KAFKAS WERKE AUF CD-ROM. KRITISCHE KAFKA-AUSGABE DES S. FISCHER VERLAGES BEI CHADWYCK-HEALEY. CAMBRIDGE 1999., 1 CD-ROM, 1 HANDBUCH. [PREIS AUF ANFRAGE]
Die Kritische Kafka-Ausgabe (KKA) des S. Fischer Verlags,[1] deren Schriften- und Tagebuch-Bände die hier zu besprechende CD-ROM enthält, hatte seit ihrem Erscheinungsbeginn 1982 eine Fülle öffentlicher und fachwissenschaftlicher Resonanz erfahren. Die folgende Darstellung kann daher, was die Textvorlage anbelangt, auf diese Kommentare verweisen und sich auf eine Zusammenfassung wichtiger Punkte beschränken (I). Sie wird danach die Charakteristika der CD-ROM-Präsentation darlegen und diskutieren (II) und abschließend einige Fragen der digitalen Edition ansprechen (III).
Zunächst also eine Erinnerung. Dass Franz Kafkas Schriften überhaupt in einer wissenschaftlichen Edition vorgelegt werden konnten, war vor allem dem großen Engagement Max Brods zu verdanken. Er missachtete glücklicherweise die testamentarische Weisung seines Freundes, seinen Nachlass »restlos und ungelesen zu verbrennen«;[2] 1939 rettete er Kafkas Handschriften nach Palästina, von wo aus sie 1956 in die Schweiz und schließlich (zu großen Teilen) an die Bodleian Library nach Oxford gelangten.[3] Auch hatten Brods eigene Ausgaben seit den 20er Jahren Kafka als Autor – und das hieß in diesem Kontext besonders: als Romancier – allererst weltbekannt gemacht.
Doch sie taten dies um den Preis, den handschriftlichen Befund an vielen Stellen zu verändern. Neben Umstellungen, Streichungen und der ungekennzeichneten Wiedergabe von Stellen, die Kafka selbst gestrichen hatte, nahm Brod Veränderungen der Orthographie und Absatzeinteilung vor und ›verbesserte‹ Textpassagen teilweise auch inhaltlich (von seinen Fehllesungen abgesehen). Da Kafka selbst nur vergleichsweise wenige Texte zum Druck gebracht hatte, lag ein großer Teil seiner Schriften somit nur in einer problematischen und für wissenschaftliche Zwecke unzureichenden Form vor.[4]
Dies hat sich mit der Kritischen Kafka-Ausgabe, in der seit 1982 zuerst die drei Romane (Das Schloß, Der Verschollene, Der Proceß), 1990 dann die Tagebücher, 1992/93 zwei Bände Nachgelassenen Schriften und Fragmente und 1994/95 die Drucke zu Lebzeiten erschienen, grundsätzlich geändert. Sie besitzt zwar nicht den Anspruch einer Gesamtausgabe: So fehlen die Amtlichen Schriften, für die seit 1984 eine Edition vorliegt,[5] und die Hebräisch-Studien; die Briefedition wurde separat geplant und ist noch im Erscheinen.[6] Auch folgt die Edition nicht den Maximen einer historisch-kritischen Ausgabe: Sie verzichtet auf die Darstellung von Quellenbezügen und (mit Ausnahme des Tagebücher-Bandes) auch auf einen Kommentar. Der Anlage nach handelt es sich um eine Leseausgabe, die jeweils den konstituierten (Lese-)Text in einem und den Apparat getrennt davon in einem weiteren Band präsentiert. Dieser Apparat greift allerdings auf Varianzdarstellungen historisch-kritischer Ausgaben zurück, verzeichnet also neben einfacheren Varianten (wie Streichungen oder Einfügungen) auch (teilweise mehrere) Überarbeitungsstufen, Buchstabenansätze und weitere Besonderheiten im Manuskript in detaillierter Weise; außerdem werden die Entstehungsgeschichte und der Handschriftenbefund extensiv dargestellt. Daher wurde die Ausgabe fast einhellig als wesentlicher Fortschritt der Kafka-Edition gesehen, der sowohl der Forschung als auch der weiteren Verbreitung – zum Beispiel in Form von Taschenbuchausgaben[7] – eine erheblich verbesserte Textbasis zur Verfügung stellte.
Doch wurde auch Kritik laut.[8] Neben dem Kompromiss-Charakter der Ausgabe wurden einerseits die Unpraktikabilität (wie das Fehlen einer Konkordanz zu Brods Ausgaben und Titeln), der Verzicht auf Hinweise zu den Quellen (wie zum Verschollenen) oder Einzelkommentare und die offenbar inkonsequenten orthographischen Modernisierungen kritisiert;[9] auch einige Emendationen – wie die Ergänzung fehlender Interpunktionszeichen oder die Zusammenführung getrennter Textteile – wurden mit guten Gründen infragegestellt.[10] Das Argument, man finde die authentische Textgestalt ja im Apparat, wurde andererseits durch die Verlagspolitik, eine billigere seitenidentische Ausgabe sowie eine Taschenbuchausgabe ohne Apparat zu produzieren, mindestens fragwürdig.
Hinzu kamen systematische Einwände gegen den Apparat, der nicht überall erlaubte, eindeutig die tatsächlichen Manuskriptverhältnisse und damit die Abläufe der Schreibprozesse zu rekonstruieren. Schließlich ließ sich fragen, inwieweit die angewandten herkömmlichen Editionsprinzipien einem Textkorpus wie Kafkas Nachlassschriften überhaupt gerecht werden könnten. Zwar entschieden die Editoren (was einhellig begrüßt wurde), auch die Entwürfe zu den Drucken zu Lebzeiten noch einmal in ihrem Entstehungskontext in den Nachgelassenen Schriften und Fragmenten abzudrucken; doch schon die Darbietung der Nachlasstexte in einem je separaten Textband, der sie als scheinbar gültige, von den Spuren ihrer Entstehung gereinigte Werke erscheinen ließ, stand in Widerspruch zu ihrem Überlieferungsstatus.[11] Daher wurde das Bedürfnis nach einer die Handschriften faksimilierenden Edition artikuliert, und 1995 begannen die als Kleist-Herausgeber bekannt gewordenen Roland Reuß und Peter Staengle im Stroemfeld-Verlag mit einer als historisch-kritisch bezeichneten Edition, deren ersten Bände die Unterschiedlichkeit der Konzepte deutlich dokumentieren.[12]
Angesichts eines solchen Diskussionsstandes wären bei einer Neuauflage der KKA in Buchform vermutlich Veränderungen zu erwarten gewesen, die wenigstens Teilen der geäußerten Kritik Rechnung zu tragen versucht hätten. Ihre jetzige Fassung als CD-ROM ist allerdings offenbar nicht als Neuauflage konzipiert worden, sondern primär als Übertragung des Textbestands der KKA (also von Textbänden und Apparaten) in ein digitales Medium mit entsprechender Aufbereitung.[13] Trotzdem gibt es Veränderungen, von denen zu sprechen sein wird. Zunächst aber soll kurz die technische Seite des Produkts beschrieben werden.
Technisch entspricht die Ausgabe dem hohen Standard, den der in Bezug auf CD-ROM-Editionen erfahrene Verlag unter anderem mit englischen, französischen und lateinischen Titeln sowie der CD-ROM-Edition der so genannten Sophien-Ausgabe der Werke Goethes schon mehrfach dokumentiert hat.[14] Der Benutzer erhält den gesamten Textbestand sowie die Installationssoftware auf einer CD-ROM; ein knappes, zweisprachiges Benutzerhandbuch informiert über die wichtigsten Funktionen wie Suche, Druck oder Speicherung. Die CD-ROM ist allerdings ausschließlich auf Windows 3.1x oder Windows 95/98/NT 4.0+ zu nutzen, das heißt nicht auf MacIntosh-Betriebssystemen.
Die Datenbank ist mit einem SGML-konformen Auszeichungssystem kodiert (SGML: Standard General Markup Language), über dessen genaue Konfiguration aber nur spärlich beziehungsweise indirekt (über die Hilfefunktionen für Kommandozeilensuche) informiert wird. Die gesamte technische Information zum Produkt ist im Übrigen minimalistisch. Die Installation erfolgte auf einem Windows-NT-Rechner aber problemlos; die Benutzeroberfläche ist insgesamt praktikabel; die Hilferegister sind zwar nicht immer richtig geschrieben, aber im Wesentlichen verständlich.
Auf den Text kann in einer von drei Varianten zugegriffen werden: Über die Suchfunktion, über das Inhaltsverzeichnis oder direkt über den »Volltext« (in dem dann mittels eines »Gehe-zu«-Fensters wieder zwischen den KKA-Bänden und ihren Seitenzahlen ausgewählt werden kann). Die Suchfunktion wird in zwei Versionen angeboten: Einmal als Zeichenkettensuche, für die jeweils verschiedenen Abschnitte der Datenbank (»Prosa«, »Tagebücher«, »Tagebuch-Register«, »Apparate«) getrennt oder zusammen durchsucht werden können; dabei sind neben den von andern Datenbanksystemen (wie OPACs) bekannten Suchmethoden (wie Trunkierung oder Kombinationen mit Bool'schen Operatoren) auch Anfragen wie die nach nahe zusammenstehenden Stichwörtern oder unterschiedlichen Schreibarten möglich. Zum andern erlaubt das System eine Kommandozeilensuche, über die komplexere Suchanfragen nach jeweiligen ›sekundären‹ Textauszeichnungen (zum Beispiel nach Überschriften, Motti et cetera) separiert durchgeführt werden können; diese Option erfordert allerdings Kenntnisse von Textauszeichnungssystemen, die allein aus der CD-ROM nicht zu erlangen sind. Für bestimmte textanalytische Fragestellungen wünschenswerte Möglichkeiten (zum Beispiel einer statistischen Auswertung der Suchergebnisse) sind nicht vorgesehen.
Die Suchergebnisse werden in einem Fenster neben dem »Volltext« aufgelistet; danach kann der jeweilige Text geöffnet oder der Kontext gezeigt werden.[15] ›Verwertet‹ werden können sie dann durch Ausdruck oder Speicherung; auch hier sind die Anleitungen (auch im Hilferegister) sehr knapp ausgefallen.[16] In jeder Speicherdatei wird ein umfänglicher Copyrightvermerk eingefügt. Immerhin ist aber der komplette Text solcherart exportierbar.
Der »Volltext«, das heißt der komplette Textbestand der KKA-Bände,[17] wurde für die CD-ROM in der Weise aufbereitet, dass die Seiten von jeweiligem Text- und Apparatband verlinkt wurden; am Anfang jeder Textseite, zu der es »Editorische Eingriffe«, »Varianten« oder (im Fall der Tagebücher) »Kommentar« in den Apparat-Bänden gibt, kann man durch Klick auf Verweis-Icons den entsprechenden Apparat-Text aufrufen. Dieser wird in einem etwas missverständlich als »Hyperlink« überschriebenen Fenster angezeigt, das im Prinzip auch so einstellbar ist, dass man Text und Apparat parallel lesen kann. Innerhalb der Seiten zum Beispiel des Kommentars zu den Tagebüchern sind wiederum die weiteren Verweise mit Links unterlegt. Ferner sind über Links Bilddateien (wie zum Beispiel von Zeichnungen in den Tagebüchern, Fotographien in den Kommentaren et cetera) sowie die »Editorische[n] Nachträge zur gedruckten Fassung« eingefügt (vergleiche dazu unten). Die Vernetzungsstruktur ist so insgesamt zwar gewöhnungsbedürftig, aber für rasche ›Nachschlagelektüren‹ sehr brauchbar; zusammen mit der Suchfunktion macht sie die CD-ROM weitaus benutzerfreundlicher als die in dieser Hinsicht bekannt sperrige Buchausgabe. Die Lesbarkeit – verstanden als solche von längeren Textpassagen – steht allerdings auf einem anderen Blatt (oder eben: nicht auf einem Blatt; je nach Monitorqualität wird die Lust auf Buchseiten sich auch bei dieser CD-ROM mehr oder weniger schnell wieder einstellen).
Zusammenfassen lässt sich hier vielleicht, dass die technische Seite der CD-ROM für die Zwecke, die damit wohl vorwiegend verfolgt werden (oder für das, was man an verfolgbaren Zwecken imaginiert hat), einerseits recht praktikabel ist; denn es steht offenbar die Idee im Hintergrund, dass die Texte hier primär ›durchsucht‹ oder mehr oder weniger ›maschinell‹ gelesen würden (zum Beispiel zwecks statistischer Auswertungen oder sprachanalytischer Fragen). Andererseits lässt sich fragen, ob für diese Zwecke nicht die Online-Version im Internet vollständig ausreichen würde: Damit wären jedenfalls die notorischen Fragen nach dem Veralten der Software beziehungsweise der drohenden Unlesbarkeit, wenn die Betriebssysteme nicht mehr vorhanden sind, auf denen diese läuft, zumindest an den Verlag zurückdelegiert.
Neben und parallel zur technischen Aufbereitung als Hypertext wurden allerdings, wie schon angedeutet, auch einige weitere Veränderungen vorgenommen, die einen recht zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Es ist nicht vorstellbar, dass die ursprünglich für die Edition Verantwortlichen dies so zugelassen hätten; sie wurden offenbar für die technische Umsetzung nicht mehr zu Rate gezogen.
Schon der Titel beziehungsweise seine Uneinheitlichkeit verrät nämlich nicht gerade Bewusstsein für die in der Kafka-Forschung seit langem diskutierten Fragen. Das Unternehmen heißt auf dem Umschlag, in der Kopfzeile des Bildschirmfensters und auch in den Rubriken der »Hilfe«-Register Kafkas Werke beziehungsweise mit einem Doppeltitel Kafkas Werke. Kritische Kafka-Ausgabe des S.Fischer Verlages bei Chadwyck-Healey. Doch der Titel der Fischer-Ausgabe in Buchform lautete Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe: Von ›Werken‹ war hier, aus nur zu guten Gründen, nicht die Rede. Denn gerade das Wissen, dass Kafka den Großteil der hier edierten Texte nicht oder noch nicht als abgeschlossene, in ihrem jetzigen Zustand gültige »Werke« ansah (als welche sie Brod anfangs publizierte), hatte ja das Unternehmen einer kritischen Ausgabe mit motiviert; von der theoretischen Problematisierung von Autorschafts- und Werkbegriffen in den letzten drei Jahrzehnten gar nicht zu sprechen.
Was sich also mindestens im Titel der KKA noch als Reflexion solcher Fragen fand, scheint hier verschwunden zu sein.[18] Ähnlich unbedacht geht es im Gesamtinhaltsverzeichnis weiter (ein solches enthält die Buchedition nicht): Dort (und auch zur Segmentierung der Datenbank bei Suchanfragen) wird als erstes die Großteilung »Prosa« und »Tagebücher« angeboten; unter Ersterem finden sich dann die Bände (und Apparatbände) der Romane, der Drucke zu Lebzeiten sowie der Nachgelassenen Schriften und Fragmente. Doch ist die Kategorie »Prosa« nicht nur schwammig (enthalten die Tagebücher keine Prosa?), sondern einfach unsinnig. Wissen die Bearbeiter nichts von dem Widmungsgedicht Kafkas von 1897, mit dem die Nachgelassenen Schriften und Fragmente überhaupt beginnen, oder von den anderen lyrischen Texten?[19] Wissen sie nichts von dem Dramenfragment des Gruftwächters, das gleich zu Beginn des »Oktavhefts A« steht, oder von den anderen kleinen ›dramatischen‹ Aufzeichnungen, wie dem kleinen Text über Felix und seine Tante im ›Hungerkünstlerheft‹?[20] Hätte man es nicht einfach, wie in der KKA selbst, bei Schriftenbelassen können?[21]
Wenn man mit solchen Maßnahmen der Benutzerunfreundlichkeit der Buchausgabe abhelfen wollte, ist dies leider schief gegangen. Unverständlich ist, was diesen Punkt anbelangt, im Übrigen auch, dass die in die Taschenbuchausgabe[22] aufgenommene hilfreiche Titelkonkordanz zu Brods Edition hier nun wiederum fehlt. Ein erheblicher Teil der Kafka-Forschung bezog sich auf Brods Titel; selbst noch die Beschreibungen der Manuskriptverhältnisse in der KKA tut dies. Wer nun aber – und das ist ja eine der wesentlichen neuen Möglichkeiten der KKA – nach dem jeweiligen Entstehungskontext sucht, steht hier – wie schon in der Buchausgabe – wieder ratlos vor einem Meer von Texten; er muss jetzt schon auf die Idee kommen, eine Suchanfrage nach dem Textanfang durchzuführen.[23] Während man hier am falschen Ort gespart hat (es hätte nicht übermäßig viel Mühe machen können, die Konkordanz der Taschenbuchausgabe nach den KKA-Seitenzahlen zu überarbeiten), ließ man andererseits eine als recht überflüssig erkannte Eigenart der KKA bestehen: Dort findet sich am Beginn jedes einzelnen Apparatbandes das komplette Inventar der nachgelassenen Schriften Kafkas, also nicht etwa nur eines der Überlieferungsträger der im jeweiligen Band gedruckten Texte. Ließ sich das in der Buchausgabe noch behelfsweise damit begründen, dass dieses Inventar zugleich als Sigleliste fungierte, macht es auf der CD-ROM offenkundig keinen Sinn mehr, diesen Text sechs Mal identisch wiederzugeben.
Vermutlich war die Begründung dieses Vorgehens, dass man mit der CD-ROM die Buchausgabe nicht nur vollständig, sondern auch unverändert wiedergeben wollte, um die alternative Zitation aus beiden zu ermöglichen. Entsprechend lautet auch eine der Erläuterungen im Hilfe-Register: »Alle Seitenumbrüche und Zeilenzahlen entsprechen exakt der gedruckten Ausgabe, typographische Merkmale wie Siglen werden in der elektronischen Ausgabe wiedergegeben.« (unpag.)
Leider nahm man es aber auch mit dieser Ankündigung in einigen Details nicht so genau. In den Tagebüchern fügte man beispielsweise eine besondere Kennzeichnung der Datierungen (oder von Angaben, die man dafür hielt) ein; man druckte sie nämlich – im Gegensatz zur Buchausgabe – fett.[24] Doch aus welchen ehrbaren Motiven auch immer das geschah, es hat leider zur Konsequenz, dass man nicht mehr weiß, von wem dieser Text so hervorgehoben wird; denn die Liste der verwendeten Zeichen enthält keinen Fettdruck.[25] Ein weiteres Beispiel für unaufgelöste Neuauszeichnungen ist die gesperrte Schrift in der KKA: Sie wird auf der CD-ROM in lila Fettdruck (!) reproduziert, aber nirgendwo ist erläutert, was diese Kennzeichnung denn bedeutet und woher sie stammt.[26] Die Herausgeber der Buchausgabe hatten in zweifellos langen Diskussionen ein System der Textauszeichnung entwickelt, das Kafkas Text und seine eigenen Veränderungen von ihren Erläuterungen und Emendationen zu unterscheiden erlaubte – die Minimalbasis für eine wissenschaftlich brauchbare Edition. Über diese editorische Textauszeichnung legt nun aber die digitale Fassung neuerliche Formatierungen, für die es keine Begründung oder Erläuterung gibt, die also dieses klare System unterminiert.
Besondere Spannung schließlich verspricht die Ankündigung in den Erläuterungen: »Neue Forschungsergebnisse des Herausgeberteams der Kritischen Kafka-Ausgabe, die erst nach der Drucklegung der Ausgabe bekannt geworden sind, wurden in die elektronische Ausgabe aufgenommen. Diese editorischen Nachträge zur gedruckten Ausgabe werden jeweils in gesonderten Fenstern angezeigt.«[27] Wie eine dank der Suchfunktion problemlose Durchsicht zeigt, werden auch tatsächlich 348 solcher »editorischen Nachträge« vorgenommen, wobei der allergrößte Teil wohl aus jenen Korrekturen stammt, die schon 1994 ohne Vermerk in die Taschenbuchausgabe eingingen.[28] Darunter sind viele Errata wie Detailfehler in der Textzeugenbeschreibung oder die Vertauschung der Reihenfolge von Punkt und Anführungszeichen; an vergleichsweise wenigen Stellen kommt es zu tatsächlich bedeutungsrelevanten Korrekturen in den emendierten Texten selbst.[29] Ein großer Teil betrifft im Übrigen den Tagebuch-Kommentar, wo zum Beispiel Ortsangaben präzisiert oder fehlerhafte Lemmatisierungen korrigiert werden.[30] Die umfangreichste Ergänzung betrifft ebenfalls den Tagebuch-Kommentar, nämlich eine deutliche Korrektur der dort mitgeteilten Erläuterungen zur Begegnung Kafkas mit Rudolf Steiner; auch diese stand so schon in der Taschenbuchausgabe zu lesen.[31]
Das fürwahr Erstaunliche an diesen editorischen Nachträgen ist nun aber weniger, dass sie gemacht wurden – was ja zweifellos zu begrüßen ist – , sondern wie. Sie wurden nämlich einfach in den unangetastet gelassenen »Volltext« der Ausgabe integriert. Mit anderen Worten: Man liest jetzt weiterhin falsche Lemmata oder Kommata, wird aber in einer Anmerkung informiert, wie es richtig heißen müsste. Ein analoger Vorgang in einer Buchausgabe bestünde darin, dass die Errata in Fußnoten auf der entsprechenden Seite angegeben, die Fehler aber beibehalten würden. Als Grund dieses paradoxen Vorgangs kann man auch hier nur vermuten, dass die Seitenfolge der Bücher unangetastet bleiben sollte. Da ›Seiten‹ in einer fortlaufenden Datenbank aber ohnehin nur in Textauszeichnungsmerkmalen bestehen, hätte man ebenso gut einfach den verbesserten Text einfügen und dies gegenüber der Buchausgabe kurz anmerken können.
In der jetzt vorliegenden Weise der Verzeichnung editorischer Zusätze hat man es jedoch mit dem verblüffenden Phänomen einer ›selbstkritischen‹ kritischen Ausgabe zu tun. Sie verzeichnet auch noch Varianten zum Variantenapparat, Anmerkungen zu ihren eigenen Anmerkungen, oder, anders gesagt: Sie dokumentiert nicht nur den Schreibprozess eines Autors, sondern auch noch den Arbeitsprozess der Editoren mitsamt seinen Pannen. Das ist zwar äußerst ehrlich, nur ist nach dem Sinn des Verfahrens zu fragen. Will man denn seine eigenen Fehler verewigen? Und was passiert, wenn – horribile dictu – in den »editorischen Nachträgen« wiederum Fehler auftreten?[32] Werden diese dann in einer nächsten Ausgabe wieder in einem Hyperlink zum Hyperlink korrigiert – und also wiederum verewigt?
Es ist – auf Grund der Angaben in der CD-ROM selbst – nicht zu beurteilen, wer die zuletzt beschriebenen Maßnahmen zu verantworten hat; allerdings würde man sich doch wünschen, der Verlag beziehungsweise die Verlage würden die für die Buchausgabe Verantwortlichen auch in alle technischen Aufbereitungsprozesse mit einbeziehen. Somit ergibt sich als Fazit: Einerseits ist, wie erwähnt, die CD-ROM-Ausgabe für bestimmte textanalytische Fragestellungen und beim ›Nachschlagen‹ hilfreich; die weiteren Abweichungen gegenüber der Buchausgabe – seien sie strukturell notwendig wie zum Beispiel das Gesamtinhaltsverzeichnis oder überflüssig wie die Datumshervorhebungen – enthalten allerdings fast allesamt Fehler, die mit wenig Mehraufwand zu vermeiden gewesen wären.
Über pragmatische Beurteilungen hinaus ist hier jedoch auch ein weiterer Komplex von Fragen berührt, der im Rahmen einer Rezension allerdings nur mehr angedeutet werden kann.[33]
Die vorliegende CD-ROM ist ein gutes Beispiel für jene digitalen Editionen, die Hypertextstrukturen auf eine ursprünglich in Buchform publizierte Ausgabe übertragen. Diese Ausgabe selbst beinhaltete jedoch schon nicht-digitale ›hypertextuelle‹ Strukturen, und dies hier noch in doppelter Form. Denn zum einen ist jede kritische Edition, die mit lemmatisierten Apparaten arbeitet, formal analog einem Hypertext strukturiert; ›unter den Worten‹ liegen gewissermaßen Verknüpfungen mit den im Apparat wiedergegebenen Varianten oder Erläuterungen. Zum andern lässt sich aber auch Kafkas Nachlass selbst, ohne damit einer technizistischen Interpretation das Wort reden zu wollen, als rhizomatischer Bau, als Textnetz mit Anschluss- und Überschneidungsstellen, Parallelwegen und Sackgassen lesen; wobei unterschiedliche von ihm selbst vorgenommene Markierungen – zum Beispiel Streichungen oder die Zusammenführung von Manuskripten zu Konvoluten – oder interpretativ erst sich ergebende beziehungsweise zu begründende Verbindungen vorliegen.[34]
Daraus folgt nun allerdings, dass in der CD-ROM-Ausgabe drei inkongruente ›Hypertexte‹ übereinander liegen (wenn man diesen Begriff einmal versuchsweise aus einem nur technischen Verständnis löst). Einerseits nämlich verändert schon die Buchausgabe die Verbindungen der Textteile gegenüber den Manuskripten: Hierzu gehören alle größeren ›Linearisierungen‹ in den ›Textbänden‹, die gegenüber dem Handschriftenbefund vorgenommen werden,[35] sowie die Herstellung des emendierten Textes selbst, insofern dessen Varianz in den Apparat verschoben und damit sozusagen virtualisiert wird. Schon die Buchausgabe nimmt also eine neue – eben drucktechnische – Kennzeichnung und Hierarchisierung möglicher Verbindungen im Manuskriptnetz vor.[36]
Die CD-ROM andererseits verdoppelt diese Komplexität nochmals, indem sie jetzt ihrerseits neue Links zwischen Lesetext und Apparat einführt, die aber nicht mehr auf den alten (also den Lemmata), sondern, wie oben beschrieben, auf den Seitenzahlen oder den Korrekturstellen der editorischen Nachträge basieren. Sie nimmt nicht mehr Stichworte aus dem Text, sondern nur der Kontingenz des Druckes geschuldete Merkmale zum Anhalt neuer Verbindungen. Man liest also, die CD-ROM nutzend, diese drei Hypertexte auf einmal: Eine digitale hypertextuelle Aufbereitung einer editorischen hypertextuellen Rekonstruktion eines hypertextuell strukturierten handschriftlichen Nachlasses, wobei jede dieser ›Hypertexte‹ anderen Verknüpfungslogiken folgt. Wirklich einfach wird man das nicht nennen können.
Im Gegenteil macht diese strukturelle Überforderung selbst eines gutwilligen Lesers (oder ›Nutzers‹) deutlich, dass die digitale hypertextuelle Aufbereitung die lesende Herstellung von ›Verbindungen‹ zwischen den Textteilen selbst nicht etwa erleichtert, sondern förmlich stört: Indem sie durch farbige Seitenzahlen, Link-Icons oder ähnliche Textauszeichnungen die vom Text selbst ermöglichten Verbindungen überlagert. Der doppelte Transfer – von den Manuskripten zum Buch und von diesem in die CD-ROM – macht die Komplexität der ersten Struktur nicht etwa sichtbar, sondern verdeckt sie.
Demgegenüber scheint die bislang verfolgte Praxis der Historisch-Kritischen Kafka-Ausgabe im Stroemfeld-Verlag geradezu bestechend einfach zu sein: Die Faksimilierung der Manuskripte und ihre diplomatische Transkription; wobei der Ausgabe ebenfalls CD-ROMs beiliegen, welche Suchanfragen im Text ermöglichen (der freilich jeweils nur vergleichsweise geringeren Umfang besitzt als die KKA-CD-ROM).[37] Dieser – auch als ›Archiv-Edition‹ bekannte – Ausgabentyp reproduziert tatsächlich ›urkundlich‹ die Manuskripte, ohne irgendeine weitere Verknüpfungsstruktur darüber zu legen. So delegiert er allerdings die Aufgabe aller Verknüpfungen und Linearisierungen komplexer Texte an die Leser/innen zurück; und ob die Texte damit wirklich einfacher zu lesen sind, steht dahin. Tatsächlich lesbar wird hier aber der Akt, die Geste des Streichens, weshalb noch der Reproduktion des Faksimiles hier die Aura der körperlichen Präsenz und dadurch vermittelt Authentizität zuzukommen scheint.
Die KKA, wie auch ihre CD-ROM-Aufbereitung, ist gegenüber dieser auf das Bild der Handschrift, auf die Topographie des Schreibakts gerichteten (und davon auch begrenzten) Edition offenkundig an Schrift als Typographie orientiert, und damit letztlich am Buchideal eines linearen Textes. Insofern Kafkas Schreiben zwischen ›Schrift‹ und ›Druck‹ hin- und hergerissen war, fast nur als Handschrift sich verwirklichte, aber (mindestens: auch) an der kulturellen Norm des gedruckten Buchs orientiert jene Akte des Streichens, Verschiebens oder Ersetzens in der Schrift erst vollzog, akzentuieren die beiden so verschiedenen Editionen in gewissem Sinn auch die Pole des Schaffensprozesses von Kafka selbst.[38]
Gerade die Orientierung am Buchideal setzt allerdings der Verwandlung der KKA in eine CD-ROM deutlich Grenzen. Die digitale Präsentationsform, als Medium letztlich basierend auf der Zahl (des binären Codes), kann zwar sowohl Bild als auch Schrift integrieren; die kulturellen Codierungen der überlieferten Medien (wie ›Authentizität‹ des Manuskripts oder ›anerkannte Geltung‹ des Drucks) jedoch kann sie schon nicht mehr überliefern, insofern das digitale Medium selbst anders codiert ist. Und wie auch immer eine ›hypertextuelle‹ Aufbereitung von Kafkas Manuskripten aussehen könnte: Sie müsste von diesen selbst ausgehen und nicht von deren primärer Umsetzung in ein Buch.
Michael Ott (Münster)
Dr. Michael Ott
Institut für Deutsche Philologie II
(Neuere deutsche Literatur)
Westfälische Wilhlems-Universität
Domplatz 20-22
48143 Münster
michaott@uni-muenster.de