SEBASTIAN DONAT: »ES KLANG ABER FAST WIE DEINE LIEDER...« – DIE RUSSISCHEN NACHDICHTUNGEN AUS GOETHES WEST-ÖSTLICHEN DIVAN, GÖTTINGEN: WALLSTEIN 2002. 504 S., [BUCH + CD-ROM, PREIS: 74,- EUR]

Von einem diachronischen Aussichtspunkt aus beschäftigt sich diese Untersuchung mit den russischen Nachdichtungen aus Goethes bedeutendstem lyrischen Spätwerk, dem West-östlichen Divan (1819-1827), das von Hendrik Birus als ›lyrisches Vermächtnis‹ gesehen wurde. Das Textcorpus enthält alle 800 Übertragungen bis zum heutigen Tag des aus über 320 Gedichten bestehenden Ensembles. Den Anfang macht die Übertragung eines vorab veröffentlichten Divan-Gedichts aus dem Jahre 1817. Der Endpunkt dieser chronologischen Reise ist 2000, da das Buch das Textcorpus der 1998 angenommenen Dissertation durch die russischen Publikationen zum West-östlichen Divan im Zusammenhang mit dem Goethe-Jubiläum 1999 ergänzt.

Mit einem starken geschichtlichen Zusammenhang also ruht diese sehr umfangreiche, 504 Seiten lange Studie auf einem sehr reichen und vielartigen Corpus, da fünfzig Übersetzer innerhalb eines fast zwei Jahrhunderte langen Zeitabschnitts erschöpfend untersucht werden. Der Ausgangspunkt ist gleichzeitig geschichtlich – die Besonderheiten der verschiedenen Perioden werden gekennzeichnet – und theoretisch, da diese Studie ganz deutlich zu einer Überlegung über die Bedingungen und die Praxis der Übersetzung führt.

Methode:

Das Ziel dieser Forschung ist nämlich ein Kernbereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, da es sich um die Theorie und Geschichte der literarischen Übersetzungen in ihrer engen Wechselbeziehung mit poetologischen sowie kulturhistorischen Kontexten handelt. Obwohl sie sich eher der Vergleichenden Literaturwissenschaft nähert, indem sie ein literarisch und kulturell historisches Subjekt behandelt, öffnet sie übrigens auch allgemeinere Perspektiven. Sie benutzt also und unterscheidet aber ganz deutlich die Methoden der zwei Orientierungen der Disziplin, indem der theoretische Hintergrund niemals die geschichtlichen Kontexte löscht oder ignoriert: schon am Anfang der Studie werden die verschiedenen »Stationen der russischen Übersetzungsgeschichte« bestimmt und zwar im Zusammenhang mit den geschichtlichen, kulturellen und ästhetisch-historischen Kontexten. Die Verbindung zwischen Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte wird immer betont.

Von einem theoretischeren Gesichtspunkt aber werden die Übersetzungen und die Nachdichtungen des Divans als spezifische Interpretationen der Vorlage betrachtet. Hier versteht sich das Zitat des Titels, »Es klang aber fast wie deine Lieder« so, dass das Interesse des Studiums sich hauptsächlich im »fast« befindet: der Verarbeitungsprozess enthält nämlich den Sinn der Übertragung, die sich als eine vom kulturellen Kontext bestimmte oder individuelle Lektüre verstehen lässt.

Die übersetzungsgeschichtlichen Modellbildungen führen schließlich zu einer anderen Perspektive, die von der ›Natur‹ des Werkes von Goethe selbst bestimmt wird, das heißt sie führen zum Problem der Theorie lyrischer Gattungen. In der Wahl der Vorlage dieser Übersetzungen liegt eine der Originalitäten dieser Untersuchung. Man hätte vielleicht die in Russland viel stärker beachteten Werke von Goethe erwartet – beziehungsweise Werther, Faust oder Egmont –, die der »Affirmation oder Ablehnung bestimmter Lebensmodelle, weltanschaulicher oder politischer Haltungen« (S. 14) oft entsprechen. Stattdessen wählt diese Studie ein Werk, das eher einen literarischen, ästhetischen Geschmack des Übersetzers ausdrückt. Daher kann die Analyse eher auf ästhetische Probleme der poetischen Übersetzung hinweisen, als auf den ideologischen Hintergrund der Wahl und der Orientierung der Aufarbeitung literarischer Werke. Im Zentrum dieses poetologischen Verfahrens befindet sich die Frage der freien Rhythmen oder Verse und ihrer Stelle in der russischen poetischen Übersetzungstradition und in der russischen Poetik selbst.

Gliederung:

Die Studie verfolgt zwei direkt miteinander verbundene Hauptinteressen, die die zwei Hauptteile des Buches bilden. Der erste Teil wird »Divan-Nachdichtungen als Brennpunkte wichtiger Etappen in der Entwicklung der Übersetzungskonzeptionen in Russland« betitelt. Nach dem ersten Kapitel, in dem die strukturellen Voraussetzungen der Übersetzungen des Divans nach einer Kennzeichnung der Besonderheiten des Werkes Goethes – vor allem der Vielfältigkeit der Formen, die Gedichte aber auch Prosa enthalten – untersucht werden, folgt die Studie dem chronologischen Prozess. Diese geschichtliche Annäherung bietet Gelegenheit, die ewigen Debatten der Übersetzung – beziehungsweise der der Originaltreue versus Originalität, oder der Übersetzung als Wiedergabe der Originalität der Vorlage – mit einem originalen Beispiel zu stützen. Neben der Darstellung der Aspekte der Präsentation und Rezeption von Übersetzungen, wo die Beziehung zwischen Politik und Nachdichtung im Vordergrund steht, weist sie auf die Modellbildungen zur Theorie und Geschichte der literarischen Übertragung hin.

In diese Richtungen schreitet die Analyse weit fort. Von einem geschichtlichen Gesichtspunkt her betont sie die Wichtigkeit der Gesamtübersetzungen von 1932 und 1988, die zwei systematische Unternehmungen bilden. Ebenso unterscheidet sie Perioden, in denen der West-östliche Divan nicht oft in russischer Übersetzung auftauchte: die 37 einzelnen Versübersetzungen, die zwischen den zwei großen Goethe-Ausgaben von 1892 und 1932 erschienen, finden aber durchaus Wertschätzung, indem sie durch einen synthetischen Überblick ausführlich präsentiert werden. Die allgemeine literarische Periodisierung wird durch den rückläufigen Hinweis auf den historischen Hintergrund beleuchtet, und erklärt auch die Situation der Übersetzer und ihrer Werke. Zum Beispiel der Fall von Tchor¡zevskij, der in den Zeiten der Sowjetunion und bis zur Perestrojka zu den ›Unpersonen‹ gehörte, und dessen Werke und Übersetzungen in dieser Periode weder gedruckt noch erwähnt wurden, wirft ein erhellendes Licht auf die allgemeine Lage der Übersetzung und ihre Beziehung zu den politischen Bedingungen und führt auch die Frage der Zensur in die Rezeption der fremden Werke aus.

In diesem ersten Teil ist vielleicht aber der interessanteste Abschnitt derjenige, der die »Übersetzungen im Vergleich« (S. 235-285) studiert. Er beinhaltet vor allen Dingen die Einstellung der Kritik zu den Übertragungen – seien es nun theoretische Einstellungen über das Wesen und die Ziele der Übersetzungen oder Kommentare über die veröffentlichten Übertragungen. Die Analyse der Übersetzungen und ihr Vergleich mit der Vorlage oder untereinander werden dann methodisch über mehrere Etappen behandelt: Lexik, Syntax, Pragmatik (die einen kommunikativen Rahmen bildet); zuletzt kümmern sich die ›Divan-internen Bezüge‹ um die Frage des Kompositionsprinzips: die Gedichte von Levik und ¡Servinskij werden mit den Originalen verglichen, und dieser Vergleich ist auch einem Nicht-russischsprachigen verständlich, da die russischen Texte in den Fußnoten ganz systematisch eine präzise und wortwörtliche Übersetzung finden. In diesem Kapitel ist die stilistische Analyse immer sehr detailliert und präzise und führt zu einer tiefen und nuancierten Sicht der Überarbeitungen und kleinen Veränderungen eines Originaltextes in den Übertragungen.

Nach einer Art Bilanz der »allgemeinen Kennzeichen der russischen Divan-Nachdichtungen« beginnt der zweite Hauptteil, der wesentlich kürzer ist (S. 147). Der poetische Aspekt ist hier klarer entwickelt, da die Analyse das Problem der lyrischen Gattungen betrifft und sich hauptsächlich mit der Frage der freien Rhythmen beschäftigt (der Titel dieses Teils lautet nämlich »Divan-Übersetzungen in Wechselwirkung mit der Entwicklung der lyrischen Gattungen in der russischen Literatur am Beispiel der freien Rhythmen«). Die Bewegung vom Originaltext zur Übertragung wird von der Gliederung selbst illustriert: die Analyse beginnt mit der Studie der Rolle der freien Rhythmen im West-östlichen Divan; dann wird die russische Übersetzungspraxis des Divans im Lichte der freien Verse erklärt, bevor die Diskussion der freien Verse in der sowjetischen Literaturwissenschaft behandelt wird. Besonders interessant scheint in dieser Hinsicht der Abschnitt über die Versuche der (Re)Konstruktion einer russischen Tradition der freien Verse (S. 373-380) zu sein, wo die Stellung der Unternehmung von Kvjatkovskij im Rahmen der russischen Lyrik beleuchtet wird.

In dieser Darlegung werden auch die detaillierten Analysen durch einen synthetischen Rückblick beleuchtet: die Studie vermag ebenso gut die Einzelheiten einer Übersetzung zu analysieren, wie eine allgemeinere Sicht der geschichtlichen Situation und der Bedeutung der freien Verse in der russischen Tradition der Übersetzung zu vermitteln (der letzte Abschnitt betrifft die »Geschichte der Übersetzung freier Rhythmen ins Russische«).

Äußerlichee Präsentation:

Dem Text folgt ein Anhang über die charakteristischen Übersetzungsfehler sämtlicher Ausgaben von 1932 und 1988 – in Lexik und Syntax. Außerdem zieht die ganze Untersuchung aus einem sehr reichen kritischen Apparat Nutzen. Die vielen und detaillierten Fußnoten geben systematisch und präzise Referenzen zu den zitierten Übertragungen an; durch klare Rubriken liefert das lückenlose Literaturverzeichnis eine ordentliche Vorstellung davon; mehrere Register (»Goethes Werke«, »Sonstige Werke«, »Personen«) geben eine wichtige Hilfe zur Benutzung eines sehr reichen Buches; schließlich liefert das Verzeichnis der Divan-Übersetzer die Liste der übertragenen Texte.

Aber nicht zuletzt ist dem Buch eine CD-ROM beigefügt, die nicht nur den vollständigen Text des Buches enthält, sondern auch eine ergänzende Textdokumentation sowie eine synoptische Präsentation der Gedichte und ihrer Übersetzungen. Diese Textdokumentation, die aus 388 Seiten besteht, bildet einen echten zweiten Band. Die Dateien lassen sich mit dem Acrobat Reader betrachten. Was wichtiger – und nützlicher – ist, ist der Hypertext, der zum Beispiel über eine Suchfunktion verfügt. Diese elekronische Funktion gibt der Forschung eine Nützlichkeit, die sogar von den Registern nicht erreicht werden kann. Die CD-ROM, deren Benützung keine Schwierigkeit bereitet, öffnet der Forschung unzählbare Perspektiven, und zwar nicht nur durch die zur Verfügung gestellten Dokumente, sondern auch durch die Möglichkeit, diese Dokumente und den Text des Buches selbst weiterzuverwenden.

Nach dem Einlegen der CD-ROM kann man die Readme-Dateien kopieren (die alle Erklärungen über die Benützung der CD-ROM enthalten) und den Acrobat Reader installieren, der zur Benützung der zwei Dokumente benötigt wird. Unten gibt es ein drittes Fenster (»Beenden«), um das Programm zu Ende zu bringen. Am wichtigsten sind die zwei oberen Fenster, (»Dokumentation« und »Untersuchung«), die die zwei Dokumente der CD-ROM (Dokumente und Buch) enthalten. Diese können auf die Festplatte in zwei verschiedene Dokumente kopiert werden. Will man aber mit der CD-ROM arbeiten, kann man von einem Dokument zum anderen durch das Fenster »Flash« (unten) gehen.

Das Dokument »Untersuchung« ist durch den Acrobat Reader erreichbar. Es enthält den kompletten Text des Buches, so dass man das Buch Blatt für Blatt auf dem Computer lesen kann. Es ist auch möglich, einige Seiten oder das komplette Buch auszudrucken. Außerdem funktioniert die Suchfunktion wie ein Register bei Stichwörtern, aber mit unendlichen Möglichkeiten: sogar ganze Satzteile können gesucht werden. Im Menü »Bearbeiten« erlaubt der Hypertext auch zu kopieren und – zum Beispiel in ein Word-Dokument – einzufügen (Probleme gibt es aber mit der kyrillischen Schrift). Dadurch ist es möglich, den Text des Buches weiterzuverwenden.

In jedem Fall enthalten die Dokumente das Wichtigste, das heißt den ganzen Text des West-östlichen Divan mit seinen 800 russischen Übersetzungen. Wenn man auf »Dokumentation« klickt, öffnen sich drei andere Fenster. Das letzte stellt einfach die »Abkürzungen« vor, da alle Übersetzungen im Dokument am Ende eines jeden Gedichts bibliographisch nachgewiesen werden, und zwar in einem detaillierten Nachweis, der auch die Nachdrucke enthält. Das erste Fenster (»Synopse der deutschen Gedichte und ihrer russischen Übersetzungen«) öffnet den Text des Divan und seiner Übersetzungen. Damit Text und Übersetzungen in Spalten auf derselben Seite vorgestellt werden können, wird eine kleine Schrift benützt (8 pt), die aber noch leicht lesbar bleibt. Durch die Zoomfunktion kann man auf jeden Fall Teile des Textes vergrößern. Wenn man auf »Bild« klickt, kann man dann den ganzen Text durchblättern. Für eine leichtere und klarere Benützung beginnt jedes Gedicht auf einer neuen Seite, und die Seitenzahlen erlauben, diesen digitalisierten zweiten Band zitieren zu können.

Die Suchfunktion, die nicht nur das Werk von Goethe sondern auch seine Übersetzungen betrifft, erlaubt nicht nur eine leichtere und schnellere Benützung des Textes, sondern gibt auch zum Beispiel der Linguistikforschung unendliche Möglichkeiten: dadurch entdeckt man zum Beispiel, dass das Verb »gruneln« des späten Goethe sich im Divan nie in der Infinitiv-Form befindet, sondern in der dritten Person (»grunelt«). Wenn man die kyrillische Schrift installiert hat (es gibt Fenster für Deutsch, Englisch oder Russisch: »DE«, »EN«, »RU«), kann man auch im russischen Text suchen.

Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, Teile des Textes auszudrucken oder zu kopieren und in ein Word-Dokument einzufügen. Um die kyrillische Schrift nicht zu verlieren, darf man aber nicht einfach auf »Einfügen« klicken. Stattdessen muss man im Menü »Bearbeiten« »Inhalte einfügen« und dann »Unformatierten Text« wählen. Damit geht nur die Formatierung verloren (fett, kursiv, und so weiter).

Unter dem Fenster »Synopse« befindet sich das letzte Fenster »Alphabetisches Verzeichnis der Übersetzer«. Wenn man auf einen Namen klickt, erscheinen die persönlichen Daten des Übersetzers und die Liste der von ihm übersetzten Texte. Und wenn man auf den Titel einer Einzelübersetzung klickt, erscheint die gesamte Synopse, das heißt der Originaltext mit allen Übersetzungen.

Die beigefügte CD-ROM ist also nicht nur eine einfache Ergänzung des Bandes. Sie enthält den Text des Buches und eines zweiten Bandes, in dem dieses sehr reiche Corpus gesammelt ist. Vor allem erlaubt der Hypertext einer weiteren Forschung eine unendliche Benützung des Corpus, so dass das Werk von Sebastian Donat nicht nur eine an sich reiche und originale Forschungsarbeit bildet, sondern auch den notwendigen Ausgangspunkt aller weiteren Forschungen über diesen Bereich.

Abschließend kann man sagen, dass dieses Buch einen sehr originalen und erschöpfenden Beitrag zu den Forschungen über die Poetik der Übersetzungen bringt. Die breite Chronologie reicht bis zur gegenwärtigen Lektüre der Goetheschen Lyrik in Russland. Gleichzeitig handelt es sich also auch um einen wichtigen Aspekt der deutsch-russischen literarischen Beziehungen: zwar ist Goethe der in Russland bekannteste deutsche Schriftsteller, aber bestimmt nicht durch seinen Divan, welcher ein anderes Licht auf die Stelle und das Bild der deutschen Literatur in Russland wirft, ein anderes Licht auch auf die russische Lyrik. Die Goethe-Übertragungen funktionieren also in gewisser Weise auch als Spiegel der russischen Lyrik. Die Analyse der Übertragungen, die Sebastian Donat in seinem wichtigen Buch vorschlägt, führt zu Grundfragen über die Grenzen zwischen Nachahmung und Schöpfung, über die Aneignung fremder Modelle in nationale Traditionen. Und vielleicht ist die problematische Grenze zwischen dem Fremden und dem Eigenen, dem Übersetzten und dem Angeeigneten die Kernfrage der Komparatistik.

Bernard Franco (Universität Paris-Sorbonne)[1]
bernard.franco@paris4.sorbonne.fr


(24. März 2004)
[1]Diese Rezension wurde mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung geschrieben.