Bernd W. Seiler/Jan-Torsten Milde: Fontanes Effi Briest. Bilder – Texte – Töne. Ein Literatur-Kommentar auf CD-ROM. Bamberg: C. C. Buchner 2004.

Die vorliegende CD-ROM entstand im Rahmen eines interdisziplinären Projekts der Wissenschaftler Bernd W. Seiler (Literatur) und Jan-Torsten Milde (Informatik) an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Sie bietet eine beachtenswerte neue editorische Aufbereitung von Theodor Fontanes Roman Effi Briest für den schulischen und wissenschaftlichen Gebrauch. Die Forschung hat immer wieder Fontanes Kunst der Andeutung und die heterogenen intertextuellen Verweisungsbezüge herausgearbeitet, deren Kenntnis für das Textverständnis und die Interpretation unabdingbar ist. Die Kommentare der vier großen Studienausgaben (Nymphenburger-,[1] Hanser-[2] und Aufbau-Ausgabe[3] sowie der Großen Brandenburger Ausgabe des Aufbau-Verlags[4] ) haben die zahlreichen direkten und indirekten Anspielungen auf Literatur, Bildende Kunst, Musik und Geschichte aufgelöst, die Stoffgeschichte rekonstruiert, die zeitgenössischen Lebensbedingungen sowie die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen erklärt und dem Leser in Anmerkungen und Übersichtskommentaren vermittelt. Was die vorliegende CD-ROM-Edition nun auszeichnet, ist nicht allein die für das Suchen wichtiger Belegstellen erleichternde elektronische Aufbereitung des Textes, die zum Beispiel auch in der Digitalen Bibliothek für eine Auswahl von Theodor Fontanes Werk geleistet wurde.[5] Die Herausgeber haben vielmehr neben der Textdarbietung verschiedene Kommentarebenen in Wort, Bild und Ton in übersichtlicher Weise zusammengestellt. Besonders die Kunst- und Musik-Zitate werden dem Leser durch visuelle und akustische Präsentation besser nahegebracht als durch traditionelle beschreibende Erläuterungen. Die zahlreichen, die Kommentare bebildernden Landkarten, Fotos, Zeitungsausschnitte und Einträge aus den Adressbüchern Berlins tragen zu einer Verringerung der historischen Distanz zwischen dem Roman und dem Leser des 21. Jahrhunderts bei.

Der Text kann in zwei »Versionen« aufgerufen werden: zum einen, was sinnvoll ist, nach dem edierten Text der Großen Brandenburger Ausgabe, die den Text der ersten Buchausgabe zeichengetreu wiedergibt sowie Fehler korrigiert und nachweist; zum anderen in einer speziell für den Schulunterricht hergestellten modernisierten Fassung in neuer Rechtschreibung. Die Kommentarebenen lassen sich auf zwei Arten benutzen: einerseits als Teile einer Synopse, die – im Sinne eines aufgefächerten Einzelstellenkommentars – jeweils einem Roman-Kapitel gegenübergestellt sind, andererseits als von der Synopse unabhängig zu benutzende, den Aufgaben des traditionellen Überblickskommentars entsprechende Abschnitte. Die lineare Einzelstellenkommentierung der Buchedition, in der alle Informationen aus den unterschiedlichen Bereichen der zu kommentierenden Textstellen zusammenlaufen, ist also aufgegeben worden zugunsten einer systematischen Gliederung in mehrere Kommentarteile.

Die Synopse besteht aus sieben Ebenen und umfasst neben dem »Romantext« die folgenden sechs stellenbezogenen Kommentare: »Ardenne« (die Stoffgeschichte), »Schauplätze« (reale und fiktive Schauplätze), »Lebenswelt« (Erläuterungen zum kultur- und sozialgeschichtlichen Hintergrund sowie zum Sprachgebrauch), »Zitate« (Anmerkungen zu Autoren und ihren literarischen Texten, Gemälden und Kompositionen), »Gestaltung« (Hinweise auf die ästhetisch-erzählerische Dimension) und »Abbilder« (Zusammenstellung von Buchillustrationen und Filmfotos). Ein besonderer Gewinn ist die Darbietung der Musik-Zitate, die dem Benutzer bekannte, aber auch entlegene Tondokumente vorführt. So kann man nicht nur Carl Loewes Vertonung des dänischen Volksliedes Herr Oluf, Frédéric Chopins Nocturne Nr. 2, Es-Dur, oder Ausschnitte aus Richard Wagners Opern Der fliegende Holländer oder Die Walküre hören, sondern auch eine Arie aus der Oper Zampa oder Die Marmorbraut von Louis Joseph Ferdinand Hérold in der einzigen überlieferten historischen Einspielung. Schließlich wurde die Melodie des plattdeutschen Wiegenliedes Buhküken von Halberstadt, das später in die Sammlung Des Knaben Wunderhorn aufgenommen worden ist, hier ebenso wie das Preußenlied von Johann Bernhard Thiersch in einer privaten Klavieraufnahme vorgestellt.

Die Erläuterungen innerhalb einer Kommentarebene sind zum Teil untereinander und mit den Überblickskommentaren verlinkt; eine Vernetzung der verschiedenen synoptischen Kommentare ist jedoch nicht eingerichtet worden. Leider fehlt auch eine Verlinkung zwischen dem Romantext und allen Einzel- und Überblickskommentaren, so dass der Benutzer nicht einfach vom Text aus über Links zu den entsprechenden Informationen gelangt oder umgekehrt von den Erläuterungen zur Textstelle, sondern erst umständlich alle Kommentarebenen zu einem bestimmten Kapitel nacheinander aufrufen muss. Für eine Neuauflage wäre es hilfreich, die hier versäumte, aber auch im Vergleich zur Buchedition benutzerfreundlichere Verbindung zwischen Text und Kommentaren einzurichten.

Eine wichtige Ergänzung bietet die Fläche »Eigene Einträge«, in der der Herausgeberkommentar für den eigenen Gebrauch erweitert und korrigiert werden kann, was auch notwendig ist angesichts der Fülle biographischer und literaturwissenschaftlicher Arbeiten über Fontane und seinen wohl bekanntesten Roman Effi Briest. Dabei wäre natürlich ein zusätzliches Internet-Forum für alle Benutzer wünschenswert, wo wichtige Aktualisierungen wie zum Beispiel die neuen, in der CD-ROM noch nicht eingearbeiteten medizinhistorischen Erkenntnisse über Fontanes Erkrankung im Jahre 1892[6] unmittelbar nach dem Eintrag sofort eingesehen werden könnten.

Nicht in die Synopse eingebettet sind die der Großen Brandenburger Ausgabe nachgebildeten Überblickskommentare »Entstehung« und »Wirkung«, die sich aber nicht wie dort auf die zeitgenössische Literaturkritik beschränken, sondern auch die Rezeption nach Fontanes Tod durch illustrierte Prachtausgaben, literarische Adaptionen und Romanverfilmungen umfassen. Hier wäre allerdings eine systematisch-inhaltliche Struktur nach den Gattungen »Film« und »Literatur« übersichtlicher gewesen als die Darbietung in der chronologischen Abfolge der Erscheinungs- bzw. Erstsendedaten. Vereinzelt vermisst man auch Zeugnisse wie zum Beispiel Rolf Hochhuths Bühnenbearbeitung Effis Nacht oder knappe Hinweise auf die ausländische Rezeption und die zahlreichen Übersetzungen, die im Falle Effi Briest oft sogar in einer Sprache mehrmals vorliegen. Alle diese Kommentarteile wurden ebenfalls mit dem entsprechenden Bild- und Tonmaterial angefüllt, das zum Teil auch in die synoptischen Kommentarabschnitte eingefügt worden ist. Man findet nicht nur Titelblätter und Illustrationen, Filmplakate und -fotos, sondern auch eine Videosequenz, die die Verlobungsszene im dritten Kapitel der vier Effi-Briest-Verfilmungen gegenüberstellt und die Grundlage für eine vergleichende Analyse bildet. Insgesamt können etwa 300 Abbildungen aufgerufen werden. Das »Nachwort« bietet glücklicherweise keine der sonst üblichen Textinterpretationen, sondern fasst die Besonderheiten der CD-ROM knapp zusammen. Das »Literaturverzeichnis« umfasst nicht nur die in den Kommentarebenen benutzten illustrierten Effi-Briest-Ausgaben, die Forschungsliteratur und Musik-Sequenzen, sondern stellt auch den kompletten Text der beiden Aufsätze des Herausgebers Seiler zur Verfügung. Vermutlich wurde ein solches Verfahren aus urheberrechtlichen Gründen nicht auf die gesamte Forschungsliteratur ausgeweitet. Eine große Bereicherung ist der Index, der alle in dem Roman vorkommenden Wörter mit einem Link zu dem oder den entsprechenden Kapitel(n) enthält und somit die Suche nach Belegstellen für die Textinterpretation erheblich vereinfacht.

Für den Kommentar wurde selbstverständlich auf die umfangreiche Fontane-Forschung und die quellenkundlichen Anhänge der Studienausgaben zurückgegriffen, es wurden aber durchaus auch neue Zusammenhänge erschlossen. So findet sich zum Beispiel ein Nachweis über die reale Existenz des Schloon auf der Insel Usedom, ein ›neuer‹ Hinweis auf die Spukgestalt der weißen Frau im Baedeker, und schließlich ist der lokale Hintergrund in Verbindung mit Effis Verhältnis zu Crampas noch genauer identifiziert worden. In der Rubrik »Gestaltungsmittel« werden Informationen über die Erzählformen, Motive und künstlerischen Gestaltungsmerkmale als mögliche Interpretationshilfen gegeben. Dennoch erfüllt der Kommentar nicht ganz den Anspruch, der im Nachwort formuliert wird und die CD-ROM als »die bei weitem umfangreichste und vollständigste Effi-Briest-Edition, die je vorgelegt worden ist« vorstellt. Der Vergleich mit den Studienausgaben zeigt, dass die CD-ROM hinsichtlich der Abbildungen und Musikbeispiele natürlich über jede Buchkommentierung hinausgeht. Andererseits aber hat man im Unterschied zu den Bucheditionen auf »manche bloße Bildungsreminiszenz« (Nachwort) verzichtet. Hinzu kommt, dass auch weitere, für das Textverständnis durchaus wichtige Kontexte in den CD-ROM-Kommentaren leider nicht erfasst worden sind. So wurde in den synoptischen Einzelstellenkommentaren die Verknüpfung des Effi-Briest-Textes mit Fontanes poetischem und journalistischen Werk sowie mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg und seinen Äußerungen in den Briefen und Tagebüchern erheblich reduziert, obwohl auch hier zahlreiche Verweisungsbezüge auf das Gesamtwerk Fontanes sowie auf die autobiographischen Zeugnisse bestehen. Zudem finden sich in den Anmerkungen der Hanser- und Großen Brandenburger Ausgabe mehr Hinweise auf literarische oder biblische Zitate als im Abschnitt »Zitate« der CD-ROM. Außerdem wurden Informationen über die handschriftliche Überlieferung, die Druckgeschichte sowie genetische Aspekte der Textentstehung, wie sie in der Aufbau-Ausgabe der Romane und Erzählungen und in der Großen Brandenburger Ausgabe erarbeitet worden sind, nicht berücksichtigt, obwohl das Medium CD-ROM für die Darstellung genetischer Befunde besser geeignet ist als das eindimensionale Buch. Liegt dieses Desiderat nur an den fehlenden Rechten für eine elektronische Darstellung ausgewählter Handschriftenseiten, oder ist vielmehr die Relevanz der Genese für eine weiterführende Textinterpretation nicht erkannt worden? Für eine gründliche Textarbeit wird deshalb empfohlen, die Studienausgaben und die CD-ROM wegen ihrer unterschiedlichen Gewichtung komplementär zu benutzen; zudem wird man den Text nicht in der elektronischen Version der CD-ROM, sondern vielmehr in einer gedruckten Buchfassung lesen.

Dennoch soll die herausragende Leistung der CD-ROM-Edition von Fontanes Effi Briest nicht in Frage gestellt werden. Die Segmentierung der zu kommentierenden Textstellen in verschiedene Kommentarebenen und die anschaulich vermittelten Verweisungsbezüge auf die zitierten Texte aus der Musik, der Bildenden Kunst und der Literatur zeigen einmal mehr die Komplexität der künstlerischen Gestaltung, die Fontane gerade mit Effi Briest zur Meisterschaft ausgebildet hat. Im Unterschied zu einer auch noch so gut kommentierten Buchausgabe bietet die CD-ROM-Edition eine neue Lektüre der Effi Briest, in der die Linearität des Textes aufgebrochen wird zugunsten eines visuellen und akustischen Erlebens. Es bleibt zu hoffen, dass das Medium CD-ROM auch für die Edition anderer Texte der Weltliteratur in dieser Form genutzt wird, um literarische Texte vergangener Zeiten gerade für den Schulunterricht attraktiv zu vermitteln.[7] Aber auch der Wissenschaftler profitiert von der gelungenen Zusammenstellung und Aufbereitung musikalischer, literarischer, filmischer und künstlerischer Werke und der Dokumentation durch historische Fotos, nicht zuletzt, weil die für das Verständnis Fontanescher Texte notwendigen Informationen hier leicht zugänglich gemacht worden sind.

Gabriele Radecke (München)

Dr. Gabriele Radecke
Pütrichstraße 1
81667 München

(22. März 2006)


[1]

Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Effi Briest. Zwei Frauenromane. Hg. von Edgar Groß unter Mitarb. von Kurt Schreinert. Dritte Auflage München: Nymphenburger Verlagshandlung 1968. (Nymphenburger Ausgabe, Bd. 7).

[2]

Theodor Fontane: Effi Briest, Frau Jenny Treibel, Die Poggenpuhls, Mathilde Möhring. Hg. von Walter Keitel/Helmuth Nürnberger/Gotthard Erler. Zweite Auflage München: Hanser 1974. (Werke, Schriften und Briefe, Abt. 1, Bd. 4) = Hanser-Ausgabe.

[3]

Theodor Fontane: Effi Briest, Die Poggenpuhls, Mathilde Möhring. Bearb. von Gotthard Erler. Vierte Auflage Berlin: Aufbau 1993. (Romane und Erzählungen, Bd. 7) = Aufbau-Ausgabe.

[4]

Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Hg. von Christine Hehle. Berlin: Aufbau 1998. (Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk, Bd. 15).

[5]

Mathias Bertram (Hg.): Digitale Bibliothek, Band 6: Theodor Fontane. Berlin: Directmedia 1998. [CD-ROM] Die ausgewählten Werke Fontanes werden hier ergänzt durch den Hörtext Schach von Wuthenow und Helmuth Nürnbergers rororo-Monographie Theodor Fontane.

[6]

Vgl. Horst Gravenkamp: »Um zu sterben muß sich Herr F. erst eine andere Krankheit anschaffen«. Theodor Fontane als Patient. Göttingen 2004.

[7]

Die CD-ROM-Edition von Fontanes Effi Briest ist bereits die zweite Anwendung eines technischen Systems, das Jan-Torsten Milde zunächst für eine CD-ROM-Edition von Goethes Die Leiden des jungen Werther entwickelt hat.