Computerphilologie –
Projekte und Konzepte, Neues und Bewährtes
Jahrestagung der International TUSTEP User Group
(Zürich, 13.–16. September 2007)

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Das traditionell breite Spektrum der Aufgaben, der Forschungs- und Lehrtätigkeiten im Bereich der Philologien, der Geistes-, Kultur- und Geschichtswissenschaften hat sich mit den Computern einerseits verändert und andererseits auch wieder nicht verändert. Grundlegende Aufgaben sind auch heute noch dieselben wie zum Beispiel in den Zeiten, als August Boeckh seine Vorlesungen über Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften hielt. Dazu gehören unter anderem: Texte in kritisch gesicherter Gestalt herauszugeben, ihr Verständnis methodisch zu erarbeiten und gegebenenfalls weiterführende Fragestellungen sprachlicher, literarischer, historischer und kultureller Natur im weitesten Sinne anzuschließen. Seit den 1970er Jahren hat sich mit den Computern aber nicht nur die Art verändert, wie man traditionelle Arbeitsvorgänge erledigt (man stellt Wortformen-Indizes nicht mehr her, indem man Texte verzettelt und Karteikarten sortiert), es haben sich zunehmend auch ganz neue Arbeitsverfahren, Lehrformen und vor allem auch Präsentationsweisen und Darstellungsmittel herausgebildet. Die darauf bezogenen Programm- und Software-Umgebungen stellen sich heute als breit gefächertes Angebot dar, die entsprechenden Diskussionen sind ein vielstimmiger Chor, oder vielleicht besser: es laufen gleichzeitig ganz unterschiedliche Konzerte. Die Evolution in diesem Sektor ist geprägt von den gegenläufigen Tendenzen der Vervielfältigung und der Standard-Bildung, wobei die Geisteswissenschaften immer auch auf die Entwicklungen im Bürowesen und so weiter angewiesen waren, leider nicht immer zu ihrem Vorteil. Die Philologinnen und Philologen selbst zahlen heute mehrheitlich eine Art EDV-Zeitsteuer: ein gewisser Prozentsatz an Zeit und Energie muss regelmäßig abgeführt werden, um die eigene Beherrschung digitaler Werkzeuge, die Kenntnisse über aktuelle Entwicklungen und Diskussionen (zum Beispiel über Standards) und die Übersicht über laufende Projekte à jour zu halten.

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TUSTEP ist nun seit rund 30 Jahren Teil dieser Entwicklung: Man kann diese Tatsache als eine Art evolutionäres Gütesiegel betrachten. Zur Produktphilosophie von TUSTEP gehörte es seit den Anfängen, die Programmarchitektur den Bedürfnissen der philologischen Arbeit anzupassen und nicht umgekehrt. Zahlreiche kleine, mittlere, große und auch sehr große Unternehmungen mit ihren Produktionen zeugen von der Leistungsfähigkeit. Aber es gab und gibt auch Schwachpunkte: eingeschränkte Benutzerfreundlichkeit und eher spartanische Dokumentation zum Beispiel waren lange Jahre Eigenschaften, die der Verbreitung von TUSTEP im Weg standen. Will man im oben eingeführten Bild der EDV-Zeitsteuer noch für einen Moment verweilen, dann stellt man allerdings fest, dass die Abgaben unterschiedlich hoch sind und zum Teil sogar selbst bestimmt werden können: ältere, erfahrene TUSTEP-Nutzer zum Beispiel sagen oft, dass sie mit TUSTEP »alles machen können« und eigentlich nichts anderes brauchen, keine XML-Editoren, keine eigenen Datenbanksysteme, keine eigenen Konkordanz-Programme und so weiter. Für Neulinge und für neue Projekte stellt sich aber natürlich nicht nur die Frage nach dem Leistungsumfang, sondern auch die Frage nach dem Aufwand und gegebenenfalls nach der Verbreitung der Darstellungsmittel bei einer angepeilten Zielgruppe. TUSTEP steht heute in Konkurrenz mit anderen Werkzeugen, und so ist die Frage einer vergleichenden Beurteilung nicht ganz unwichtig.

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Sowohl die Weiterentwicklung des Programmpakets als auch die Abfederung von Nutzungshemmnissen war immer auch eine Sache der TUSTEP-Gemeinde beziehungsweise von lokal organisierten TUSTEP-Gruppierungen, zum Beispiel in Tübingen, Trier, Würzburg, Zürich und an anderen Orten. Mit der International TUSTEP User Group (ITUG) haben sich die TUSTEP-NutzerInnen seit 1993 ein Forum gegeben, in dem auch allgemeine und grundlegende Fragen der philologischen Datenverarbeitung diskutiert werden.

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Die Herbst-Tagung 2007 der ITUG fand vom 13. bis zum 16. September an der Universität Zürich statt, die sich seit einigen Jahren auch zu einem Zentrum der philologischen Datenverarbeitung um den TUSTEP-Experten und Veranstalter Dr. Wolfram Schneider-Lastin entwickelt hat. Die Jahrestagung brachte erfahrene TUSTEP-NutzerInnen und Neulinge, VertreterInnen ganz unterschiedlicher Fachgebiete und Projekte (zum Beispiel Romanische Philologie, Literaturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte, Sprachwissenschaft des Deutschen), aber auch die NutzerInnen anderer Programmumgebungen ins Gespräch.

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a) Projekte

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Einen ersten Schwerpunkt des Treffens bildeten naturgemäß die Berichte über geplante, laufende und abgeschlossene Projekte, in denen TUSTEP ganz oder anteilig verwendet wird, aber auch Projekte, die in anderen Umgebungen bearbeitet werden, kamen zur Sprache.

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Beispiel 1: Martin Gleßgen stellte eine zusammen mit Matthias Osthof entwickelte Umgebung für frühe französische Urkunden des 13. Jahrhunderts vor: Sie umfasst das Text-Corpus, einen Programmbaustein zur semiautomatischen Lemmatisierung und eine lexikologische Datenbank mit strukturierten Daten zu unterschiedlichen morphologischen, semantischen und anderen sprachgeschichtlichen Beschreibungsaspekten. Für die Bearbeitung wurden neben TUSTEP auch ein XML-Editor mit seinen Funktionalitäten (XQuery) eingesetzt. Für Vergleichsprojekte besonders interessant sind vermutlich: die Lemmatisierungsstrategien, die Architektur von Gesamt-Corpus und Teil-Corpora, die lexikologischen Beschreibungskategorien und die darauf bezogenen Abfrage- und Filtermöglichkeiten, zum Beispiel zu unterschiedlichen Schreibstätten. (Kontakt: glessgen[at]rom.uzh.ch)

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Beispiel 2: Wolfram Schneider-Lastin berichtete über die abgeschlossene erste Etappe eines Projekts, eine digitale Edition der Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797–1876), die zum Zeitpunkt der Präsentation zusammen mit einer gedruckten Monographie über Meta Heusser-Schweizer, der Mutter von Johanna Spyri, frisch von der Presse kam. Die Memorabilien sind Aufzeichnungen zu bemerkenswerten Ereignissen mit biographischem Bezug, die kalenderartig jeweils zu einem bestimmten Tag, aber für unterschiedliche Lebensjahre eingetragen wurden; unter dem dritten Mai stehen also gegebenenfalls Einträge aus unterschiedlichen Jahren, in denen es Einträge zum Tag gab. Die Edition ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert: zum einen ist diese Art von Text eine sprach- und sozialgeschichtlich hochinteressante Darstellungsform im Rahmen der privaten Schriftlichkeit mit Aufschlusswert in viele Richtungen (Familiengeschichte, Literaturgeschichte, Frauengeschichte, Johanna Spyri, und andere). Im Hinblick auf die Bearbeitung zeigte das Projekt eine ganze Batterie von Anforderungen: von der Transkription über die Kommentierung und die Register-Produktion bis hin zur annalistischen Umsortierung der Einträge (mit entsprechenden Rückkoppelungen in den Arbeitsabläufen). Die Buch-CD-Kombination ist auch ein gutes Beispiel für eine sinnvolle Aufteilung der Publikationsleistungen in unterschiedlichen Medien. Auf der CD können zum Beispiel die annalistisch umsortierten Daten mit präsentiert werden, vom Buch aus kann jeweils auf dokumentarisches Material verwiesen werden. In technischer Hinsicht bietet die CD eine Beispiellösung für einen Web-/Datenbankserver, der selbständig von einer CD aus gestartet und betrieben werden kann (genutzt wurde der Stunnix Advanced Web Server). Das Projekt bietet schließlich auch Beispiele dafür, wie TUSTEP als Bearbeitungswerkzeug kombiniert werden kann mit weiteren Präsentationsmitteln, zum Beispiel Webschnittstellen zu PHP-Datenbanken. Nun möchten Sie das Buch und die CD sicherlich erwerben für sich oder Ihre Bibliothek, hier also die Publikationsdaten: Regine Schindler (Hrsg.), Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797–1876), mit CD-ROM und vier Stammbäumen. Band 1 der Reihe »Pfarrherren, Dichterinnen, Forscher«. Zürich: NZZ Libro 2007. (Kontakt: email[at]swissedit.ch)

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Beispiel 3: Weit fortgeschritten ist auch ein Projekt zum Zürcher Sommer 1968, das unter der Leitung von Angelika Linke in Zürich bearbeitet wurde: Hier werden circa 2000 Dokumentseiten an Flugblättern, Wandzeitungen, Zeitungsartikeln, Briefen und so weiter dokumentiert und erschlossen, die auf die Zürcher 1968er-Bewegung bezogen sind. Präsentiert wurde das Projekt in sehr klarer, anschaulicher und strukturierter Form von den jüngeren studentischen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen (Noah Bubenhofer, Céline Jourdain, Ursula Stutz), und so war das Projekt zunächst auch ein schönes Beispiel dafür, wie strukturierte Projektarbeit dazu beitragen kann, dass aus der Lehre heraus gute Nachwuchskräfte ins philologische, sprach- und kulturwissenschaftliche Geschäft kommen. Für Vergleichsprojekte interessant sind unter anderem folgende Gesichtspunkte: die Annotation der Texte in einem sprechakttheoretischen beziehungsweise textlinguistischen Rahmen (es sind auch andere Annotationsgesichtspunkte vorgesehen), die Publikation im Verbund von Buch, DVD und Internet-Seite, die Nutzung des TEI-Standards als Bezugsrahmen (mit Vor- und Nachteilen und entsprechenden Anpassungen), die Konzeption der Corpus-Architektur und der Anzeige-Optionen, zum Beispiel Texttypen, Zeitleiste, Orte, Schlagwörter und so weiter. (Kontakt: noah.bubenhofer[at]ds.uzh.ch)

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Beispiel 4: Wieland Carls berichtete über den Stand der Planungen und der Vorarbeiten zu einer Informationsplattform zum sächsisch-magdeburgischen Recht und seiner Verbreitung in Rechtstexten in Osteuropa, die zeitlich vom Mittelalter bis (teilweise) ins 19./20. Jahrhundert reicht. Hier wird es unter anderem darum gehen, komplexe Zusammenhänge zwischen Texten und Textgruppen zu dokumentieren und die darauf bezogenen rechts- und sprachgeschichtlichen Untersuchungen teilweise gedruckt, teilweise digital, teilweise in beiden Umgebungen zu präsentieren. Zu den Herausforderungen dieses Projekts gehören unter anderem die Verlinkung mit den vorhandenen sprachhistorischen Wörterbüchern und die interaktive Gestaltung von digitalen Karten. Wieland Carls, der sicherlich zu den sehr erfahrenen und gut ausgewiesenen TUSTEP-Nutzern gehört (siehe seine Edition von Felix Fabris Sionpilgern), sprach in seinem Vortrag auch von der »Zufälligkeit der Werkzeugauswahl« und wies damit auf die jeweils biographische Mit-Bedingtheit solcher Entscheidungen vor dem Hintergrund begrenzter Lebens- und Arbeitszeit hin. (Kontakt: carls[at]saw-leipzig.de)

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Weitere Projekt-Porträts bezogen sich unter anderem auf die Edition der Leibniz-Schriften (Schepers), die an anderer Stelle bereits ausführlich dokumentiert ist (siehe auch [3]). Auch die editorische Bearbeitung von Briefen und Briefwechseln mit den entsprechenden Anforderungen (Kommentierung, Register-Erstellung et cetera) hat eine gute Tradition im TUSTEP-Umfeld, zu nennen wären hier unter anderem die Leibniz-Korrespondenz, der Zürcher Bullinger-Briefwechsel und die monumentale Edition des Schickard-Briefwechsels von Friedrich Seck. In Zürich berichtete Heidi Hein über die Arbeitsabläufe bei der Edition des Melanchthon-Briefwechsels, Gottfried Reeg und Marion Mücke stellten ein Projekt zum Briefwechsel von Christoph Jakob Trew und Andreas Elias Büchner vor, beides Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisatoren im Umkreis der Leopoldina. In beiden Projekten gehört es mit zu den besonderen Bedingungen, dass die editorische Arbeit auch von institutionellen Vorgaben und vorgängigen Entscheidungen mitbestimmt ist. Das Leopoldina-Projekt ist für Vergleichsprojekte vermutlich auch interessant im Hinblick auf ihr Verfahren der Briefstrukturierung und -markierung. In konzeptioneller Hinsicht ist besonders die Frage brisant, wie man editorisch mit erwähnten Drittkorrespondenzen umgehen soll. (Kontakte: marion.muecke[at]berlin.de; reeg[at]zedat.fu-berlin.de)

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Weitere Projekt-Präsentationen stelle ich im nächste Abschnitt vor, weil sie besonders aufschlussreich sind für handwerkliche Fragen und für Verfahrensweisen im Bereich der Computerphilologie.

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b) Das Handwerk und der philologische Alltag

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Der philologische Alltag in vielen Projekten besteht auch in der Lösung und der Entscheidung von handwerklichen Problemen und Fragen, die nicht selten von Kosten/Nutzen-Überlegungen mitbestimmt sind, die aber insgesamt sehr vielgestaltig sind: Was kostet ein bestimmtes Programm (für mich, für eine bestimmte Anzahl von MitarbeiterInnen)? Wie lange brauche ich/brauchen Mitarbeiterinnen für die Einarbeitung? Welche Möglichkeiten gibt es, dass ein Experte projektspezifische Schleichwege und Abkürzungen einrichtet? Und so weiter. Ich stelle hier vier Projekte mit handwerklichem Bezug vor: zwei zu TUSTEP, eines zum Übergang WORD/XML und eines zu XML.

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Beispiel 1: Thomas Kollatz arbeitet beim Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an einem umfangreichen Projekt zur Dokumentation von Inschriften auf jüdischen Gräbern (siehe [1]). Zu den Anforderungen in diesem Projekt gehört einerseits eine mehrsprachige Texterfassung, zum anderen eine Arbeitslandschaft, die auf mehrere Personen an unterschiedlichen Orten verteilt ist. Herr Kollatz stellte eine TUSTEP-Routine vor, mit der sich fremdsprachige Texte (unter anderem in Hebräisch, Griechisch, Russisch...) browsergestützt eingeben lassen, die dann mit den einschlägigen TUSTEP-Kodierungen und textstrukturellem Markup in eine entsprechende TUSTEP-Datei geschrieben werden und von dort aus weiterverarbeitet werden können. Diese Routine ist ein schönes Beispiel für Nutzungs-Erleichterungen bei der Eingabe von Daten, für das Zusammenspiel von Experten und weniger erfahrenen Nutzern und auch für die Möglichkeit, eine Datenbank webgestützt von unterschiedlichen Orten aus zu bearbeiten. (Kontakt: kol[at]steinheim-institut.org)

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Beispiel 2: Paul Sappler stellte eine komplexe TUSTEP-Arbeits-umgebung für ein Editoren-Team vor, in der einzelne Arbeitsschritte oder einzelne Arbeitsabläufe als Komponenten in einem Organisationsfenster vorprogrammiert und für Benutzer wählbar sind. Auf diese Weise werden zum einen die weniger erfahrenen MitarbeiterInnen im Projekt entlastet (sie finden nach ihrer Wahl genau das vor, was sie für den jeweiligen Arbeitsschritt benötigen), zum anderen werden Arbeitsabläufe in einer Art Workflow-Schema auch stärker standardisiert und kontrollierbar. (Kontakt: paul.sappler[at]uni-tuebingen.de)

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Beispiel 3: In einem von Wolfgang Lukas geleiteten Zürcher Projekt zur Edition des C.F. Meyer-Briefwechsels geht es in der gegenwärtigen Phase darum, umfangreiche Materialien, die in WORD mit Hilfe von Druckformatvorlagen erfasst wurden, in eine XML-Umgebung zu überführen. Wolfgang Lukas stellte das Projekt vor, in dem schon mehrere umfangreiche, gründlich kommentierte und auch dem Auge wohlgefällige Briefbände erschienen sind. Ute Recker-Hamm berichtete dann insbesondere von den Schwierigkeiten, von den nicht schachtelbaren WORD-Druckformaten zu wohlgeformten XML-Dokumenten mit einer entsprechend geschachtelten Auszeichnung zu gelangen. Hier wird wohl ein Rest von händischer Nachbearbeitung und Kontrolle unumgänglich sein. Der Satz der Bände wird schließlich mit TUSTEP erfolgen. (Kontakt: wlukas[at]uni-wuppertal.de; recker[at]uni-trier.de)

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Beispiel 4: Ute Recker-Hamm berichtete auch über die Verfahrensweisen bei der Erschließung des Briefwechsels von Alfred Escher (1819–1892), dem Schweizer Politiker, Industriellen und Eisenbahn-Pionier, dessen Leben und Wirken in weit gespannte Netzwerke eingebunden war. Die Vorbereitung der Register geschieht in einer XML-Umgebung, die Aufbereitung dann mit Hilfe von XSLT-Transformationen. Solche Erschließungsaufgaben und Verfahrensweisen sind in ähnlicher Form auch in zahlreichen TUSTEP-gestützten Brief-Projekten dokumentiert worden, es ist aber kennzeichnend für eine »aufgeklärte Pluralität der Werkzeuge«, dass die Entscheidung hier entsprechend dem Projektzusammenhang und den Voraussetzungen der Projektbeteiligten für eine XML-Umgebung (XML-Spy) fiel.

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Ähnliche Beobachtungen zu handwerklichen Entscheidungen, zu Verfahrensweisen, Projektstrukturierungen und so weiter waren natürlich auch in den oben genannten Projekten zu machen. Insgesamt boten die Projekt-Porträts eine reiche Ausbeute mit vielen guten Anregungen zu handwerklichen Details, zu den Einsatzmöglichkeiten von TUSTEP und von Konkurrenzprodukten bis hin zu Möglichkeiten und zu Entscheidungen im Bereich des Projektmanagements.

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c) Entwicklungsperspektiven und Zukunftsaufgaben

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Die Tagung wurde eröffnet mit einem weit ausgreifenden Vortrag von Fotis Jannidis, Professor für Literaturwissenschaft an der TU Darmstadt und geschäftsführender Herausgeber eines weithin sichtbaren Medienverbundes zur Computerphilologie mit einem gedruckten Jahrbuch und einer Online-Plattform als Hauptkomponenten (siehe http://www.computerphilologie.de). In einem ersten Teil rekapitulierte er zunächst wichtige Grundgedanken und Meilensteine der literaturwissenschaftlichen Computerphilologie und ihrer Schwerpunkt­bildungen: unter anderem die Geschichte der Markup-Ideen, unterschiedliche Standardi­sierungs-Ansätze, Anwendungsbereiche wie digitale Edition, Stilometrie, Textretrieval, Hyperfiction, Publikations- und Gestaltungs­modelle digitaler und hybrider Editionen bis hin zu aktuellen Entwicklungen zum Beispiel im Rahmen der Open Source-Bewegung.

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An diese Standortbestimmung schlossen sich weit reichende Überlegungen zu den Zukunftsaufgaben und zu Entwicklungs-Potentialen im Rahmen der Computerphilologie an. Besonders hervorzuheben sind hier die Vorbereitungen zu TextGrid, einem verteilten, kooperativen und kollaborativen philologischen Werkzeug- und Datenverbund der Zukunft. Andrea Rapp stellte die Grundideen, Ziele und Perspektiven dieses Projekts später in einer eigenen Präsentation genauer dar (siehe auch [2]). Zu den Zielsetzungen des Unternehmens gehören unter anderem:

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1. Erarbeitung einer Plattform für die verteilte, zusammenhängende Dokumentation unterschiedlicher textbezogener Markierungs- und Kodierungsaktivitäten;

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2. Bereitstellung von digitalen Werkzeugen und Werkzeugverbünden, die netzgestützt frei zugänglich und an Nutzerbedürfnisse anpassbar sind;

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3. Verbindungsmöglichkeiten von »neuer« Arbeit mit den digital verfügbaren Ressourcen philologischer Forschung, insbesondere den großen Wörterbüchern, wie sie derzeit im Trierer Wörterbuchverbund vernetzt werden;

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4. Bereitstellung von »Mitteln und Wegen«, mit denen Studierende auf handwerklich solide, konzeptionell anspruchsvolle und attraktive Weise ins philologische Geschäft einsteigen oder eingeführt werden können.

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Es ist offenkundig, dass ein solcher philologischer Werkzeug-, Daten- und Arbeitsverbund eine anspruchsvolle Konkretisierung dessen wäre, was unter Stichwörtern wie »Web 2.0« oder »soziale Software« in den letzten Jahren diskutiert wurde. (Kontakt: jannidis[at]linglit.tu-darmstadt.de; rappand[at]uni-trier.de)

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Aus meiner eigenen Sicht verbinden sich mit diesem Projekt auch weitere Hoffnungen und seit langem uneingelöste Aufgaben der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften des Deutschen im europäischen Zusammenhang. Hierzu gehört besonders die Schaffung eines öffentlich nutzbaren, frei zugänglichen Nationalcorpus, das auch historische Sprachstadien und nicht-literarische Texte mit umfasst. Aber auch wertvolle Synergie-Effekte wären hier zu nennen, die sich aus der Zusammenschau von Textbearbeitungen mit unterschiedlicher Fragestellung und Perspektive ergeben können. Hätte man − um ein elementares sprachwissenschaftliches Beispiel zu nennen − zum Beispiel die verschiedenen Annotationen etwa eines Ideengeschichtlers, eines Syntaktikers, einer Textlinguistin, einer Editionsphilologin mit Schwerpunkt beim Fassungsvergleich und einer Lexikologin zu Goethes ›Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären‹, dann würde die zusammenhängende Nutzung dieser Arbeiten zu Ergebnissen führen, die gegenwärtig nicht, nicht im selben Umfang oder zum Teil auch nicht in derselben Art erreichbar sind. Die qualitativen Unterschiede betreffen nach meiner Auffassung insbesondere Fragen, die mit hoher Komplexität verbunden sind, etwa Fragen der Wortschatzorganisation oder die Modellierung von Mikroprozessen langwieriger Sprachwandelerscheinungen. Jede Disziplin hat hier wohl ihre eigenen Sonderhoffnungen. Gleichwohl: es ist ein äußerst vielversprechendes Projekt, Werkzeuge, Umsetzungsschemata, Datenarchitekturen und auch dynamische Anpassungsmöglichkeiten einer solchen verteilten und kollaborativen Umgebung in koordinierter Form und in Abstimmung der jeweiligen Sonderhoffnungen zu entwickeln.

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Betrachtet man in diesem Lichte das Verhältnis von TextGrid und TUSTEP, dann liegt eine Kooperation zu wechselseitigem Nutzen nahe. Das TextGrid-Projekt kann von der vielfältigen philologischen Erfahrung und Expertise, die im Rahmen der TUSTEP-Entwicklung und auch im Rahmen der einzelnen Projekte angewachsen ist, nur profitieren. Auf der anderen Seite ist die Einbindung in einen übergreifenden Arbeitsverbund für TUSTEP eine sehr gute Gelegenheit, die vorhandenen Leistungsparameter für einen sehr viel weiteren Nutzerkreis bereitzustellen. Da wird es sicherlich die eine oder andere Hürde geben. Aber ich zweifle nicht, dass die TUSTEP-Experten es nicht an Phantasie und Raffinesse werden fehlen lassen, um auch denjenigen Nutzern einen freundlichen Empfang zu bereiten, die aus der Welt der WYSIWYG-Umgebungen, der Buttons und des Drag-and-drop kommen.

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Fotis Jannidis übernahm es am Ende der Tagung auch, in einem kurzen Schlusswort wesentliche Punkte und Themen der Zürcher Diskussion noch einmal zu formulieren:

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1. Es gibt heute gute Beispiele für die Verteilung und die editorische Kombination von Buch, CD und Online-Publikation. Beispiel-Projekte, die auf der Tagung genannt wurden, sind unter anderem das Projekt zum Zürcher Sommer 1968 oder das Buch und die CD zu Meta Heusser-Schweizer.

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2. Es gibt immer so etwas wie ein knirschendes Verhältnis zwischen den Projekt-Anforderungen und dem, was etablierte Standards bieten (in unserem Sektor in erster Linie die TEI-Guidelines): der TEI-Standard ist einerseits sehr umfangreich und von einer gewissen monumentalen Wucht in seinem Versuch, für alle Standardfälle Beschreibungsmittel vorzusehen. Auf der anderen Seite gibt es doch kaum ein Projekt, bei dem es nicht Spezifika gäbe, die im TEI-Rahmen nicht vorgesehen sind. TEI bietet immerhin einen definierten Mechanismus an, mit dem man eigene Elemente und Attribute definieren und in einer standardisierten und nachvollziehbaren Weise dokumentieren kann. Ausserdem kann man aus dem Gesamtstandard die Module – und mit der neuen Version P5 gilt dies sogar bis auf die Elementebene – zusammenstellen, die man in seinem Projekt benötigt.

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3. Es ist erkennbar, dass es im Bereich der Geisteswissenschaften derzeit eine Pluralität der Werkzeuge gibt. Viele Aufgaben lassen sich heute auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Werkzeugen lösen. Die Entscheidungen fallen z.T. aufgrund biographischer Zufälligkeiten, im besseren Fall aufgrund einer gewissen Übersicht über Vor- und Nachteile der einzelnen Werkzeuge.

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4. Ein Problem für dauerhafte Publikationen in der vernetzten Textwelt sind stabile Referenzen, die unabhängig sind vom physischen Ort, an dem die Dokumente jeweils liegen. Eine Lösung zeichnet sich mit dem DOI-System ab, das von vielen überregional agierenden Verlagen (zum Beispiel Springer, Elzevier) bereits eingesetzt wird.

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5. Besonders aufmerksame Beobachtung verdient auch das Verhältnis von Informationstechnologie/digitaler Technologie und Philologie. Das Beispiel WORD und XML lehrt, dass es im Zweifelsfall ratsam ist, eine gewisse kritische Distanz zur Büro-Software zu halten. Die Abstimmung der IT-Fragen und der im engeren Sinne philologischen Fragen bleibt also nach wie vor »anstrengend«.

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6. Besondere Aufmerksamkeit verdienen nach wie vor auch die unterschiedlichen Arten des Markup und ihr Zusammenspiel.

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d) Das Ambiente, die Geselligkeit und das Rahmenprogramm

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Die Tagung und ihr Verlauf wäre aber unzureichend gezeichnet ohne eine wenigstens kurze Würdigung des Rahmens. Der Veranstalter, Wolfram Schneider-Lastin, wies wohl einleitend auf den protestantisch-frugalen Zuschnitt des Rahmensprogramms hin, aber schon nach dem Eröffnungsvortrag am Donnerstagabend entlarvten ein üppiger Apéro riche im Kreuzgang des Zürcher Großmünsters und funkelnde Weine (»die köstlichen Flaschen nicht geschont«; Goethe, WA I.22,206) das freundliche Understatement. So ging das dann weiter ... Wie die meisten Teilnehmer habe auch ich es − neben aller fachlichen Anregung − sehr genossen, beim Programm, beim Rahmenprogramm, bei den gemeinsamen Mahlzeiten und auch an den Rändern des Programms ältere kollegiale und freundschaftliche Verbindungen wieder aufzunehmen, andererseits aber auch »neue Leute« mit ihren jeweils eigenen Horizonten, Projekten und ihrer jeweils eigenen Art kennenzulernen.