Das wissenschaftliche Edieren als Funktion der Dokumente

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Gunter Martens, der Hamburger Germanist, Editor und Editionstheoretiker, hat einmal einen Vortrag von der Frage her entwickelt: Was ist, editorisch gesehen, ein Text? [1] Die Materialität von Überlieferung: Handschrift-Manuskript-Buch war zu jener Zeit (will sagen, vor weni­ger als 20 Jahren) noch transparent: das heißt, sie war einfach gegeben, und also unproblematisch. Die fortschreitende Virtualisierung wissenschaftlichen Edierens hingegen macht ihre Materi­alien und Gegenstände selbst wahrnehmbar; sie macht es folglich auch ebenso möglich wie notwendig, die Materialität und Gegenständlichkeit zu problematisieren. Hier möchte ich daher der einstigen Martens’schen Frage ihr Analogon zur Seite stellen: Was ist, editorisch gesehen, ein Dokument?

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Für die wissenschaftliche Edition sind Dokumente vornehmlich Textträger und Textzeu­gen. Bei neuzeitlicher, zumeist autornaher Provenienz sind sie dazu Garanten der Autorisa­tion, und ein Definitionsrahmen für jeweilige Fassungen von Texten (also eben sozusagen, in der Sprache des Juweliers, deren ›Fassungen‹). Insgesamt also werden Dokumente herkömm­lich als materielles Substrat textlicher Überlieferung angesehen.

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Läßt man den Bereich der mündlichen Überlieferung außer Acht (der von ›memoria‹, und heutzutage von elektronischen Tonträgern garantiert wird), so kann man darüber hinaus dann zwar sagen: Ohne Dokumente – die wir einem menschlichen Hang zum Bewahren danken – gäbe es keine Texte. Ähnlich generalisierend kann man zugleich auch behaupten: Das kultu­relle Interesse an Überlieferungen, und spezifisch das editorische Interesse an diesen, hat sich immer zuvörderst auf Texte gerichtet.

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In Bezug auf die Prozesse des Überlieferns spielt das Dokument eine Doppelrolle. Es ver­körpert real greifbar das Überkommene, und zugleich ist es körperhaft, vergänglich. Demzu­folge entspringen das Überliefern und das daraus hervorgegangene Edieren in ihrem Drang zum Bewahren ja gerade einem Bewusstsein von Vergänglichkeit. Denn dem Dokument als dem materiell greifbaren Element der Überlieferung drohen Verfall und Zerfall, Verlust und Zerstörung. Und just dies macht eben Überliefern und Edieren nötig. ›Überliefern‹, das sei als Abschreiben und Vervielfältigen gedacht, ob in handschriftlichen Einzelkopien oder in ge­druckter Multiplikation; und ›Edieren‹ als Verifizieren der Substanz des Überlieferten, und dabei als ein Gegenarbeiten gegen den Verfall, der wiederum den Prozessen des Überlieferns auch stets wesenseigen ist.

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Dies aber heißt gleichzeitig, dass Überliefern und Edieren im Kern schon immer ein Ablö­sen der Texte von den Dokumenten bedeutet hat. Notizen, Kladden und Entwürfe werden weggeworfen, wenn die auf ihnen aufgezeichneten Texte abgeschrieben sind, und Druckvor­lagen wandern rasch zum Altpapier, wenn ein Buch einmal hergestellt und ausgeliefert ist. Ähnlich sind schon im Mittelalter alte Handschriften lediglich noch kraft ihrer eigenen Mate­rialität, buchbinderisch verarbeitet, in den Deckeln und Rücken neuerer Bibliotheksbände verwertet worden – sei es, dass sie als Träger ihrer Texte von neueren Abschriften ersetzt, oder sowohl als Dokumente wie der überlieferten Texte wegen aus dem kulturellen Interesse und Gedächtnis geschwunden waren. Da mag man für das Mittelalter schon getrost bibliothekarische Verhaltensweisen vermuten, wie wir sie noch immer kennen: Bestandsaus­lichtungen bis hin zum Entsorgen im großen Stil, weil man Buch- und Dokumentinhalte ver­filmt und neuerdings digitalisiert hat.

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Das traditionelle Edieren löst also die Texte von den Textträgern ab und lässt effektiv die Dokumente als Dokumente hinter sich. Doch wie sollte das auch anders gehen? Schließlich ist Edieren ja bloß eine besondere Spielart des Überlieferns im Abschreiben, also der Übertra­gung von Texten von einem ›Dokument 1‹ – der materiellen Unterlage, von der sie abgelöst werden – auf ein ›Dokument 2‹: die Unterlage, auf die sie neu aufgetragen werden. Dass die­ser Vorgang so abläuft, und dass dabei ›Dokument 2‹ unabdingbar seine eigene Materialität hat, versieht dann paradoxerweise gerade solche Ausgaben mit einem Fragezeichen, die ei­gens von sich behaupten, sie edierten ›Dokumente‹. Was sie real tun, ist auf ›Dokument 2‹ ein ›diplomatisches‹ (wie der Terminus so schön heißt) Netz von Verweismarkierungen über den von ›Dokument 1‹ gleichwohl notgedrungen abgelösten Text zu legen.

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Was zudem die Alternative zur ›diplomatischen Edition‹ betrifft, nämlich die Faksimile-Wiedergabe: Gilt sie nicht der herkömmlichen Editorik nur marginal noch als Edition? Oder als ›Edition‹ nur in dem Maße, wie sie zum Abbild vom Dokument zwingend auch einen editorischen Paratext mitliefert – vor allem eine Transkription, in der überhaupt erst zu lesen steht, was man im Faksimile ja sonst nur sieht? Sollte da der Verdacht gar berechtigt auf­kommen, die editorische Marginalisierung der Faksimile-Wiedergabe könnte einen bedeutsa­men Grund gerade darin haben, dass sie die Ablösung des Textes vom Dokument naturgemäß nicht leistet, oder ihr zumindest stark zuwiderläuft? Und umgekehrt: Ist nicht gerade das ge­brochene Verhältnis der Editorik zum Faksimile, also zum Dokument im Abbild, eine signifi­kante Stützung meiner These, dass Überliefern und Edieren noch immer ein Ablösen der Texte von den originalen Dokumenten selbst bedeutet? Genau das aber hat dann eben auch, editorisch gesehen, die Marginalisierung und Ausgrenzung, die Reduktion der Dokumente auf die Hilfs- und Trägerrolle – eben: die Text-Träger-Rolle – zur Folge, mit all den editions­wissenschaftlichen, methodologischen und konzeptuellen Konsequenzen, die das wiederum impliziert.

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An dem Text, über den Text und über den Text hinaus hält ein originaler Textträger jedoch stets noch Merkmale zur Anschauung und Analyse bereit, welche weder in einem je einmali­gen Editionsvorgang ausgeschöpft werden können, noch überhaupt dem Ablöseverfahren zu­gänglich sind, welches, wie ich behaupte, im Wesen herkömmlichen Edierens liegt. Ein Ori­ginaldokument ist eben genau dies: ein Original. Als solches ist es ein Autograph, und zwar im wissenschaftlich definierten, terminologischen Sinne des Worts. Es ist ›autograph‹ im Ge­gensatz zu ›allograph‹ [2]: In Hinsicht auf den Text zwar, dem es Raum gibt, ist es allograph, d.h., lediglich eine unter beliebig vielen Bezeugungen dieses Textes (Hamlet ist Hamlet unge­achtet des Dokuments, in dem ich das Stück lese [3]). Doch das originale Dokument als sol­ches – als Notizzettel, Entwurf, Reinschrift des Autors oder von Schreiberhand, als Buch (zum Beispiel im Erstdruck), als Inkunabel oder Papier-, Pergament- oder Papyrushandschrift – das originale Dokument ist autograph, denn es ist unikal hinsichtlich Papier, Schreibstoff, Beschriftung und ihrer topographischen Disposition, Benutzungsspuren und so weiter. Es ist in Wahrheit also unikal hinsichtlich sämtlicher seiner Merkmale außer dem einen der Intelligibilität seines Textes.

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Im unabdingbar an die Materialität von Papier und Tinte gebundenen Existenz- und Kom­munikationsraum von Schrift und Überlieferung ist das Edieren des intelligiblen Textes als eine Kunst des Unmöglichen entwickelt worden, nämlich die, Text und Material, wiewohl in ihrer Existenz untrennbar, doch immer wieder voneinander abzutrennen – aber natürlich unter der unentrinnbaren Bedingung, Text auf Material stets erneut wieder aufzutra­gen. Möglich wurde diese Kunst dabei im Grunde nur um den Preis, von der autographen Natur der Dokumente abzusehen, die Materialität von Überlieferung, einfach als gegeben, als transparent, anzunehmen.

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So mag sich erklären, dass das Faksimile für den philologischen Editor einen Irritations­faktor darstellt. Die Vergegenwärtigung des Dokuments im anschaubaren Bild fügt sich nicht in den methodologischen und konzeptuellen Rahmen herkömmlichen Edierens. Denn in die­sem Rahmen ist schlechterdings eine Umsetzung der Autographie nicht vorgesehen. Dies festzustellen heißt jedoch nicht, einen Mangel anzumelden. Im herkömmlichen Edieren war und ist eine solche Umsetzung prinzipiell nicht denkbar: Autographie ist nicht edierbar. Von Mona Lisa oder der Erschaffung Adams lassen sich keine Editionen herstellen; allenfalls indi­viduell nachgemalte Kopien, oder Massenreproduktionen – oder, wie im spektakulären Fall der Fresken in der Sixtinischen Kapelle, Restaurationen. [4]

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Kennzeichnend für die Gebundenheit, auch die konzeptuelle Gebundenheit, herkömmli­chen Edierens an die Materialität von Papier und Schrift ist es, dass das Original – und das muss dann heißen: dessen Abbildung, Reproduktion, Faksimile – selten weiter denn als Illu­stration und visuelle Beigabe in eine Edition einbezogen worden ist. Solcher Einbezug aber verstärkt letztlich nur noch die Wahrnehmung des Dokuments als Text-Zeuge. Zwar gibt das Bild als eingestreuter Bestandteil einer editorischen Repräsentation eines Textes und Werks der jeweiligen Ausgabe eine über dessen spezifische Textualität vage hinausweisende Aura. Einen konsequent funktionalen Ort erhält ein Faksimile im Druckmedium allenfalls dort, wo es ein Dokument komplett wiedergibt. Doch im einen wie im anderen Falle bleibt es Abbil­dung, und bleibt der Transkription nachgeordnet, die von ihm mitgeliefert wird. Dem Bild vom Original wird editorisch der vom Original abgelöste Text vorgeordnet.

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Die Eingliederung von Faksimiles in wissenschaftliche Ausgaben macht nun allerdings eine doppelte, weiter reichende Potentialität zumindest denkbar, die freilich unter den unent­rinnbaren Materialitätsbedingungen des papiergebundenen Mediums in beiderlei Hinsicht nicht aktualisierbar ist. Zum einen rückt das Faksimile das Original in eine virtuelle Präsenz. Es ist wie mit der Doppelnatur von Erinnern: Verweist es auf ein absentes Vergangenes, oder holt es das Erinnerte herüber in eine aktuelle Gegenwart? Als Illustration verweist ein Faksi­mile zurück auf das absente Original, verweist damit aber auch aus der Edition hinaus. Als integrierte Vergegenwärtigung hingegen verleiht es dem Original die Kraft der Präsenz. Die Kraft rührt daher, dass die Präsenz als sinnvoll wahrgenommen wird, dass sie daher dyna­misch wirkt und also funktional ist. Die Sinnwahrnehmung wiederum rührt aus der sinnlichen Wahrnehmung im Abbild von der Kraft, der ›virtus‹ des Originals.

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Die Potenz mithin, die dem Faksimile bereits im statischen Medium der auf Papier darge­botenen Edition eignet, ist die der Virtualität. [5] Die Virtualität lässt sich jedoch in einer Edition auf Papier nicht freisetzen und aktuali­sieren. Denn sie lässt sich nicht dynamisieren, wenn und so lange die Edition im gleichen Medium existiert wie das Edierte. Erst die Möglichkeit, die wir in unserer Zeit erhalten haben, die Edition in einem anderen Medium zu realisieren als dem, in dem unsere Editionsgegen­stände existieren, nämlich im elektronischen, und das heißt, dem virtuellen und dynamisch zu interaktivierenden Medium – erst diese Möglichkeit schafft die Voraussetzung dafür, eine vir­tuelle Präsenz des Dokuments auch dynamisch zu aktualisieren.

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Das jedoch ist nur eine Potentialität; doch ich sprach von einer doppelten. Der erste, gerade skizzierte Schritt ist in Editionen, die sich als elektronische Editionen darstellen, im Grund­satz, oder wenigstens im Ansatz, bereits vielfach getan. Doch der Medienwechsel der Editorik sollte noch weiter gedacht werden. Was geschieht heute vielfach noch immer, wenn die Integ­ration des virtuellen Dokuments (als digitalisierte Bilddarstellung des Originals) in der elek­tronischen Edition dynamisch aktualisiert wird? Ich meine, das Grundverständnis der Editorik von der Hierarchie der Größen ›Text‹ und ›Dokument‹ ist bisher noch kaum hinterfragt wor­den. Noch immer ist, editorisch gesehen, das Dokument dem Text nachgeordnet. Die Dyna­misierungen und Interaktivierungen – und dabei nicht zuletzt die Versinnlichung – der Kor­relation von Text und Dokument, welche das virtuelle Medium erlaubt, erfüllen im Kern nichts anderes als die Aufgaben der Apparate von Editionen im Medium von Schrift und Papier. Ob dies aber im elektronischen Medium so Bestand haben kann oder sollte, darüber kann man sich wohl nur eine Meinung bilden, wenn man tatsächlich die Hierarchisierung von Text und Dokument hinterfragt und problematisiert.

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Welche Auffassungen von ›Text-Edition‹ also erscheinen möglich? Das überkommene Verständnis weise ich nicht ab, dass, wie ich sagte, im Überliefern und Edieren die Texte von den Dokumenten abgelöst werden. Doch dem möchte ich als konkurrierende Matrix die An­schauung entgegenstellen: Edieren heißt, Texte von und aus Dokumenten abzuleiten.

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Nicht ablösen, sondern ableiten: nur auf den ersten Blick ist das eine bloße akademische Haarspalterei. Weiter gedacht, und für eine Editorik der Zukunft im elektronischen Medium operationalisiert, könnte es nichts Geringeres bedeuten, als die hierarchische oder Funktions-Ordnung von ›Text und Dokument‹ in die Abfolge ›Dokument und Text‹ umzukehren. Der Text – und das ist, auch historisch gesehen, stets überlieferter und edierter Text – wird damit als Funktion des Dokuments aufgefasst, und nicht das Dokument als funktionaler Faktor des Texts, oder gar erst seiner Edition. Denn Dokumente sind, was wir haben, und nichts anderes haben wir. Text und Texte demgegenüber haben wir nur vermittels der Dokumente. Denn, nicht wahr: Der von Verderbnis befreite alte Text aus Zeiten vor jeder dokumentarisch erhal­tenen Überlieferung; der ›Archetypus‹; der reine Text; der ideale Text; der originale Autor­text: All’ solche Benennungen, die vielfältig die Erhebung von Text und Textbegriff über die Dokumente haben plausibilisieren sollen, erweisen sich doch bei näherem Hinsehen als histo­risch bedingt, gar ideologisch befrachtet. Damit aber verstellen sie geradezu die Einsicht, dass Überliefern und Edieren – und vor allem: Edieren – nichts anderes ist und nie etwas anderes gewesen ist, als die Konstruktion von Texten abgeleitet von der Evidenz – und das meint nun dezidiert nicht mehr: der Zeugenschaft, sondern der Anschauung – der Dokumente. Denn Texte kritisch zu edieren heißt stets genau dies: sie zu konstruieren.

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Operationalisiert für die Edition im elektronischen Medium folgt daraus: wir strukturieren die wissenschaftliche Ausgabe für die Zukunft so, dass wir in ihren Mittelpunkt und an den hierarchischen Scheitelpunkt ihrer relational verknüpften Diskurse die virtuelle Präsenz der Dokumente stellen. Von dort leiten wir edierte Texte ab, als je aktualisiertes Funktionspoten­tial der Dokumente, und in dynamischer Rückbindung an sie. Für die Editionswissenschaft resultiert dabei aus dem Umdenken und der Umkehr der funktionalen Relation von Dokument und Text eine ganz simple Einsicht. Sie besagt, dass unsere Aufgaben ihrer Grundstruktur nach identisch sind, ganz gleich, ob wir nun aus der Antike, dem Mittelalter, der Neuzeit, ob aus der Literatur, der Historie, der Jurisprudenz oder der Philosophie, ob aus der Sprache oder der Musik edieren. Denn wir edieren, indem wir aus Dokumenten das Edierte konstruieren.

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Die Werkzeuge, die wir uns dafür herrichten, können und sollten wir deshalb allseits kom­patibel anlegen. Das jedoch ist nur die offensichtliche Forderung. Meine Überlegungen laufen frei­lich auf etwas vielleicht weniger Offensichtliches hinaus. Wir sollten ein sorgfältigeres Augenmerk darauf richten, ob und in wie weit bei der gedachten Strukturum­kehr im Kern nicht auch Grundannahmen des wissenschaftlichen Edierens berührt werden.

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Dabei rede ich keinem bloßen Spiel der Theoretisierungen das Wort. Meine Überlegungen sind substanznäher gemeint. Sie zielen darauf ab, den Anspruch, die elektronische Edition sei etwas von Grund auf Neues, an der Wurzel zu packen. Die wissenschaftliche Edition ist bis­her noch aus dem materiellen Medium in das elektronische Medium, Element für Element, zumeist analog, übertragen worden. Insbesondere an den heute praktizierten Implementierun­gen des Text-Dokument-Verhältnisses in Computereditionen scheint dabei das Analogisieren und das Analogie-Denken auf. Das füllt gleichsam jedoch alten Wein in neue Schläuche ab. Neuer Wein käme in die neuen Schläuche, wenn das Do­kument in seiner Leitfunktion für die Edition erkannt und der edierte Text dementsprechend als Funktion des Dokuments in der elektronischen Ausgabe verortet würde. Ein solches Mo­dell würde dem virtuellen Medium entsprechen. Überlieferte Texte oder, noch grundsätzli­cher: alles schriftlich Aufgezeichnete würde damit neu begriffen als das von der Materialität der Überlieferung Bedingte – was es schon immer war, wiewohl in dieser Konsequenz für Überlieferung und Edition so nicht immer wahrgenommen. Dass die Bedingungsverhältnisse nicht schon immer in dieser Weise das Denken und die Methodik der Editionswissenschaft bestimmt haben, liegt an der Nicht-Duplizierbarkeit von Dokumenten. Doch wenn sie auch nicht duplizierbar sind, so sind sie doch heute virtualisierbar. Das verändert unsere Perspektive, und die neue Optik wirkt über die Disziplin hinaus. Mit ihrem zunächst die eigene Praxis fundierenden, neu perspektivierten Verständnis für die Grundlage kultureller Überlieferung trüge die Editionswissenschaft schließlich auch zu einer nach-gutenbergschen, tatsächlich auf den epochalen Medienwechsel unserer Gegenwart bezogenen Neuperspekti­vierung der Geistes- und Kulturgeschichte bei – und erst diese wiederum dürfte recht eigent­lich den Sinnhorizont für die editorische Disziplin darstellen. Denn im Grunde möchten wir doch immer wissen, was wir tun, und wie das, was wir tun, zusammenhängt.


[1] 
Martens (1991: 135–156).
[2] 
Die Möglichkeit dieser Unterscheidung leitet sich her aus Goodmann (1968).
[3] 
Die Anglistik kennt eine muntere Debatte zur Frage, ›If the Mona Lisa is in the Louvre, where is Hamlet?‹, auf die Greetham (1992: 342-343) verweist.
[4] 
Will man die kunstwissenschaftliche Restauration der Sixtinischen Kapelle in Analogie zum philologischen Edieren setzen, so richtet sich das Augenmerk rasch auf Irreversibilitäten versus Reversibilitäten der Arbeit am Material, oder auf Fragen wie: Was ist das kunstwissenschaftliche Pendant zum Lesarten- und Variantenapparat? Siehe Weil-Garris Brandt (1993: 257-269).
[5] 
Ich habe mit Interesse meinen philologischen Hilfsmitteln entnommen, dass es zwischen ›virtus‹ und ›Virtualität‹ eine etymologische Brücke gibt.