Die Computerphilologie muss, wie viele andere Bindestrichfächer, ihre Selbständigkeit gegenüber den Elternkomposita erst beweisen, bevor man sie als eigenständige Disziplin anerkennt. Die Wahrnehmung eines Neuen als Disziplin beruht auf einer ganzen Reihe von Aspekten: Ein eigenes Forschungsfeld mit seinen eigenen Forschungsfragen und -methoden gehört ebenso dazu wie institutionelle Voraussetzungen, also Stellen, Institute, Zeitschriften (ja, auch Jahrbücher), Konferenzen und andere stabile kommunikative Zusammenhänge. Innerhalb der neuen Diskussionskreise wird man vor allem die inhaltlichen Fragen diskutieren, während nach außen hin die Wahrnehmung auch stark von den Institutionen geprägt wird. Blickt man unter dieser Perspektive auf die Computerphilologie, so zeigt sich ein Bild, das nicht gerade schmeichelhaft für das deutsche Wissenschaftssystem ist. Institutionelle Anfänge aus den 1970-er Jahren, die damals gleichzeitig mit den entsprechenden Unternehmungen in den angelsächsischen Ländern entstanden, wurden wieder eingestampft, sobald ein Stellenwechsel oder -freiwerden dies erlaubte. Immerhin zeichnet sich am Horizont eine zweite Welle von Gründungen ab, da Arbeitsstellen gegründet und Lehrstühle mit der Denomination »Computerphilologie« ausgeschrieben worden sind oder werden.
Ein zweites Problem, das sich für die Computerphilologie in Deutschland stellt, ist ein gewisser Hang, Lösungen nur diesseits der Landesgrenzen zu suchen. Ein Beispiel: Die Richtlinien der Textencoding Initiative, die sicherlich die wichtigste computerphilologische Errungenschaft in den letzten zehn Jahren darstellen, werden seit zwei Jahren von einem internationalen Konsortium getragen. Es hat zur Zeit 62 Mitglieder. Wenig überraschend ist der Umstand, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder, nämlich 36, aus Nordamerika stammen und 23 Mitglieder aus Europa. Sehr viel überraschender aber ist die Tatsache, dass drei der europäischen Mitglieder aus der tschechischen Republik stammen, aber nicht eines aus Deutschland. Und es ist kein wirklicher Trost, dass auch Österreich keine Mitglieder aufweisen kann. Solches Fehlen im internationalen Zusammenspiel hat sicherlich mit den Unterschieden der Wissenschaftskulturen zu tun, vielleicht auch damit, dass es kleineren Ländern leichter fällt, ganz selbstverständlich den Anschluss an die internationale Diskussion und die Teilhabe an internationalen Institutionen zu suchen. Doch bei einem neuem Fach wie der Computerphilologie, das überhaupt erst im internationalen Zusammenspiel die kritische Masse für eine eigene Disziplin erreicht, ist es besonders wichtig, dass die nationalen und die internationalen Diskussionen immer wieder zusammengeführt werden.
Das Jahrbuch für Computerphilologie möchte dazu einen eigenen Beitrag leisten und wird in Zukunft auch und verstärkt englischsprachige Beiträge publizieren. Für den Schwerpunkt in diesem Band, »Computerphilologie als Disziplin«, konnten wir einige Beiträger gewinnen, deren Namen Computerphilologen seit Jahren sehr vertraut sind. Sie wurden zu einem Beitrag eingeladen, indem ihnen fünf Fragen vorgelegt wurden:
1. Ist Humanities Computing beziehungsweise Computerphilologie eine neue Disziplin oder lediglich neues Wissen, das jeweils in die bestehenden Disziplinen integriert werden muss?
2. Was sind unverzichtbare Bestandteile einer solchen Disziplin beziehungsweise eines solchen Fachwissens?
3. Welche Bestandteile, die von anderen als wichtige Elemente der neuen Disziplin gesehen werden, sind nach Ihrer Auffassung unwichtig oder nicht einmal Teil von ihr?
4. Wie würden Sie die Beziehung zwischen Humanities Computing als Disziplin und den etablierten geisteswissenschaftlichen Fächern sehen? Wird das Humanities Computing deren Inhalt oder deren Methodologie ändern?
5. Ist es möglich oder sogar notwendig, computerphilologisches Wissen in die geisteswissenschaftliche Lehre zu integrieren?
Die Antworten auf diese Fragen gehen teilweise weit auseinander. Das hat sicherlich nichts damit zu tun, dass die junge Disziplin sich ihres Gegenstandsbereichs noch ungewiss ist. (Würde man den Fortbestand der Literaturwissenschaft vom Konsens über den Begriff Literatur abhängig machen, wäre es um die Zukunft des Faches schlecht bestellt). Vielmehr bilden die Fragen und die Antworten einen Teil jenes kommunikativen Kreises, der das Fach erst ausmacht.
Gedankt seien Gabriela Wabnitz und Peter Czoik, die umsichtig die Erstkorrekturen besorgt haben und Uta Klein, in deren Händen die Redaktion des Bandes lag.
Georg Braungart/Karl Eibl/Fotis Jannidis