MARIE-LAURE RYAN: NARRATIVE AS VIRTUAL REALITY. IMMERSION AND INTERACTIVITY IN LITERATURE AND ELECTRONIC MEDIA. BALTIMORE/LONDON: THE JOHNS HOPKINS UNIVERSITY PRESS 2001 (PARALLAX: RE-VISIONS OF CULTURE AND SOCIETY).

Während noch die frühen Theoretiker und Praktiker des Hypertextes diesen als ideale Ausdrucksform des postmodernen Menschen zelebrierten und produzierten, mehren sich seit Ende der 1990-er Jahre die kritischen Stimmen, die vor einer allzu großen Euphorie über die Möglichkeiten des neuen Mediums warnen und versuchen, dieses systematisch zu erschließen. Zu diesen Neukonzeptualisierungen, die durch Espen Aarseths Cybertext (1997) eingeleitet wurden, tritt neben Yellowlees Douglas' eher pragmatisch orientiertes The End of Books – or Books without End? (2000)[1] Marie-Laure Ryans breit angelegte Studie.

In ihrer jüngsten Monographie, in die eine Reihe von bereits veröffentlichten Aufsätzen eingeflossen ist,[2] führt Ryan mit der Narratologie und der Cyberkultur zwei ihrer Hauptforschungsgebiete zusammen, womit sie das von ihr herausgegebene Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory (1999) fortsetzt. Mit ihrer weitgesteckten Zielsetzung, Konzepte wie »Textualität, Mimesis, Narrativität, Literaturtheorie und die kognitive Verarbeitung von Texten im Lichte der jüngsten technologischen Entwicklungen, die neue Formen künstlerischer Weltentwürfe ermöglicht haben, zu überdenken« (S. 1), eröffnet sie sich ein breites Untersuchungsfeld, das sie auf vielfältige Weise und mit gut ausgesuchten Werkzeugen sorgfältig kartographiert. Bereits in der Einleitung geschieht die notwendige Begriffsklärung, aus der sich zugleich die Erläuterung der Einzelkapitel ergibt. Entsprechend den bereits in Titel und Untertitel aufgeführten Schlüsselbegriffen »virtuelle Realität«, »Immersion« und »Interaktivität«, entfaltet sie zunächst das Konzept der virtuellen Realität als »Teil unserer kulturellen Landschaft« (S. 2), um dann die Konzepte der Immersion und der Interaktivität als Grundbausteine für eine Phänomenologie des Lesens beziehungsweise der Kunsterfahrung im Allgemeinen nutzbar zu machen.

Virtualität: Täuschung und Möglichkeit

Im ersten – umfangsmäßig kürzesten, doch theoretisch dichtesten – Teil ihrer Ausführungen nähert sich Ryan dem philosophischen Virtualitätskonzept aus zwei verschiedenen Richtungen, die sie zunächst antithetisch gegenüberstellt. Auf der einen Seite entfaltet sie Baudrillards Idee der Simulation, wo das Virtuelle als das Hyperreale betrachtet wird. Dem gegenüber stellt sie Pierre Lévys Konzeptualisierung des Virtuellen als des noch nicht verwirklichten Potentials. Aus diesen beiden Aspekten des Virtuellen leitet sie ihre beiden Leitkonzepte für eine nähere Bestimmung von virtueller Realität ab: Immersion beruht auf dem Virtuellen als Simulation der Realität, Interaktivität dient der Verwirklichung der Potentialität des Virtuellen.

Ähnlich wie Douglas (2000) greift auch Ryan für ihre weitere Argumentation Janet Murrays Hamlet on the Holodeck (1997) auf, um im zweiten Kapitel dieses Teils ihr Konzept von Virtualität zu entwickeln, das – ebenso wie die fiktive Holodeck-Technologie – acht verschiedene Aspekte umfasst: (1) aktive Verkörperung, (2) die Räumlichkeit der Darstellung, (3) die sensorische Vielfalt, (4) die Transparenz des Mediums, (5) den Traum von der natürlichen Sprache, (6) alternative Verkörperung und Rollenspiel, (7) Simulation als Erzählung, (8) VR als Kunstform (vergleiche S. 51ff). Jeder einzelne dieser Aspekte wird von Ryan sowohl erläutert als auch anschaulich anhand von Beispielen illustriert. Zusammen bilden sie die ideale Erfahrung von virtueller Realität.

»Poetik der Immersion«

Mit ihrer »Poetik der Immersion« begibt sich Ryan auf ein Terrain, das insbesondere von strukturalistisch geprägten Spielarten der Textwissenschaft selten betreten wird. Die Frage, was eigentlich bewirkt, dass Leser sich in einem Buch ›verlieren‹, zielt deutlich weiter als es Fiktionalitätstheorien in der Regel tun, da sich bei der Betrachtung von Immersion der Schwerpunkt von einer Texteigenschaft zur Beschreibung des Text-Leser-Verhältnisses, in dem der Text für den Leser zur ›Welt‹ wird, verlagert. Um diese ›Welthaftigkeit‹ zu erzielen, muss der Text dem Leser die Möglichkeit eröffnen, seinen Körper in die fiktionale Welt zu projizieren. Folgerichtig geht Ryan in ihrer ›Immersionspoetik‹ von der räumlichen Immersion aus; in ihren darauf folgenden Ausführungen zur zeitlichen Immersion gelingt es ihr, durch ihren Ansatz das viel diskutierte Phänomen der Spannung in literarischen Texten neu zu beleuchten. Ebenso gelungen ist ihre Annäherung an die emotionale Komponente von Immersion, in der sie über die Analyse von Leserbefragungen die Aufhebung der Unterscheidung zwischen realer und fiktionaler Welt als wesentliches Merkmal herausarbeitet und dies theoretisch untermauert. Auch bleibt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Immersion und Realismus nicht unbeantwortet. Bedauerlich ist bei dieser Erschließung des Themas nur, dass Werner Wolfs[3] Überlegungen zur Illusionsbildung hier nicht in die Argumentation miteinbezogen wurden.

»Poetik der Interaktivität«

Der ›Immersionspoetik‹ stellt Ryan ihre Theorie der Interaktivität zunächst antithetisch gegenüber: Muss ein Text, um einen hohen Grad an Immersivität zu gewährleisten, so transparent wie möglich sein, findet Interaktion mit dem Text selbst statt, der in diesem Fall nicht als Welt erfahren, sondern mit dem als Gegenstand eines Spiels interagiert wird. Als Paradigma der Interaktivität führt Ryan den Hypertext an, anhand dessen sie Funktionen und Wirkungen selektiver Interaktivität erläutert: Hierzu unterscheidet sie zunächst zwei Ebenen, auf denen Interaktivität auftreten kann: Einerseits wird sie durch das Medium oder die technischen Gegebenheiten konstituiert, oder sie ist dem Werk selbst inhärent. Ferner lässt sich Interaktivität auf Grund der Freiheiten, die dem Benutzer eines interaktiven Textes eingeräumt werden, skalieren. Ryan nimmt keineswegs eine einfache Gleichsetzung von elektronischen und interaktiven Texten vor, vielmehr ergänzt sie diese beiden Texteigenschaften durch Aarseths (1997) Konzept der ergodischen Literatur, um mit Hilfe dieser drei Pole eine Texttypologie aufzustellen, deren acht Typen von nichtergodischen, nichtelektronischen und nichtinteraktiven Texten (›normale‹ literarische Texte) bis hin zu elektronischen, ergodischen und interaktiven Texten reichen, wobei sie hier, um einfache Gleichsetzungen zu vermeiden, zwischen selektiver (zum Beispiel in literarischen Hypertexten) und produktiver Interaktivität (zum Beispiel in MOOs und MUDs) unterscheidet, die sie im Folgenden weiter ausdifferenziert. Sie tut dies nicht, ohne nicht auch die Eigenschaften des elektronischen Mediums zu hinterfragen und diese im Vergleich mit Drucktexten herauszuarbeiten. Erst nach diesen gründlichen Differenzierungen arbeitet sie die verschiedenen Konzeptualisierung von Interaktivität auf.

Doch stellt Ryan zu Recht die Frage, ob bei so viel Interaktivität die Kohärenz eines (Hyper-)Textes nicht auf der Strecke bleibt. Es liege allein an ihrer Fähigkeit, Geschichten zu erzählen – so Ryans These –, ob sich Hypertexte in einer kulturellen Nische dauerhaft etablieren könnten. Auch um dieser Frage auf den Grund zu gehen, gibt Ryan sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Zunächst stellt sie fest, dass, wenn vom narrativen Potential interaktiver Werke die Rede ist, zwei grundsätzlich verschiedene Narrativitätskonzeptionen verwendet werden: auf der einen Seite die Ansicht, dass narrative Repräsentationsformen historischem und kulturellem Wandel unterlegen sind, auf der anderen Seite die Annahme eines zeitlosen und universellen kognitiven Modells des Narrativen. Ryan selbst definiert das narrative Potential eines Textes als Funktion der Architektur seines Linksystems und unterscheidet auf Grundlage dieser Definition acht verschiedene Typen von narrativen Strukturen.

Kann aber eine Form der Textualität wie der Hypertext, die auf Grund ihrer emergenten Qualitäten kultiviert wird, den Leser in eine immersive Erfahrung führen? Im Folgenden untersucht Ryan, inwieweit Hypertext und Immersion vereinbar sind und greift dazu ihre oben erarbeiteten Immersionstypen wieder auf. Wie aber kann ein Hypertext beziehungsweise jegliche Form interaktiver Textualität seine Defizite in den Bereichen der Immersivität und der Narrativität ausgleichen? Ryan sieht hier zwei nicht nur gangbare, sondern auch viel versprechende Wege, die Probleme, die Hypertext-Romane in diesen Bereichen unweigerlich mit sich bringen, zu beseitigen: Zum einen besteht die Möglichkeit, den Schwerpunkt der Hypertexte mehr auf die einzelnen Lexien zu legen, indem diese aus selbstständigen kurzen Formen wie Gedichten, Aphorismen, Anekdoten et cetera bestehen. Der andere Weg in der Ausschöpfung des multimedialen Potentials des elektronischen Mediums durch verschiedene Formen der Hybridisierung etwa mit interaktiven Kunstwerken oder Computerspielen.

Synthese: Versöhnung von Immersion und Interaktivität?

In ihrem Versuch, Ausdrucksformen aufzuspüren, in denen Interaktivität mit Immersion vereint wird, findet Ryan, indem sie zurückgreift auf die Eigenschaften der eingangs erläuterten idealen Erfahrung von Virtualität, zunächst nicht-elektronische Ausdrucksformen, denen es gelingt, den Konflikt zwischen ›Spiel‹- und ›Welt‹-Ästhetik aufzuheben; ihre beachtliche Reihe reicht hierbei von kindlichen Rollenspielen über Barockarchitektur bis hin zu einer »sehr kurzen Geschichte« (S. 317) dramatischer Darstellungsformen, die unter dem gewählten Blickwinkel interessante neue Einsichten gewährt. Erst ganz zum Schluss ihrer Darstellung kommt sie wieder auf die ob ihrer Möglichkeiten gefeierten elektronischen Medien zurück und diskutiert hier verschiedenen Varianten von Computerspielen, MUDs und MOOs, interaktiven Dramen et cetera, in denen partizipatorische Interaktivität ermöglicht wird.

Als Schluss und Ausblick ihrer Überlegen überdenkt Ryan noch einmal die neue Rolle von Literatur in der Medienlandschaft und typologisiert verschiedene menschliche Erfahrungen nach den vier Kriterien Immersion, Interaktivität, Gestaltung und Vergnügen (vergleiche S. 354ff); obgleich ein hastiger Blick auf die Tabelle, die das Buch beschließt, suggerieren mag, die Quintessenz von Ryans Argumentation sei, dass Spielen das Gegenteil von Totsein ist, ist doch der Weg, den Ryan beschreitet, um zu dieser, unbotmäßig vereinfachten, Schlussfolgerung zu gelangen, vortrefflich gewählt und zeitig deutlich mehr als dieses simplifizierte Ergebnis.

Gerade hier liegen die ausgesprochenen Stärken von Ryans durch die MLA preisgekröntem Werk: Ryan gelingt es, in vielen Bereichen Licht ins Begriffsdunkel zu bringen und die gerade in diesem Bereich noch sehr verworrene Begriffsexplikation eine gutes Stück voranzutreiben. Hierbei kommt vor allem ihr sehr präziser Umgang mit den so zahlreich vorhandenen Wissenschaftsmetaphern zum Tragen, wobei sie kein Konzept einfach übernimmt, sondern es immer zunächst auf sein Bedeutungspotential hin untersucht. Beachtenswert ist auch die breite textuelle Basis, auf der ihre Argumentation ruht. Nicht nur verwendet sie einen ausgesprochen weiten Textbegriff, es gelingt ihr auch, präzise Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Kritisch anzumerken ist allein, dass durch die Einbindung von früheren Aufsätzen manche Aspekte überproportional detailliert erörtert werden, während anderen im Vergleich weniger Raum eingeräumt wird.

Durch ihren Beitrag zur Cyberage Narratology[4] hat Ryan nicht nur einige offene Fragen aus einem neuen Blickwinkel betrachtet, sondern auch durch das heuristische Potential ihres Ansatzes neue Perspektiven und Forschungsmöglichkeiten eröffnet. Es sind auch Details wie die vielen graphischen Darstellungen, die sehr übersichtliche Bibliographie, die auch Auskunft darüber gibt, welche der zu Rate gezogenen Websites noch online sind und – last but not least – die eingefügten Interludien, die dieses Buch so eminent lesbar machen.

Klaudia Seibel (Gießen)

Justus-Liebig-Universität Gießen
Institut für Anglistik
Otto-Behaghel-Str. 10B
35394 Gießen
klaudia.seibel@anglistik.uni-giessen.de


(1. Mai 2002)
[1] Vgl. auch die Rezension von Beat Suter in Jahrbuch für Computerphilologie – online <http://computerphilologie.uni-muenchen.de/jg01/suter.html> (28.4.2002).
[2] Für ihre Grundthesen vgl. Marie-Laure Ryan: Immersion vs. Interactivity: Virtual Reality and Literary Theory. In: Postmodern Culture 5,1 (September 1994) <http://muse.jhu.edu/journals/postmodern_culture/v005/5.1ryan.html> (28.02.2002).
[3] Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen: Niemeyer 1993.
[4] So der Titel eines Aufsatzes von Ryan: Cyberage Narratology. Computers, Metaphor, and Narrative. In: David Herman (Hg.): Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus: Ohio State University Press 1999, S. 113-141.