenstand gerichtete Erkenntnisintention und -disposition der Wissenschaftler zusammengehalten, sekundär durch institutionelle Formen, die diese Gemeinschaft hervorbringt beziehungsweise in denen sie sich bewegt. Sie besteht aus Individuen, die bezogen auf den Gegenstand der Disziplin kompetent kommunizieren.[6]
Institutionalisierung als nachgeordnete Bedingung der Disziplingenese sichert die nach Ansicht der Autoren notwendige ›Permanenz‹ einer bereits etablierten wissenschaftlichen Disziplin und damit den Fortbestand ihrer jeweiligen Erkenntnishaltung. Die – auch in definitorischer Hinsicht – entscheidende Distinktion muss hingegen auf die spezifischen Merkmale dieser wissenschaftlichen Erkenntnishaltung selbst rekurrieren. Das Gegenbild hierzu ist das des praktischen, verwendungs- oder problemlösungsorientierten Erkenntnisinteresses von ›final orientierten Tätigkeitssystemen‹ wie etwa das einer industriellen Entwicklungsarbeit. Final orientierte Tätigkeitssysteme dieser Art haben eben keine Permanenz, weil sie sich im Erreichen ihres pragmatischen Ziels erschöpfen. Demgegenüber unterstehen wissenschaftliche Tätigkeitssysteme einer dauerhaften kognitiven Orientierung, die nicht final auf einen einzelnen Verwendungszweck ausgerichtet ist, sondern auf den Gegenstand an sich. In diesem Sinne kommen die Autoren zu dem Schluss, Disziplinen seien »ausschließlich gegenstandsorientierte Tätigkeitssysteme, der systembildende Faktor ist der Abbildbezug zum Gegenstand bzw. die Abbildintention bezüglich des Gegenstandes.«[7]
Der Gegenstand allein kann dabei nicht die Identität einer Disziplin sichern, denn ganz offenbar können Gegenstände ja zugleich das Objekt verschiedener Wissenschaften sein. Mit dem Hinweis auf den »Abbildbezug« scheint deshalb impliziert, dass die kognitive Orientierung notwendig bereits das Vorliegen einer einheitlichen Theorie des Gegenstandes voraussetzt. Nicht zufällig mildern die Autoren jedoch dieses harte Kriterium durch das nachgestellte weiche der »Abbildintention«, sei es doch in höchstem Maße fraglich, inwieweit man selbst für hoch entwickelte ›reife‹ Disziplinen das Vorhandensein einer solchen Theorie obligatorisch voraussetzen dürfe. Mehr noch; sie stellen sogar ausdrücklich fest, dass »für Disziplinen in statu nascendi [...] eine derartige Forderung einfach utopisch« ist.[8] Das »kognitive Minimum«,[9] das nach Meinung der Autoren den Vertretern einer Disziplin gemeinsam sein müsse, wird schließlich auch nicht durch die nicht minder ›harte‹ Forderung nach einer verbindlichen Terminologie gesichert – auch dies ist wiederum zwar ein hinreichendes, aber eben kein notwendiges Kriterium. Denn die Praxis einer Disziplin besteht ja zum Gutteil eben gerade aus der Arbeit an einer verbindlichen Terminologie.
Den kognitiven Minimalkonsens disziplinärer Gegenstandsorientierung stiftet nach Meinung von Guntau und Laitko mithin weder der Gegenstand selbst, noch seine Theorie oder deren Terminologie, sondern
[...] prozedurales Wissen, Vorschriften für die Verfahren, die zur Identifizierung der den Gegenstand repräsentierenden Objekte angewandt werden. Diese Vorschriften können mit expliziten Vorstellungen über die Beschaffenheit der Objekte begründet sein, müssen es aber nicht zwingend und in jedem Fall, denn die Ansichten über diese Objekte bilden ja eben – zumal in Frühstadien der Disziplinbildung – nicht selten ein Feld, auf dem Kontroversen ausgetragen werden.[10]
Diese Fokussierung auf das geteilte »prozedurale[ ] Wissen« als Stifter des kognitiven Konsenses macht die Spezifik der Gegenstandsorientierung einer wissenschaftlichen Disziplin aus. Andere wissenschaftliche Orientierungen auf den gleichen Gegenstand sind ebenso möglich, wie es finale und damit nicht-wissenschaftliche Orientierungen auf den möglichen Verwendungszweck der empirischen Objekte sind, die unter den abstrakten wissenschaftlichen Gegenstandsbegriff subsumiert werden können. Das Entscheidende am »prozedurale[n] Wissen« ist, dass es auf einen qualitativ-methodischen und nicht nur auf einen quantitativen Zuwachs an Information abzielt.
Interessant scheint mir an der wissenschaftshistorischen Argumentation von Guntau und Laitko für den Computerphilologen, der sich um die Klärung des disziplinären Status der Computerphilologie bemüht, nun insbesondere der Hinweis auf historische Beispiele der Disziplingenese, die ihren Ursprung eben nicht in einer theoretischen, sondern in einer methodischen oder gar apparativen Entdeckung genommen haben.[11] Kann man auch die Entdeckung des Apparats ›Computer‹ durch die Philologie und die durch diesen ermöglichten Arbeitsverfahren am Gegenstand ›Text‹ unter diesem Gesichtspunkt bewerten? Wenn man ›Computerphilologie‹ vorläufig rein deskriptiv – das heißt: unter einer ausschließlich auf ihren Gegenstandsbereich und ihre Verfahren abstellenden Perspektive – definieren will, dann bietet sich an, sie zu bestimmen als die Bearbeitung philologischer Fragestellungen im Gegenstandsbereich ›Text‹ mit dem Instrument des Computers. Damit ist vorausgesetzt, dass der geforderte kognitive Minimalkonsens auf technologischer Ebene vorbereitet wird – eben durch die Vereinbarung zur Verwendung des Computers. Die Entscheidung, ob diese Ver- und Anwendung des Computers durch Philologen nun allerdings auch tatsächlich kognitiv fruchtbar wird, oder ob man es vielmehr mit einem kognitiv folgenlos bleibenden Konsens zu tun hat, verlangt eine genauere Bestimmung dessen, was man sich überhaupt unter dem Begriff des Zuwachses an »prozedurale[m] Wissen« vorzustellen hätte. Guntau und Laitko legen in ihrem Versuch, die Bedingungen einer möglichen Disziplingenese zu bestimmen, auf den Aspekt der »Heranbildung einer neuen Qualität der Erkenntnis im Zusammenhang mit der Disziplinentstehung« ganz besonderes Gewicht:
Das Hauptereignis bei der Genese einer neuen Disziplin sind die spezifischen Veränderungen im kognitiven Bereich zu dem betreffenden Erkenntnisgegenstand. Im Zuge der Herauslösung der einzelnen Elemente aus ihren verschiedenen Entstehungszusammenhängen[12] formiert sich das neuartige System wissenschaftlicher Tätigkeiten der Disziplin sowie das entsprechende System von Erkenntnisresultaten. In verschiedenen Fällen entwickeln sich diese Zusammenhänge auf der Grundlage eines oder mehrerer erklärender theoretischer Konzepte [...] Neben theoretischen Konzepten können möglicherweise aber auch die Ausarbeitung einer neuen wissenschaftlichen Problemsicht, die erfolgreiche Anwendung einer Methodik, das Entstehen eines spezifischen Kommunikationssystems oder auch die Entdeckung eines bestimmten Phänomens die qualitativ entscheidenden Veränderungen auf der kognitiven Ebene bei entsprechender Gegenstandsorientierung bewirken, auf deren Grundlage sich dann der Systemcharakter herausbildet.[13]
Ob also ein wissenschaftliches Tätigkeitssystem grundsätzlich einen Anspruch auf Disziplinarität erheben darf, hängt entscheidend davon ab, ob es überhaupt die geforderten »Veränderungen im kognitiven Bereich zu dem betreffenden Erkenntnisgegenstand« nachweisen kann, also in Hinblick auf ein philologisches Arbeitsfeld: ob sich durch die in ihm eingesetzten Verfahren zur Bearbeitung des Gegenstandes ›Text‹ ein qualitativ neuer Typus des Wissens über Texte generieren lässt – wobei im Kontext der Geisteswissenschaften ›Wissen‹ eben nicht in den empirisch verbürgten ›Gewissheiten‹ aufgeht, sondern auch und gerade die Möglichkeit zur Formulierung neuer Fragen und damit die Eröffnung von Wissensmöglichkeiten beinhaltet. Denn das heuristische Potential muss in unserem Kontext in Hinblick auf das Kriterium der nachweisbaren kognitiven Transformation mindestens gleichrangig gewichtet werden mit dem Potential zur Theoriebildung.
Ob hingegen ein Arbeitsbereich wie etwa der der Computerphilologie auch in sozialer Perspektive komplex genug erscheint, um als eigenständige Disziplin institutionalisiert zu werden, ist eine nachgeordnete Frage, um die zu streiten sich erst lohnt, wenn man die erste entschieden hat. Wo genau im Gesamtspektrum ›Subdisziplin – Disziplin – Supradisziplin‹ (analog: ›Thomas-Mann-Forschung‹ – ›Germanistik‹ – ›Philologie‹) eine neue Fachrichtung dabei günstigenfalls zu verorten wäre, hängt erstens stark von ortsgebundenen Faktoren ab, zweitens vom Zuschnitt der Fragestellungen und Aufgaben, mit denen sie sich ihrem eigenen Selbstverständnis nach befassen will. Vor dem Hintergrund ihrer wissenschaftshistorischen Bestandsaufnahmen kommen Guntau und Laitko zu folgendem Schluss:
Ein Gebiet muss dann zu einer Disziplin werden, wenn die Beherrschung dieses Gebietes in seiner ganzen Komplexität die gesellschaftlich akzeptable Zeit für die Integration eines durchschnittlich begabten Individuums in die Wissenschaft voll in Anspruch nimmt, und es kann solange eine Disziplin bleiben, wie die individuelle Beherrschung seiner Komplexität noch möglich ist.[14]
Das hier formulierte Kriterium einer temporalen Maßbestimmung (»akzeptable Zeit für die Integration« (siehe oben)) nimmt den Begriff ›Disziplin‹ in seiner ursprünglichen Bedeutung beim Wort: als »Lehrfach« nämlich.[15] Nur über die Lehre und damit die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses kann eine Disziplin den Erhalt der »auf den disziplinspezifischen Gegenstand gerichtete Erkenntnisintention und -disposition« (siehe oben) sichern. Ist ihr Gegenstandsbereich zu klein oder ist das, was ihren ›kognitiven Minimalkonsens‹ ausmacht nicht ambitioniert genug, so kann man sich entweder entscheiden, die geforderte Permanenz des Teilfaches im Nebenbetrieb einer ›echten‹ Mutterdisziplin herzustellen – oder aber zu der Einsicht kommen, dass man es mit einer methodologischen wie kognitiven Quisquilie zu tun hat, die nicht einmal diesen Aufwand rechtfertigt.[16]
An dieser Stelle möchte ich die Überlegungen zu einer möglichen wissenschaftstheoretischen Herleitung des Disziplinbegriffs beenden und auf ein konkretes Beispiel eingehen: die neu gegründete Hamburger Arbeitsstelle Computerphilologie. An diesem Einzelfall lässt sich nämlich zeigen, dass zumindest in der Vorphase einer möglichen Etablierung von Computerphilologie als Disziplin zwar nicht die Rangfolge, wohl aber die Reihenfolge der beiden Kernfragen sich umzukehren scheint, sobald aus einer bloßen wissenschaftlichen Interessen- eine universitär verankerte Arbeitsgruppe wird. Zur Erinnerung: die beiden Kernfragen an das jeweilige »gegenstandsorientierte Tätigkeitssystem« (siehe oben) lauten: a) Verspricht es eine hinreichende kognitiv-qualitative Transformation des wissenschaftlichen Gegenstandsbezugs?; b) sind seine Inhalte und Verfahren bereits so komplex, dass der Erhalt seiner distinkten Erkenntnisorientierung eine Institutionalisierung als Disziplin erforderlich macht?
Offiziell konstituiert wurde die Arbeitsstelle Computerphilologie an der Universität Hamburg im Oktober 2001, und zwar als ein gemeinsames Projekt der Fachbereiche 18 (Informatik) und 07 (Sprach-, Literatur und Medienwissenschaft).[17] Der interdisziplinäre und fachbereichsübergreifende Charakter unterscheidet die Hamburger Arbeitsstelle von anderen Initiativen im deutschsprachigen Raum und rückt das Unternehmen darin konzeptionell in deutlichere Nähe zu den im angloamerikanischen Bereich verbreiteten ›Humanities Computing‹-Einrichtungen. Diese definieren sich seit jeher erheblich prononcierter disziplinübergreifend, insofern hier die Anwendung der neuen Technologie auf den weiteren geistes- und sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbereich methodisch erforscht, hinsichtlich der bereitzustellenden Datenbasis und Software vorbereitet und schließlich in der Lehre vermittelt wird.[18] Gerade dieser interdisziplinäre Zuschnitt und die größere Affinität zur Informatik, die das Hamburger Projekt kennzeichnen, verdanken sich jedoch nur zum geringeren Teil der Orientierung an einem ausgearbeiteten theoretischen ›Vorwurf‹, der schon eine Abgrenzung des Faches möglich machte – sie sind ganz einfach auf den glücklichen Umstand zurückzuführen, dass es schon vorher enge Beziehungen insbesondere zwischen der Germanistischen Linguistik und der Informatik gegeben hat, die sich unter anderem in der personellen Zuordnung von Lehrenden zu zwei Fachbereichen niederschlägt. Diese ›Doppelidentität‹ von Institutsmitgliedern ist übrigens auch für die Informatik nicht folgenlos geblieben: als eine (wenn auch äußerliche) Konsequenz mag man die Tatsache werten, dass in der Hamburger Informatik nicht länger von der Arbeit an ›künstlicher Intelligenz‹, sondern von der an ›natürlichsprachlichen Systemen‹ die Rede ist.
Die Vorgeschichte der Hamburger Arbeitsstelle reicht, was den Beitrag seitens der Philologen betrifft, bis etwa Anfang der 90er Jahre zurück.[19] Das Interesse auf Seiten der Linguisten und Informatiker an der Anwendung rechnergestützter Methoden auf Sprache und Texte war naturgemäß bereits wesentlich früher erwacht, entstand aber zunächst wesentlich in den Kontexten von Computerlinguistik oder KI-Forschung, die zum damaligen Zeitpunkt (wenigstens aus der Perspektive des Philologen) noch schwer vermittelbar schienen mit den engeren textphilologischen Fragehaltungen. Erst um die Mitte der 90er Jahre wurden im damaligen Literaturwissenschaftlichen Seminar und zum Teil in Kooperation mit dem Rechenzentrum der Universität Lehrveranstaltungen angeboten, die anhand ausgesuchter Themenstellungen auch Studenten der Literaturwissenschaft eine erste Begegnung mit dem Arbeitsfeld ›Computerphilologie‹ ermöglichten. Je nachdem, wie anschlussfähig an das allgemeine geisteswissenschaftliche Erkenntnisinteresse sich das Thema aus der Perspektive eines typischen Literaturstudierenden ausnahm, fiel auch das Interesse an diesen Veranstaltungen aus: der Formalismus, der notwendig mit der Einführung in die Funktionsaspekte von Konkordanzprogrammen einhergehen musste, schreckte eher ab, während der spielerische Umgang mit Hypertexten oder eine auf Globalfragen abhebende medientheoretische Kulturkritik schon eher Zuspruch fanden. Nicht minder entscheidend ist und war für Studierende allerdings die Frage, auf welcher Curricularstufe und von wem – sprich: ob als Seminar II und von einem prüfungsberechtigten Dozenten oder ob als reine Begleitveranstaltung und von einem allenfalls zur Ausstellung eines Seminarscheins berechtigten Lehrbeauftragten – die Veranstaltung angeboten wurde.
Die persönliche Interessenlage, sprich: die Anschlussfähigkeit an ein Erkenntnisinteresse, das sich vorrangig auf die durch kulturelle Artefakte aufgeworfenen Sinnverstehensfragen richtet, und das unausweichliche Kalkül auf die zu sammelnden Studiennachweise wie die schließliche Prüfung beim Studienabschluss waren und bleiben Faktoren, die die Durchsetzungsfähigkeit von Computerphilologie in der Lehre entscheidend determinieren. Dass Computerphilologie an der Universität Hamburg nicht allein mit dem Mittel noch so ambitionierter oder gutmeinender, aber isolierter Lehrveranstaltungen institutionell zu etablieren sein würde, war allerdings von vornherein klar. Auch im Rahmen einer Vorstellung eigener Forschungsvorhaben in diesem Bereich, die den Komplex insgesamt zwar anschaulicher machen konnten und auch durchaus mit Interesse und Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurden, konnte ebenfalls nur auf Einzelinitiativen hingewiesen werden.[20] Um überhaupt einen ersten Schritt in Richtung einer möglichen institutionellen Verankerung zu machen, wurden deshalb ab Mitte der 90er Jahre im damals noch sehr kleinen Interessentenkreis mehrere Konzeptpapiere und Memoranden entworfen, die im Wesentlichen dreierlei leisten wollten: erstens die Fachkollegen darüber informieren, was man sich überhaupt unter ›Humanities Computing‹ vorzustellen hatte, zweitens belegen, dass sich hier ein wichtiges und zukunftsträchtiges Feld in Forschung und Lehre auftat, drittens Perspektiven für eine mögliche Integration des engeren Arbeitsbereichs ›Computerphilologie‹ in die bestehenden institutionellen und curricularen Strukturen erschließen.[21] Unter Punkt eins geriet der Tonfall dabei oft etwas larmoyant; der unvermeidliche Tenor: »Amerika, Du hast es besser!« Spätestens bei Punkt drei jedoch mussten konkrete und pragmatisch orientierte Überlegungen sowie ein realistisches Machbarkeitskalkül Priorität gewinnen. Tatsächlich zeigte die Reaktion auf die verschiedenen Fassungen der Memoranden denn auch, dass erst eine entschiedenere Fokussierung auf den Bereich der Lehre und eine mögliche mittelfristige und innovative Curricularentwicklung die vorgebrachten Überlegungen ›anschlussfähig‹ für die Fachbereichsleitung machen konnte.[22]
Der hier skizzierte Hamburger Fall zeigt, dass es sich hinsichtlich der institutionellen Etablierung des Faches Computerphilologie ähnlich verhält wie bei der Werbung für die konkrete computerphilologische Lehrveranstaltung unter Studierenden: die Vermittlung eines distinkten und interessanten inhaltlichen Profils für das neue Fach spielt zwar eine wichtige Rolle – aber erst wenn die Frage der institutionellen Kontextualisierung und Einordnung wie Entwicklungsmöglichkeit in Abhängigkeit von den formal vorgegebenen Rahmenbedingungen reflektiert wird, gewinnt das Fach für Außenstehende Konturen. Die für uns selbst so wichtige Frage der disziplinären Eigenständigkeit kann, da dieses Fach als solches ja überhaupt erst noch im Entstehen und nur vereinzelt in der deutschen Universitätslandschaft anzutreffen ist, nur zum geringeren Teil auf der Ebene relativ abstrakter methodischer oder wissenschaftstheoretischer Bestimmungen diskutiert werden – und sie darf schon gar nicht im Modus unumstößlicher Setzungen beantwortet werden, die es unmöglich machen, auf die je lokal gegebenen institutionellen Bedingungen zu reagieren. Anders gesagt, die positive Bestimmung dessen, was die Disziplin ›Computerphilologie‹ in Lehre und Forschung ausmacht, sollte man mindestens zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht inhaltlich und in Katalogform vornehmen, sondern eher durch die Formulierung eines flexibleren methodologischen Generalnenners. Das allerdings schließt nun umgekehrt eine relativ strikte Definition ex negativo nicht aus. So heißt es denn auch in einem der Hamburger Memoranden:
1. Zum Begriff der
›Computerphilologie‹
Computerphilologie (CP) ist ein
Teilbereich des Arbeitsfeldes ›Humanities Computing‹ (HC). Die CP
befaßt sich u.a. mit drei Aspekten der rechnergestützten Bearbeitung
traditioneller philologischer Gegenstände:
Archivierung, Edition,
Dissemination von Texten im elektronischen Format;
quantitativ-lexematische
bzw. qualitativ-semantische Analyse von Texten;
Annotation, Kommentierung
und wissenschaftliche Interpretation von Texten (Tagging, Kodierung,
Modellierung).
Im Sinne der Methodenreflexion und Theoriebildung macht
die CP darüber hinaus sich selbst zum Forschungsgegenstand, um die teils
methodisch-technologisch, teils philologisch definierten Erkenntnisbedingungen
ihrer Praxis zu thematisieren und
transformieren.[23]
Deutlich abzugrenzen ist die CP von der bloßen Fertigkeitsvermittlung im Umgang mit Computern, Textverarbeitungssystemen, EDV-basierter Datenrecherche in Katalogen und dem WWW und so weiter. Diese Grenzziehung kann indes keine fixe sein: bei der rasanten Entwicklung von Hard- und Software ist auch in Zukunft damit zu rechnen, dass Produkte und Anwendungen zur Verfügung gestellt werden, die mindestens für eine Übergangsfrist als grundlegende methodologische Innovation zu würdigen und zu erschließen sind, bevor sie Eingang in den Fundus der Standardanwendungen finden können.
Bereits heute zeigt sich, dass die klare Abgrenzung von der reinen Fertigkeitsvermittlung (»Wie bediene ich den Computer? Wie recherchiere ich im Internet? Wie arbeite ich mit MS Word?«) strategisch richtig und wichtig war. Die Legitimation von Computerphilologie qua Serviceleistung führt schnell in ein Dilemma – denn man schränkt sich damit auf genau das ein, was Guntau und Laitko als eine »finale Orientierung« (siehe oben) gekennzeichnet haben. Einführungen in die Nutzung des Computers in fachwissenschaftlichen Kontexten werden heute an der Universität Hamburg in Tutorien gegeben, die keinen Zusammenhang mit der Arbeitstelle Computerphilologie haben. Einen weiteren und vielleicht noch interessanteren Beleg dafür, dass man mit der Fertigkeitsvermittlung auf ein schnell erlahmendes Pferd setzt, liefert der Vergleich der Situation in zwei am Germanistischen Institut im Abstand von fünf Jahren abgehaltenen Seminaren zur Computerphilologie. Im Wintersemester 1996 hatten von rund zwanzig Studierenden zwei einen Mac und vier einen eigenen PC – und das wohlgemerkt in einem Seminar, das ausdrücklich als Einführung in die Computerphilologie firmierte. Um die Praxiskomponenten der Lehrveranstaltung überhaupt realisieren zu können, musste daher auf einen PC-Pool des Rechenzentrums zurückgegriffen werden. Bei einigen Studierenden war zudem eine begleitende Einweisung in Grundtechniken der Computernutzung unumgänglich. – In einem gegenwärtig (Sommersemester 2002) stattfindenden Seminar II zur Computerphilologie besitzen alle zwanzig Studierenden einen eigenen Rechner, davon einige sowohl einen Mac wie einen PC.[24] Ja, das Problem stellt sich jetzt bereits eher umgekehrt: wir behandeln im Seminar unter anderem den Textanalyse-Klassiker TACT und etliche Studierende möchten das Programm selbst anwenden und testen. Aber: TACT läuft auf der DOS-Plattform und damit allenfalls noch unter Windows '98 und ME. ›Archaische‹ Betriebssysteme diesen Zuschnitts gibt es hie und da noch auf dem Rechner eines Professors, aber nicht auf dem unserer Studenten; wir können von Glück sagen, wenn jemand sich noch nicht die Zeit genommen hat, auf seinem neu gekauften Notebook als erstes Windows ME durch Windows 2000 zu ersetzen.
Die deutliche Priorisierung der Lehre drückt sich unter anderem in der Geschäftsordnung der Hamburger Arbeitsstelle Computerphilologie aus. Dort heißt es unter § 3:
Die Arbeitsstelle für Computerphilologie verfolgt insbesondere das Ziel, in Ergänzung zu den bestehenden Studiengängen ein innovatives modulares Lehrangebot zu entwickeln, das sich an Studierende der philologischen Fächer richtet und ihnen für Berufswelt und Wissenschaft den Erwerb von zukunftsrelevanten Zusatzkenntnissen und Qualifikationen (Zertifikate) im Schnittbereich Philologie/Informatik ermöglicht.[25]
Erste Anstrengungen zur Umsetzung dieses Programms und der schrittweisen Gestaltung eines modularen Angebots werden derzeit unternommen.[26] Der Versuch, über die Einwerbung von Mitteln aus dem so genannten Innovatec-Programm des DAAD einen hoch qualifizierten ausländischen Gastdozenten zu finanzieren und damit erstens durch den Transfer von externem Know-How in Bezug auf die Curriculumsgestaltung, zweitens durch die Unterstützung eines insbesondere in der Lehre des Faches überaus erfahrenen Praktikers den gesamten Umsetzungsprozess zu beschleunigen, schlug hingegen fehl. Ohne über die Gründe des abschlägigen Bescheids spekulieren zu wollen, darf man zumindest vermuten, dass die Formulierung eines Förderungsantrag seitens der Philologie im Rahmen dieses eher technologieorientierten Programms ohnehin wohl kaum erwartet worden war.[27] Man kann daraus nur die Lehre ziehen, dass Computerphilologen sich bei derartigen Bewerbungen Konkurrenzbedingungen stellen müssen, die andere Anforderungen an die Antragsbegründung stellen als jene, die wir normalerweise in den philologischen Disziplinen voraussetzen.
Welche allgemeineren Schlussfolgerungen kann man aus dem Hamburger Beispiel ziehen? Erstens: die institutionelle Legitimation von Computerphilologie – sei es nun als eigenständiges Fach, als zertifizierte Zusatzqualifikation oder nur als in den herkömmlichen philologischen Studiengang eingebundenes Zusatzangebot – muss in erster Linie über die Lehre erfolgen. Dass man nichts zu lehren hat, wenn es keine Forschung gibt, ist offensichtlich – aber niemand von uns lehrt, in welchem Fach auch immer, ausschließlich über das, was er oder sie selbst erforscht hat. In den angloamerikanischen Ländern, die zumindest im Undergraduate-Bereich stärker am schulischen Modell ausgerichtete Curricula kennen, stellt die inhaltlich-thematische Verkoppelung der Lehre mit der eigenen Forschung auch in den Philologien eher den Ausnahmefall dar – zumal dann, wenn es sich um Forschung am Cutting Edge einer Disziplin handelt. Wenn wir auch im deutschsprachigen Raum in absehbarer Zeit tragfähige computerphilologische Curricula aufbauen wollen, so erscheint zudem der Teilimport von andernorts bereits realisierten Strukturen und Inhalten unumgänglich.[28] Da die personellen Ressourcen an Computerphilologen an deutschen Universitäten sehr beschränkt sind, sollte man – neben der ja ohnehin schon methodisch gebotenen interdisziplinären Orientierung im engeren Rahmen der eigenen Institution – vielleicht auch darüber nachdenken, ob man nicht Curricula konzipieren kann, die in einer universitätsübergreifenden Kooperation in die Lehrpraxis umgesetzt werden.
Zweite Schlussfolgerung: wir kommen um die Frage einer klareren Definition des Geltungsanspruchs von Computerphilologie als wissenschaftlichem Tätigkeitsfeld trotz der strategisch gebotenen Priorisierung der Lehre dennoch nicht herum. Dabei ist in Hinblick auf das Hamburger Beispiel nochmals zu unterstreichen, dass es sich hier nicht um den Fall einer bereits vollzogenen institutionellen Etablierung von Computerphilologie als Disziplin handelt, sondern um die Institutionalisierung einer Interessengruppe in Form einer offiziellen Arbeitsstelle. Zwar herrscht der von Guntau und Laitko geforderte »kognitive Minimalkonsens« (siehe oben) unter den Mitgliedern dieser Arbeitsstelle; von methodologischer oder theoretischer Homogenität kann indes keine Rede sein. Es ist damit jedoch immerhin gewährleistet, dass
[...] empirisch registrierbare Phänomene als Erscheinungsformen des Gegenstandes der Disziplin identifiziert werden können; auf diese Weise wird eine gemeinsame Relevanzbewertung der Phänomene möglich, wenn nicht komparativ, so doch wenigstens auf der Ebene von Ja-Nein-Entscheidungen. In den Regulativen des empirischen Verhaltens der Forscher müssen gewisse Konsensusforderungen erfüllt sein, während auf der Ebene der theoretischen Interpretationen der Beobachtungen und Experimente nicht nur Differenzen, sondern sogar Gegensätze und Kontroversen vorliegen können.[29]
Offen ist nicht zuletzt die Frage, ob die Mitglieder der Arbeitsstelle in ihrer Gesamtheit überhaupt das Ziel der Etablierung von Computerphilologie als Disziplin anstreben. Unser Kollege Walter von Hahn zum Beispiel schätzt, aus der Perspektive des Linguisten und Informatikers urteilend, Computerphilologie dezidiert als eine ›Hilfswissenschaft‹ ein.[30] Damit wird der Anspruch auf Disziplinstatus zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen – zumal, da die Kennzeichnung eines Tätigkeitsfeldes als ›Hilfswissenschaft‹ keine normative, sondern eine relative Bestimmung ist, die nach meiner Kenntnis bislang keine genaue wissenschaftstheoretische Explikation erfahren hat. Je nach Perspektive und Erkenntnisinteresse kann fast alles zur Hilfswissenschaft geraten. So sprach etwa der Sprachphilosoph Conrad Hermann – horribile dictu – von der »Stellung der Philologie als einer philosophischen Hilfswissenschaft«.[31] Dennoch wird damit zugleich die Frage aufgeworfen, ob man etwa aus der Perspektive des Computerlinguisten der computerphilologischen Erkenntnishaltung und -disposition prinzipiell einen hinreichend innovativen kognitiven Gehalt zuerkennen kann. Für die Hamburger Arbeitsstelle Computerphilologie zeichnet sich hier ein deutlicher Klärungsbedarf ab. Allgemeiner gesagt: die interne Debatte über die Frage des wissenschaftlichen Status ist für jede computerphilologische Initiative von eminenter Wichtigkeit, und sei es nur, um das Verhältnis zu den bereits etablierten Wissenschaftsdisziplinen zu bestimmen. Aber genau weil diese Frage so wichtig und von so prinzipieller Natur ist, sollte man sie meiner Meinung nach von Anfang an nicht als eine nach dem kleinsten, sondern als eine nach dem größten gemeinsamen Nenner formulieren: kann Computerphilologie eine Disziplin sein?
Warum diese anspruchsvolle Fragehaltung für die Computerphilologie unumgänglich ist, möchte ich nun am Beispiel dreier Bestimmungsversuche von ›Computerphilologie‹ zeigen. Diese Bestimmungsversuche repräsentieren drei exemplarische Definitionsansätze:
(1) Instrumentelle Bestimmung von
›Computerphilologie‹
(Hardmeier 2000)
(2) Deskriptive Bestandsaufnahme computerphilologischer
Praxis
(Jannidis 1999)
(3) Methodologisch-epistemologische Kennzeichnung von ›Humanities Computing‹ (McCarty 1998)
(1) Unter dem Titel Was ist Computerphilologie? hat Christoph Hardmeier 2000 das Beispiel einer dezidiert auf den instrumentellen Charakter abstellenden Bestimmung von Computerphilologie vorgelegt.[32] Dieser aus einer Tagung zum nämlichen Thema hervorgegangene Beitrag verwendet die Metapher vom Computer als ›Lesesklaven‹, der
[...] auf jede Suchnuance sprachlicher Formulierung programmiert werden kann, als stupider, sturer und zuverlässiger Fleißarbeiter, der ohne jede eigene (immer störende!) Vorstellung genau und nur das liest und sammelt, was man ihm zuvor zu lesen aufgetragen hat. Damit ist die Grundidee einer textwissenschaftlichen Lesetechnologie formuliert: es geht um ein genau kontrollierbares Lesen von Texten nach beliebig modellierbaren Mustervorgaben auf allen Ebenen der sprachlichen Formung in Texten.[33]
An dieser Einengung des Begriffs ›Computerphilologie‹ auf die praktische Verwendung »textwissenschaftlicher Lesetechnologie« (siehe oben) hält Hardmeier durchgehend fest. Zwar wird behauptet, dass der Computer in seiner computerphilologischen Verwendung »dem High-Tech-Teleskop des Astronomen vergleichbar« sei und im Sinne solcher Analogie die literaturwissenschaftliche »Theoriebildung, Instrumententwicklung und Gegenstandserfassung [...] in einem offenen Prozeß der Rückkoppelung«[34] voranschritten. Beim genaueren Nachfassen indes zeigt sich, dass Hardmeier allenfalls eine Beeinflussung der Instrumententwicklung durch die Progression in der Theorie meint, keineswegs jedoch eine solche, die in der umgekehrten Richtung verliefe: also eine Reformulierung von Theorien auf Grund der durch das Instrument ermöglichten Einsichten.[35] Der Computer reduziert sich für ihn de facto auf ein ›Leseinstrument‹, Computerphilologie auf dessen Verwendung, und all dies findet schließlich seinen argumentativen Grund in der – als solche plausiblen – These, die dergestalt restriktiv verstandene computerphilologische Praxis könne »objektivierbare Zugänge zur Pragmatik sowie zu Funktionen und Sinnpotentialen literarischer Texte«[36] eröffnen. Nur dass der Verfasser zwar von »objektivierbaren Zugängen« spricht, aber tatsächlich die Objektivierbarkeit des Sinns selbst meint und schließlich – wenn auch wohl ungewollt – behauptet, wenn er zusammenfassend schreibt:
Mit Hilfe des ›einfältigen Lesers‹ tastet sich die Computerphilologie induktiv-empirisch durch komplexe Zeichengeflechte von Texten hindurch, um deren Eigen-Sinn besser zu verstehen und sie vor vorschnellen Eintragungen des Rezipienten und der Interpretationsgeschichte zu bewahren [Hervorhebung JCM].[37]
So restriktiv die instrumentalistische Bestimmung von Computerphilologie einerseits ist, so exzessiv mutet andererseits der methodologische Anspruch, der hier mit dem Einsatz einer bloßen Technik verknüpft wird. Wenn Hardmeier schließlich auf »verheißungsvolle Impulse und Instrumente«[38] verweist, die in den von ihm skizzierten Forschungsprojekten aufgewiesen würden, dann zeigt diese Wortwahl unfreiwillig nochmals an, wie ernst man den reklamierten Anspruch auf eine Erschließung von Objektivität zu nehmen hat. Ein Nachsatz zu der oben zitierten Passage klärt über die konzeptionelle Provenienz sowohl des Textbegriffs, wie womöglich auch der emphatischen Kennzeichnung ›verheißungsvoll‹ auf: »Dieses ist das oberste Ziel auch einer bibelwissenschaftlichen Textauslegung, die dem reformatorischen Prinzip des ›sola scriptura‹ verpflichtet ist.«[39]
Wie auch immer man sich zu dem von Hardmeier vorausgesetzten Textkonzept und der resultierenden philologischen Grundhaltung stellen mag, so muss dennoch die prinzipielle Frage gestellt werden, welche Perspektiven der in diesem Zusammenhang entfaltete Begriff von ›Computerphilologie‹ für deren mögliche Etablierung als einer Disziplin birgt. Die Antwort kann denkbar knapp ausfallen: keine. Denn die Konsequenz der von Hardmeier vertretenen instrumentalistischen Definition ist die Negation einer der für die Computerphilologie »spezifischen Veränderungen im kognitiven Bereich zu dem betreffenden Erkenntnisgegenstand«.[40] Der durch das Instrument gestiftete Zugewinn ist qualitativ allenfalls in dem Sinne einer größeren Trennschärfe der Gegenstandsbeschreibungen; eine grundlegend neue Perspektive auf den Gegenstand ›Text‹ eröffnet eine so verstandene Computerphilologie jedoch nicht.
(2) Unter dem selben Titel wie Hardmeier – Was ist Computerphilologie? – hatte bereits ein Jahr zuvor Fotis Jannidis einen ganz anderen Ansatz verfolgt.[41] Es geht dabei im Wesentlichen um eine deskriptive Bestandsaufnahme computerphilologischer Praxis:
Unter dem Etikett ›Computerphilologie‹ soll [...] das Wissen um die Einsatzmöglichkeiten des Computers in der Literaturwissenschaft gesammelt werden. Insbesondere gehören dazu das (2) Erstellen und (3) Verwenden elektronischer Texte, einschließlich (3.1) der Lektüre und des (3.2) Information Retrievals, (4) die Hypertexttheorie und -praxis mit Berücksichtigung von Hyperfiction und (5) das Programmieren von Anwendungen für Literaturwissenschaftler.[42]
Diese Sammlung deckt in der Tat alle wesentlichen Felder der Praxisanwendung des Instruments ›Computer‹ in der Literaturwissenschaft ab. Jannidis geht dabei weit über das hinaus, was unter den extrem engen instrumentalistischen Begriff Hardmeiers fällt; insbesondere hebt er die Notwendigkeit – aber auch die methodologische Problematik – der Textauszeichnung (MarkUp) als eines integralen Bestandteils einer Computerphilologie hervor, die sich von der rein quantitativen zur qualitativen Textanalyse weiterentwickeln will. Die eingangs des Artikels angekündigte »methodische Überlegung [...], wie das Wissen der Computerphilologie bestmöglich zu formulieren und tradieren ist«,[43] beschränkt sich indes vollkommen auf die technischen Aspekte von Wissensrepräsentation und Datenkonservierung und spart die an dieser Stelle eigentlich geforderte theoretische Klärung aus, ob überhaupt und wenn ja, was für eine Art neues ›Wissen‹ über den Gegenstand ›Text‹ mittels der computerphilologischen Praxis generiert wird. Und im Zusammenhang mit der Erörterung der Vorbehalte traditioneller Literaturwissenschaftler gegenüber quantitativen Verfahren erwähnt Jannidis zwar die »Chance, die sowohl in der Bestätigung des Bekannten als auch in der Problematisierung lieb gewonnener Vorurteile durch neue und andere Forschungsmethoden liegt«[44] – das überaus gewichtige Argument wird jedoch nur en passant vorgetragen und nicht weiter erörtert.
Diese Selbstbeschränkung auf eine deskriptive Sammlung der im ›Arbeitsfeld Computerphilologie‹ zum Einsatz kommenden Techniken führt besonders in dem Abschnitt »Software für Philologen und Literaturwissenschaftliches Programmieren«[45] zu einer völligen Ausblendung des konzeptionellen wie kognitiven Innovationspotentials, das im Zuge der Neuentwicklung literaturwissenschaftlicher Programme erschlossen werden kann. Und auch in Hinblick auf bereits bestehende Programme führt es schließlich zu einem schiefen Bild, wenn etwa Programme wie TUSTEP und TACT in einem Atemzug genannt werden. TUSTEP ist ein im Wesentlichen auf Batch-Processing basierendes Programm zur editorischen Herstellung und Aufbereitung von Texten im drucktechnischen Sinn, das allerdings – gewissermaßen ›gegen den Strich gebürstet‹ – mit einigem Aufwand auch zur statistischen Textauswertung benutzt werden kann, wie etwa Thomas Rommel gezeigt hat.[46] TACT hingegen wurde konzeptionell von Anbeginn auf die Erfordernisse quantitativer wie qualitativer Textanalyse hin konzipiert und ist in seinen wesentlichen Komponenten (»Makebase« und »Usebase«) ein interaktives Forschungswerkzeug.[47]
Stellen wir an Jannidis' Sammlung des »Wissens um die Einsatzmöglichkeiten des Computers in der Literaturwissenschaft«[48] abschließend die gleiche Frage wie an Hardmeiers Definitionsversuch: Ist damit eine chancenreiche Perspektive für die argumentative Begründung von Computerphilologie als einer wissenschaftlichen Disziplin eröffnet? Jannidis' eigenes Resümee lautet:
Computerphilologie ist insgesamt also ein Arbeitsfeld, das auf interdisziplinäre Kooperation hin ausgerichtet ist: Verwurzelt im Wissensstand einer Philologie integriert sie Arbeitsmethoden der quantitativen Forschung und der angewandten Informatik. Zugleich kooperiert sie mit anderen Philologien und geisteswissenschaftlichen Fächern im übergreifenden Diskussionsforum des Humanities Computing. Die Diskussion dient nicht nur dem Austausch des technischen Wissens, sondern vor allem auch der Information darüber, wie die beteiligten Disziplinen ihre Fragestellungen für die Bearbeitung mit dem Computer operationalisieren.[49]
Den Hinweis auf die interdisziplinäre Orientierung der Computerphilologie kann man akzeptieren (mehr dazu siehe unten). Die Beobachtung zum doppelten Abstammungsverhältnis zur Philologie und zur Informatik (hier könnte man allerdings mit nicht minder gutem Grund auch noch die Textlinguistik und die Statistik anführen) ist ebenfalls zutreffend. Das Kernkriterium der Disziplinarität – das kognitiv-methodologische Innovationspotential – indes bleibt in Jannidis' Bestimmung bestenfalls unerwähnt, schlimmstenfalls wird man es implizit in Frage gestellt sehen durch die Feststellung, die Diskussion im Kontext des Projekts ›Humanities Computing‹ diene primär dem Austausch über Verfahren zur Operationalisierung geisteswissenschaftlicher Fragestellungen für die Bearbeitung mit dem Computer. Ähnlich wie bei Hardmeier bleibt dabei vollkommen ausgespart, dass die Bearbeitung alter geisteswissenschaftlicher Probleme mit dem neuen Instrument ›Computer‹ qualitativ neue Fragestellungen entwerfen hilft.
In einer anderen Hinsicht allerdings mag Jannidis' deskriptive Gesamtschau des ›Arbeitsfelds Computerphilologie‹ sehr wohl zu unserer Diskussion beitragen: sie verdeutlicht nämlich, dass man die Frage nach dem methodisch-kognitiven Innovationspotential der Computerphilologie möglicherweise gar nicht mehr sinnvoll stellen kann, wenn unter die Praxis der Computerphilologie derart heterogene Problemstellungen wie etwa die der philologischen Textedition und der hermeneutischen Textauslegung gerechnet werden. Einwurf des agent provocateur: »Vielleicht beschränkt sich der Beitrag des Instruments ›Computer‹ zur ersteren in der Tat auf den quantitativen Aspekt, während in Hinblick auf die letztere qualitative Ansprüche geltend gemacht werden können?«[50] Wenn dem so wäre, müsste man wohl folgern, dass es zwar eine computergestützte Editionsphilologie gibt, aber dass diese der Computerphilologie im Sinne einer echten Disziplin nicht zuzurechnen ist, sondern eben Editionsphilologie bleibt. Da ich selbst kein Editionsphilologe bin, möchte ich hier nicht jene Lanze brechen, die nach meiner persönlichen Einschätzung angesichts einer derart provokativen Behauptung sehr wohl für das eminent kognitiv-methodologische Potential computergestützter Textedition und elektronischer Texteditionen zu brechen wäre.[51]
(3) Unser drittes Beispiel, Willard McCartys Bestimmungsversuch unter dem Titel What is Humanities Computing? bezieht sich nicht auf den im angloamerikanischen Sprachraum eher unüblichen Begriff ›Computerphilologie‹ beziehungsweise ›Literary Computing‹, sondern auf den das umfassendere Feld kennzeichnenden Terminus.[52] Der Beitrag, der im elektronischen Diskussionsforum HUMANIST starke Beachtung erfahren hat,[53] stellt die Ausgangsfrage nach den Bedingungen, unter denen die bislang nur unzureichend gewährte »institutional recognition of work in humanities computing«[54] erfolgen könnte. Die Antwort fällt unerwartet bündig aus und wird auch gleich vorweggenommen:
If we can show these [computational; JCM] methods to be scholarly in their application to the arts and humanities, and to form a coherent perspective on their data, then the case for recognition will in essence be made. An ancillary question is the pragmatic one of where we place humanities computing within the institution so as to realise its potential. Whether it is a discipline is really a secondary issue, perhaps even a distraction [...].[55]
Es geht damit insgesamt um das Problem der adäquaten Würdigung der im Tätigkeitsfeld ›Humanities Computing‹ erbrachten Leistungen seitens der akademischen Institutionen. Warum McCarty dabei die Diskussion um den disziplinären Status von Humanities Computing für sekundär, wenn nicht gar vom Kern der Sache ablenkend hält, wird erst in der zweiten Hälfte des Artikels deutlich (dazu unten mehr).
Die priorisierte Leitfrage betrifft den Aspekt der »scholarly and academic basis for recognition of work in humanities computing«.[56] McCartys Antwort wiederholt hier die von ihm bereits an anderer Stelle vertetene Grundsatzposition, dass der philologisch eingesetzte Computer als »a mental prosthesis, an agent of perception and instrument of thought«[57] zu werten sei; hinzu tritt jetzt die allgemeinere Bestimmung der »mediation of thought by the machine«.[58] Wir können bei McCarty damit – im Unterschied zu den beiden vorangehend diskutierten Bestimmungsversuchen von Hardmeier und Jannidis – eine dezidiert auf das kognitiv-methodologische Innovationspotential abhebende Kennzeichnung von ›Humanities Computing‹ erkennen, die sich zudem vehement gegen die restringierte instrumentalistische Sichtweise richtet:
It is thankfully more and more difficult these days to speak of the computer as ›just a tool‹ (ignoring what tools are), and equally difficult to rest content with a definition of humanities computing that omits its mediating effects.[59]
Der weitaus größere Teil von McCartys Artikel ist nun allerdings der verwirrenderweise zunächst als Nebenproblem (»ancillary question«) eingeführten Frage gewidmet, »how the subject might best be institutionalised«.[60] Die Argumentation verwandelt sich in der Folge zunehmend von dem Versuch einer prinzipiellen Begründung zu dem einer strategischen Legitimation von Humanities Computing im institutionellen Kontext. Zu beachten ist dabei die unter der Hand eingeführte Redeweise von Humanities Computing als »subject«, also als Lehrfach. Deutlich hervorgehoben wird entsprechend die Notwendigkeit, ein Curriculum auf hohem Anspruchsniveau zu entwickeln und die Lehre auch und gerade des ›ABCs‹ des Humanities Computing hoch qualifizierten Dozenten anzuvertrauen, statt ein solches Curriculum zu billigen Workshops und Kurzkursen verelenden zu lassen. Zudem fordert McCarty, dass das Studium praktischer und theoretisch-methodologischer Komponenten verbindlich gemacht wird. Vor dem Hintergrund der pädagogischen Desiderata wird dann ein an die Adresse der Institution ›Universität‹ gerichtetes strategisches Argument vorgebracht das, so darf man angesichts der Tatsache, dass pädagogische Notwendigkeiten im Rest des Artikels keine weitere Erwähnung finden, wohl schließen, wieder auf den eigentlichen Kern der Sache – die Frage institutioneller Anerkennung – zu sprechen kommt:
To do better for our students and ourselves, as we must, requires teachers with balanced training in both the technical and scholarly aspects of humanities computing – and in academic positions that will allow them to develop both sides intellectually and professionally.[61]
Wer allerdings meint, die so begründete Notwendigkeit einer institutionellen Verankerung von Humanities Computing als Vorbedingung qualitativ hochwertiger Lehre und Forschung resultierte darin, dass McCarty deren Etablierung als wissenschaftlicher Disziplin forderte, der hat sich getäuscht. Ein Irrtum übrigens, den zuvor schon sein Hinweis nahe gelegt hatte, dass die Hauptschwierigkeit beim Dokumentieren des Ertrags von Forschungen im Arbeitsfeld Humanities Computing darin liege, dass
the results are largely scattered and buried, across discipline-based journals, books and conferences in the fields of application and in research projects whose primary aim lies elsewhere.[62]
Auch diese zutreffende Bemerkung sollte ja eigentlich gerade für die Notwendigkeit einer Bündelung in einer eigenen Disziplin sprechen. McCarty votiert aber für ein ganz anderes Modell, das deutliche Affinität zur Selbstdefinition des ehemaligen Centre for Computing in the Humanities (CCH) an der University of Toronto, wie auch der des Humanities Computing Centers am King's College, London, verrät:[63] Humanities Computing soll nämlich profitieren von der von ihm behaupteten
[...] weakening of the boundary separating those who use information from those who provide it. This weakening is most welcome, especially to service-providers within the academic hierarchy, but the matter is more complex than a throwing off of chains. A reconfiguration of the academy, redefinition of roles and re-education of those in them are implied. Let me focus here, however, only on humanities computing. To bring it into the core of the institution means not merely adding another unit but rethinking how units interrelate. For humanities computing a central idea in such a rethinking is ›collegial service‹ [...]. Humanities computing is [...] a communal instrument for the probing and strengthening of community.[64]
Wenn uns an dem Bestimmungsversuch Hardmeiers die restringierte Fixierung auf das Instrument und an dem von Jannidis die Ausblendung der Frage des kognitiv-methodologischen Innovationspotentials verwundert hat, dann im Falle McCartys diese unvermittelte und nachgerade emphatische Wendung, in der Widersprüchliches verklammert werden sollen: die pragmatische Legitimation von Humanities Computing gegenüber den bereits etablierten Disziplinen durch das Erbringen einer – angeblich neue Dignität genießenden – Servicefunktion einerseits mit der Behauptung, Humanities Computing sei, da ja jeder ihre Tools und Verfahren benötige, andererseits dazu prädestiniert, die Rolle einer Mittlerin einzunehmen, die dem interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Diskurs über Fachwissen und Arbeitsprozesse eine mediale Infrastruktur einzieht.
Was bei McCarty als eine ambitionierte und prinzipielle Begründung des legitimen Anspruchs von Humanities Computing auf Wissenschaftlichkeit und Academic Standing begann, verkommt so unter dem Regime des zunehmend stärker gewichteten strategischen Legitimationskalküls schlechtestenfalls zu einer servilen Geste, bestenfalls zu einer Neuauflage der Behauptung, es gäbe in den Geisteswissenschaften so etwas wie eine den interdisziplinären Diskurs organisierende Leitdisziplin. Wie kurzlebig solche Stilisierungen selbst im Falle etablierter Disziplinen sind, hat zuletzt das Beispiel der Linguistik gezeigt. Das Rad der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Arbeitsbereiche lässt sich nicht zurückdrehen – zumal nicht von einem Arbeitsbereich, der sich seiner selbst noch nicht gewiss ist und dessen Anspruch auf die Rolle eines inter- oder transdisziplinären Moderators oder gar eines primus inter pares damit schwerlich zu vertreten sein dürfte. Dieses Manko drückt sich schließlich auch in dem tentativen Definitionsansatz aus, den McCarty ans Ende seines Beitrags stellt:
Humanities computing is an academic field concerned with the application of computing to arts and humanities data or their use in the creation of these data. It is methodological in nature and interdisciplinary in scope. It works at the intersection of computing with the arts and humanities, focusing both on the pragmatic issues of how computing assists scholarship and teaching in the disciplines and on the theoretical problems of shift in perspective brought about by computing. It seeks to define the common ground of techniques and approaches to data, and how scholarly processes may be understood and mechanised. It studies the sociology and epistemology of knowledge as these are affected by computing as well as the fundamental cognitive problem of how we know what we know. Its tools are derived from practical work in computer science, but like that work its application of them uses models of intelligence developed in cognitive science and philosophy of mind. It tests the utility of these models to illuminate particular objects of study by direct involvement in the fields of application. Its object of knowledge is all the source material of the arts and humanities viewed as data. Like comparative literature it takes its subject matter from other disciplines and is guided by their concerns, but it returns to them ever more challenging questions and new ways of thinking through old problems. [Hervorhebungen JCM].[65]
Hier wird nun leider keine Definition im Sinne einer klaren wissenschaftstheoretischen Bestimmung geliefert, sondern eine an ihren ›Rändern‹ – das heißt dort, wo sie Aussagen über die Relation zu bereits etablierten Disziplinen macht – zunehmend ausfransende Deskription. In ihr lassen sich allenfalls noch Residuen (siehe meine Hervorhebungen) dessen ausmachen, was eingangs des Artikels als überzeugende methodologische Grundbestimmung ausgeworfen worden war. Diese Grundbestimmung kann man so formulieren: Humanities Computing ist definiert a) als Praxis der Verwendung des Computers im Sinne eines geisteswissenschaftlichen ›agent of perception‹ und zugleich b) als theoretische Reflexion dieser Praxis hinsichtlich ihrer epistemologischen Konsequenzen.
In Hinblick auf unsere Fragestellung, inwieweit Humanities Computing beziehungsweise Computerphilologie das Kernkriterium der Disziplinarität erfüllen kann, liefert McCartys Beitrag damit ein gewichtiges prinzipielles Argument für den kognitiven Innovationsgehalt des Tätigkeitsfelds – um es dann jedoch leider umso deutlicher mit einer auf den Speziallfall eines vermutlich eher lokalen Legitimationsbedürfnisses fixierten ›Serviceofferte‹ auszuhebeln, die zwischen unangebrachtem Bescheidenheitsgestus und uneinlösbaren Versprechungen oszilliert.[66]
Aus der Nebeneinanderstellung der drei Definitionsversuche von Hardmeier, Jannidis und McCarty lassen sich nun Schlussfolgerungen ziehen: Erstens: eine auf vorübergehende lokale Gegebenheiten und seitens externer Bezugsdisziplinen formulierte ›Servicedesiderata‹ abstellende Legitimation von ›Humanities Computing‹ taugt ebenso wenig zur prinzipiellen Begründung des Anspruchs auf wissenschaftlichen Status, wie dies ein auf der Grundlage eines partikularen oder gar idiosynkratischen Forschungsdesiderats (Verwendung eines ›Lesesklaven‹) entworfener Bestimmungsversuch leisten kann; beide negieren vielmehr implizit schon die Idee einer konzeptionellen Allgemeinbestimmung. Zweitens, auch ein rein deskriptiv verfahrender Ansatz kann, so umfassend er auch das Tätigkeitsfeld zu beschreiben versucht, dessen kognitiven Generalnenner nicht bestimmen. Eine jede wissenschaftliche Disziplin ist mehr als die Summe ihrer institutionellen Realisierungen und der jeweils umgesetzten Forschungsprojekte und Curricula – sie muss vielmehr über eine abstrakte konzeptionelle Identität methodologischer Art verfügen, um angesichts der Vielfalt ihrer institutionellen wie historischen Instanzen identifizierbar zu bleiben.
Ob nun ein wissenschaftliches Tätigkeitsfeld in seiner konkreten Ausformung – sagen wir: Computerphilologie an der Universität Hamburg – hinreichende Komplexität in Forschung und Lehre gewinnt, um den Anspruch auf Institutionalisierung in der Praxis erfolgreich umsetzen zu können, ist – und hierin kann man McCarty auch und gerade unter Rückbezug auf Guntau und Laitko sicher nur zustimmen – eine zweitrangige Frage. Ihre Beantwortung ist ganz offensichtlich abhängig von kontingenten, eindeutig orts- und zeitgebundenen Faktoren, darunter primär den personellen wie materiellen Ressourcen. Aber nicht die Kontingenz der Faktoren macht diese Frage zweitrangig, sondern vielmehr die Tatsache, dass Computerphilologie sich überhaupt nie mehr als ein bestenfalls subsidiäres, schlechtestenfalls marginales ›Tätigkeitssystem‹ begreifen kann, wenn sie sich nicht mindestens selbst am prinzipiellen Maßstab der Disziplinarität zu messen versucht. Der Beleg des kognitiv-methodologischen Innovationspotentials des Tätigkeitsfeldes Computerphilologie stellt so gesehen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für deren faktische Institutionalisierung als Disziplin dar. Die Frage nach Art und Umfang dieses Potentials ist deshalb eine, die man sich vor und unabhängig von allen strategischen Legitimationsbedürfnissen stellen muss, wenn überhaupt die Rede von Computerphilologie als wissenschaftlicher Tätigkeit ihre Berechtigung haben soll. Es ist damit aber auch genau die Scheidefrage, die zu verfolgen selbst im Interesse derjenigen liegt, die dezidiert der Meinung sind, Computerphilologie sei keine genuine Wissenschaft und reduziere sich auf die instrumentelle Anwendung von Computertechnologie auf Texte.
Die Antwort auf die so zugespitze Frage »Kann Computerphilologie überhaupt eine wissenschaftliche Disziplin sein?« mag, wenn man sie denn erst einmal gestellt und diskutiert hat, positiv oder negativ ausfallen: aber das ist nicht der Punkt, um den es mir geht. Wobei ich nicht verhehlen will, dass ich selbst in der von McCarty entworfenen Grundbestimmung ein starkes Argument für die Disziplinarität der Computerphilologie sehe. Es geht im gegenwärtigen Zusammenhang vielmehr zunächst und ausschließlich darum zu verdeutlichen, dass unsere wissenschaftstheoretischen Bestimmungs- und Einordnungsversuche der Computerphilologie bislang eines ausgewiesenen Maßstabes ermangeln. Dieser Maßstab muss zudem nicht nur transparent gemacht, er muss auch als ein relevanter, der Reichweite unserer Fragestellung entsprechender gewählt werden. Der an die im Tätigkeitsfeld Computerphilologie engagierten Lehrenden wie Studierenden gerichtete Appell des »Think Big!« will also keineswegs zur nassforschen Behauptung eigener Bedeutsamkeit ermuntern, sondern ganz im Gegenteil dazu auffordern, die Messlatte der Bedeutsamkeit und Relevanz auf ein ebenso anspruchsvolles wie definitorisch ausgewiesenes Niveau zu heben. Denn eine wissenschaftliche Tätigkeit, die sich von vorn herein der Benchmark ›Disziplinarität‹ verweigert, ist eine Tätigkeit, aber keine Wissenschaft: kein Arbeiten an der qualitativen Mehrung unseres Wissens und der Wissensmöglichkeiten in Bezug auf den Gegenstandsbereich ›Text‹.
Jan Christoph Meister (Hamburg)
PD Dr. Jan Christoph Meister
Forschergrupper Narratologie
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
jan-c-meister@uni-hamburg.de