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Es ist recht ruhig geworden um die Netzliteratur in den letzten Jahren [1]. In den späten 90er Jahren erlebten literarische Experimente im und mit dem Internet nachgerade einen ›Hype‹, der sich viel medialer Aufmerksamkeit erfreute [2] und auch eine durchaus erkleckliche Zahl an Wissenschaftlern anlockte, die begannen, sich mit den verschiedenen Formen interaktiver Kunst und Literatur auseinanderzusetzen. Parallel dazu entwickelte sich eine Vielzahl experimenteller Spielarten mit den Möglichkeiten »programmierbarer Medien«, deren Analyse die traditionellen Methoden und Theorien der Literaturwissenschaft insbesondere herausforderte. Die multimedialen Potentiale der digitalen Medien und ihre Fähigkeit zur Interaktivtät, die es dem User erlaubt, in unterschiedlicher Form Einfluss auf die Generierung und/oder Darstellung dessen, was auf dem Bildschirm sichtbar wird, zu nehmen, schien der klassischen linearen Erzählweise des materiell unveränderbaren Buches und seiner Interaktionsarmut radikal zu widersprechen. Die vielfältigen Utopien, die sich an diese Eigenschaften des Computers knüpften, sind sattsam bekannt. In der literaturwissenschaftlich orientierten Diskussion entstanden so Konzepte wie das des »wreaders« (George Landow), der sich auf gleicher Augenhöhe mit dem zunehmend entmachteten Autor befindet und (angeblich) genauso viel Einfluss auf die Textgestalt habe wie dieser. [3] Man bejubelte die größere Flexibilität durch offene Kombinierbarkeit, die Demokratisierung der literarischen Produktion durch kooperative Schreibprojekte und die subversive Qualität einer identitätsfreien und antizentralistischen Netzwerkstruktur. [4] Nach dieser Phase der Euphorie und der Betonung der radikalen Unterschiedlichkeit zum Medium Buch trat in der akademischen Diskussion eine gewisse Ernüchterung ein, in der man anfing, die angewendeten Konzepte und Prämissen auf ihre Tauglichkeit hin zu befragen, neben der Differenz auch Parallelen zu experimentellen Schreibweisen in ›alten‹ Medien herauszuarbeiten und zu versuchen, auf der Basis der medialen Eigenschaften phänomenbezogene und weniger ideologisch motivierte Analysemethoden der Netzliteratur und -kunst zu entwickeln. In diesem Kontext bewegt sich auch die jüngste Publikation zu diesem Thema, der Sammelband The Aesthetics of Net Literature, der auf einen 2004 veranstalteten Kongress in Siegen zurückgeht. Peter Gendolla und Jörgen Schäfer versammelten dabei eine prominente Runde von Theoretikern und Künstlern (oder häufig auch Künstler-Theoretikern, die in Praxis und Wissenschaft gleichermaßen zu Hause sind) aus Europa und den USA. Der Fokus der Konferenz und damit auch des Sammelbandes liegt, so die Organisatoren in ihrer Einführung, in der Behandlung von »ruptures and upheavals in literary communication through computerized networked media« (S. 9). Unter »networked media« verstehen die Autoren nicht nur – wie man intuitiv meinen könnte – physisch vernetzte Computer, sondern in Referenz auf Hartmut Winkler die Verbindung von Zeichen und Medientechnologie. Dies ist eine semiotisch-technologische Perspektive, die unter dem Aspekt der Differenzbildung zu anderen Medien durchaus berechtigt ist, sie bedeutet allerdings gleichzeitig eine gewisse Verengung der Perspektive auf das Verhältnis von Programmierung und deren Folgen für die Präsentationsformen von Literatur. Obwohl Gendolla und Schäfer explizit auch neben der Mensch-Maschine-Kommunikation und der (unendlich erweiterbaren) Mensch-Maschine-Mensch-Maschine-Kommunikation (womit die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Professionen und auf verschiedenen Ebenen der literarischen Produktionsstufen gemeint ist) auch die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation durch die Maschine (als kooperative Aktivität) verstanden wissen wollen (S. 25/26), fallen die letzteren beiden Formen in den folgenden Beiträgen nahezu völlig heraus. Der Band wird weitgehend dominiert von Herangehensweisen an Computerliteratur, die die klassische Trias von Autor – Text – Leser im Hinterkopf behalten und auf dieser Basis Differenzierungen entwickeln, die – und da sind sich nahezu alle Autoren einig – die materielle, und das heißt hier vor allem programmierbare, Struktur des Mediums zu berücksichtigen haben. Im Mittelpunkt der meisten Beiträge steht demnach eine Analyse des Verhältnisses von medientechnologischen Eigenschaften des Computers (weniger des Internets) und seiner Folgen für klassische literaturwissenschaftliche Konzepte. |
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Autorenfunktion und Textgenerierung |
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Die Frage nach der Veränderung der Rollen von Autor und Leser wird insbesondere von den Autoren behandelt, die sich – häufig auch als Künstler – mit der automatischen Generierung oder Veränderung von Texten durch den Einsatz der Programmierung beschäftigen. Vor diesem Hintergrund entwickelt zum Beispiel Philippe Bootz in seinem Beitrag »The Problem of Form« ein hochkomplexes Modell von auktorialer (Programmier)Produktion (»texte-auteur«, verstanden als Textkorpus plus Programmierregeln), dem auf dem Bildschirm erscheinenden Text (»texte-à-voir«) und den jeweiligen mentalen Repräsentationen (»texte-écrit« auf Autorenseite und »texte-lu« auf Rezipientenseite). Der Vorteil dieses Modells ist, dass es die Volatilität und Prozessorientierung des Mediums in Rechnung stellt, der Nachteil, dass nicht deutlich wird, wie sich die materiellen Manifestationen zu den mentalen Repräsentationen verhalten. Das Modell verbleibt eher in der Sphäre der Abstraktion, potenziert dadurch, dass Bootz sein Modell als a-mediales, nicht notwendigerweise an den Computer gebundenes Konzept verstanden wissen will, das darauf abzielt, allgemeingültige Metaregeln zur Textgenerierung und -rezeption zu etablieren: |
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This unity [id est allgemeine Meta-Regeln] is not manifested on the screen, but in the similitude of the management of the reader’s and the author’s role: It is not an aesthetics of text; it is an aesthetics of creating. (S. 102) |
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Unklar bleibt dabei, in welchen Medien außer dem Computer diese Flexibilität ermöglicht wird; bedenkenswert ist dabei allerdings, dass Bootz‘ Modell eine feststehende Funktionalität von Autor und Leser verweigert und statt dessen für eine flexible Rollenzuschreibung gemäß der jeweils durch die spezifischen Produktionsstrukturen induzierten Kommunikationssituationen plädiert. Damit setzt er dem verallgemeinernden Dictum der Gleichwertigkeit von Autor und Leser die Forderung nach einer immer wieder neu zu erkundenden Rollenverteilung entgegen. |
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Auf eine ähnliche Flexibilisierung der literarischen Trias zielt auch Jean Pierre Balpes Beitrag zur generativen Literatur ab, der einen zentralen Grund der veränderten Beziehung zwischen Autor, Text und Leser im zunehmend wichtigen Zeitfaktor verankert. Wenn Texte sich erst im Moment ihrer Aktualisierung durch den Leser überhaupt auch materiell bilden, dann – so Balpe – ist die klassische narrative Struktur der Buchliteratur ausgehebelt. Es gibt keine diegetische Achse (Gerard Genette) mehr, auf der sich alle Ereignisse anordnen lassen, sondern nur noch eine große Reihe virtueller Texte, von denen der Leser niemals wissen kann, welche er noch hätte lesen können, wenn die Generierung anders verlaufen wäre. Für den Autor bedeutet dies, dass er nicht mehr Schöpfer eines Textes ist, sondern Dirigent eines Textcorpus und der algorithmischen Regeln, nach deren Anwendung konkrete Texte entstehen. Balpe bemerkt zu recht, dass dies in keiner Weise auf eine Entmachtung, sondern nur auf eine Veränderung der Autorenfunktion hinausläuft. Der Zeit kommt zudem eine besondere strukturelle Funktion zu, da das aktuelle Textereignis Unwiederholbarkeit impliziert und gleichzeitig auf die Potentialität anderer, nicht-aktualisierter Textereignisse verweist, das Ergebnis der Textgenerierung also – trotz der angewendeten Regeln – zufällig, einmalig und unwiederbringlich ist, der Generierungsprozess dafür aber unendlich wiederholbar, mit jeweils anderem Ergebnis. Balpe betont in seinem Beitrag damit den wichtigen, der Struktur des Mediums Computer geschuldeten Faktor der Zeitlichkeit, der implizit auch in den Diskussionen um die Narrativität von computerbasierter Literatur mitschwingt, die den Großteil des Beiträge des Bandes beschäftigen. |
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Die Rolle der Narration: Literatur und/oder Spiel? |
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Bei der Behandlung der Frage nach den Veränderungen der Textstrukturen vor dem Hintergrund der Programmierbarkeit entsteht insbesondere in der zweiten Hälfte des Buches eine interne diskursive Verknüpfung, die den schon länger währenden Diskussionsstrang um den Status von Computerspielen im Kontext der digitalen Literatur behandelt. Zwei Fraktionen stehen hier einander gegenüber: eine vor allem von skandinavischen Wissenschaftlern gebildete Richtung, die sich selber den Namen der »Ludology« gegeben hat, gegenüber denjenigen, die eine Integration von Computerspielen in das Corpus der Netz- oder Computerliteratur verlangen, soweit in diesen narrative Strukturen zu entdecken sind. Marie-Laure Ryan gehört zu letzteren und plädiert in ihrem Beitrag »Narrative and the Split Condition of Digital Textuality« dafür, der Computerliteratur durch eine verstärkte Verschränkung von Narrativität und Interaktivität mehr Popularität zu verschaffen. Sie tritt dabei allerdings bewusst für einen konservativen Narrationsbegriff ein, der auf der Erzählung linear-kausaler Ereignisse beruht, die den Leser in die Geschichte immersiv hineinzieht und ihn sich mit den Protagonisten identifizieren lässt: |
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A narrative is the use of signs, or of a medium, that evokes in the mind of the recipient the image of a concrete world that evolves in time, partly because of random happenings, and partly because of the intentional actions of individuated intelligent agents. (S. 261) |
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Mit diesem Maßstab im Hintergrund unterzieht sie Hyperfiction, interaktives Drama und Computerspiele einer Kritik, die letztlich darauf hinausläuft, dass das größte Problem für ihren Anspruch an Narrativität die Interaktivität ist. Die Struktur der aus modularen, miteinander verlinkten Textbausteinen bestehenden Hyperfiction verlangt vom Leser eigene Aktionen, mit denen die nächsten Textstränge aufgerufen werden, ohne dass er jedoch über genug Wissen verfügt, um bewusst wählen zu können. Diese schon häufig kritisierte Problematik der Hypertexte lässt eine Erzählkohärenz mit immersivem Effekt für den Leser kaum entstehen. Ähnliches gilt für Computerspiele wie die Sims, die zwar dem Spieler erlauben, eine Geschichte mit vorgegebenen, aber lernfähigen Figuren zu entwickeln, ihn aber in die Position des göttlichen Schöpfers versetzen und somit eine Identifikation verhindern. In Façade von Michael Mateas und Andrew Stern dagegen übernimmt man als User zwar eine Rolle in einem Drama à la Wer hat Angst vor Virginia Woolf , wird aber von der akzelerierenden Dynamik des Ehekriegs der virtuellen Personen Grace und Trip zunehmend an den Rand gedrängt – auch weil man mit der Tastatur eben langsamer kommuniziert als die Avatare mit ihren automatisch generierten Texten. Obwohl Ryans Motivation, Gestaltungsmaßnahmen für eine Popularisierung von Netzliteratur zu entwerfen, auf deren wunden Punkt verweist, nämlich dass sie zwar große Aufmerksamkeit bei Wissenschaftlern und aktiven Künstlern/Literaten erregt, darüber hinaus aber bisher noch kein größeres Publikum zu fesseln vermag, scheint Ryans Lösungsvorschlag auf eine Quadratur des Kreises hinauszulaufen: Narrativität im klassischen Sinne eines linear-kausalen Erzählstrangs steht interaktiver Integration des Users in gewisser Weise diametral entgegen. |
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Demgegenüber scheint Fotis Jannidis’ Vorschlag, Narrativität immer in Bezug auf das jeweilige Medium neu zu definieren (S. 283), fruchtbarer, weil er für eine Erweiterung des Narrativitätsbegriffes plädiert, ohne ihn ganz zu opfern. Die von Jannidis angeführten Beispiele, das MMOPRG (Massive Multiplayer Online Role Player Game) Everquest II und das Adventure Game Black Mirror, repräsentieren unterschiedliche Formen des Verhältnisses von Narrativität und Interaktivität: Everquest II beruht auf der Lösung einzelner Aufgaben für den User, die in eine Rahmenerzählung eingebettet sind, in deren Gestaltung der User durch die Lösung der Aufgaben aber nicht eingreift, während Black Mirror die Rätsellösungen mit dem Fortschreiten der Erzählung verknüpft. Ausgeblendet bleibt dabei das Verhältnis der Spieler zueinander im MMOPRG, das – wie der Name schon sagt – ein Multiplayer Online Game ist, also inhärent auf der Vernetzung der User untereinander beruht. Diesen signifikanten Unterschied zwischen Multiplayer-Strukturen (und damit der Vernetzungsebene Mensch-Maschine-Mensch-Kommunikation) und Single-user-Modi (bei den meisten Adventure Games) zu analysieren, würde vermutlich nicht nur weiteren Aufschluss über die unterschiedliche narrative Qualität geben, sondern auch den Blick auf eine weitere Ebene von Netzliteratur richten, der mit der sozialen Vernetzung und dem gruppendynamischen Verhalten in der Online-Kommunikation zusammenhängt. |
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Markku Eskelinen, der zur Fraktion der Ludologists zählt, arbeitet sich in seinem Beitrag primär an der Erzeugung von Differenzen und Abgrenzungsmechanismen zur Narratologen-Partei ab und verliert sich in einer überkomplexen und nahezu kaum realisierbaren Merkmalsemantik, die aus 575 (!) verschiedenen Kombinationen unterschiedlichster Ebenen und Charakteristika besteht, bei denen letztlich dann doch nicht mehr zu unterscheiden ist, welche nun ›spielespezifisch‹ und welche ›literarisch‹ sind. Ein wirklich praktikables Analysemodell ist auf dieser überkomplexen Basis kaum möglich. |
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Operationalisierbarer scheint da der von Mela Kocher vorgeschlagene »ludoliterarische Zirkel« zu sein, ein matrixähnliches, wenn auch kreisförmiges Modell, das Interaktivität (dynamisch/statisch), narrative Charakteristika (diegetisch/mimetisch) und Rezipientenposition (intern/extern) miteinander koppelt und somit versucht, über die reine narratologische Analyse hinauszugehen. Obwohl sie den Anspruch erhebt, ein dreidimensionales Modell zu konstituieren, stehen dem letztlich aber doch die jeweiligen Dualismen entgegen. Der Maßstab für Skalierung zwischen den Extremen (weniger interaktiv – interaktiver – am interaktivsten?) bleibt unklar. Dennoch zeichnet sich diese Herangehensweise gegenüber den polarisierenden Ansätzen von Narratologen und Ludologen durch eine umfassendere Perspektive und eine gleichzeitige plausible Komplexitätsreduktion auf wenige Merkmale aus und lässt auf fruchtbare Ergebnisse hoffen, die allerdings hier mangels Beispielen offen bleiben. |
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Dieser große Komplex der Diskussion um den Status von Computerliteratur zwischen Literatur und Spiel wird in seinen Polarisierungen durchkreuzt vom Konzept der »playable media« und der »textual instruments«, vorgestellt vom Netzkünstler Noah Wardrip-Fruin, dessen Projekte News Reader und Regime Change (entwickelt gemeinsam mit Brion Moss, David Durand und Elaine Froehlich) auf der Basis von Informationen im Netz immer neue Texte generieren und in einen Ursprungstext einfügen. Das Prinzip erinnert an den Impermanence Agent (1999), einem Meilenstein der Netzkunst von Noah Wardrip-Fruin, Andrew Chapman und Brion Moss, der auf der Basis eines intelligenten Agenten von willkürlich ausgewählten Webseiten Textbausteine in einen vorgegebenen narrativen Text integriert. Allerdings zeigt insbesondere Regime Change politische Brisanz, da der Ausgangstext durch einen Zeitungsartikel über die den Kriegsbeginn im Irak 2003 markierende Bombardierung durch die US-Armee gebildet wird, der wiederum durch Textbausteine aus dem Bericht der zur Untersuchung des Todes von John F. Kennedy eingesetzten Warren Commission modifiziert wird. Ausgelöst werden diese Substitutionsprozesse durch die Mausklicke des Users auf bestimmte markierte Worte. Die eminent politische Ebene der Informationsmanipulation, auf die mit dieser Koppelung zweier scheinbar voneinander völlig unabhängiger epochaler und folgenreicher Ereignisse verwiesen wird, wird von Wardrip-Fruin in seinem Beitrag allerdings nicht weiter erläutert. Ein ähnliches Programmier-Prinzip wie Regime Change liegt dem News Reader zugrunde, nur dass er die RSS-Feeds von Yahoo als Basis für seine Textmodifikationen nutzt und so auf die beständige Veränderung und Aktualisierung der vernetzten Informationswelt verweist. Dieses Projekt ist auch das einzige im Sammelband erwähnte, das die Möglichkeiten des Web 2.0 nutzt, die in puncto Interaktivität ein ganz neues Feld für die netzliterarische Produktion und Analyse eröffnen, hier allerdings (möglicherweise auch aufgrund der zumeist 2004 konzipierten Beiträge) nahezu nicht berücksichtigt werden. Wardrip-Fruins Beispiele machen zudem deutlich, dass das Spielerische von Netzliteratur – ein Element, das viele Projekte auszeichnet – nicht durch die Referenz auf das Genre »Computerspiele« erschöpft wird, sondern weiterführen kann zu Formen von intertextueller Vernetzung und einer Art ›Materialästhetik‹, die Bezüge zur konzeptuellen Kunst aufweist. |
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Zusätzliche Perspektiven der Behandlung von offenen, auf spielerischen Strukturen beruhenden Literaturformen eröffnet der sehr differenzierte und materialreiche Beitrag von Jörgen Schäfer zur Tradition der Aleatorik und Kombinatorik in ›alten‹ Medien. Schäfer trägt eine Fülle von Beispielen experimenteller Schreibweisen vom Barock bis in die Gegenwart zusammen, ohne jedoch die geistesgeschichtlichen Unterschiede zu leugnen, unter denen sie jeweils entstanden sind. War die Aleatorik und Kombinatorik des Barocks vor allem unter dem Aspekt des Verhältnisses von Sprache und Welt in einen größeren transzendenten Kontext eingebettet, so zielen die Experimente der konkreten Poesie und die das Medium Buch überschreitenden Sprachspiele im Kontext der Avantgardebewegungen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts mehr auf die mediale Selbstreflexion der Kunst und ihrer Rezeptionskonventionen ab. Schäfers Beitrag macht deutlich, dass trotz einiger schon erschienener historisch orientierter Beiträge zu diesem Thema [5] sich hier durchaus noch Felder eröffnen, die der gründlichen Analyse bedürfen, insbesondere im Hinblick auf die modularen, häufig das Medium Buch bewusst sprengenden Romanexperimente aus den 60er und 70er Jahren, die im Gegensatz zu den entsprechenden Poesieformen noch unzureichend erforscht sind. Hier könnten die aktuellen Untersuchungen zur elektronischen Literatur wiederum der klassischen Literaturwissenschaft wichtige Impulse für neue Perspektiven geben. Zudem zeigt der Beitrag sehr deutlich, dass hinter derartigen Experimenten immer auch weitergehende kulturtheoretische Implikationen stehen, deren Analyse auch für computerbasierte Literatur erhellende Ergebnisse bringen könnte. |
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Lesbarkeit und Leserverhalten |
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Der dritte Faktor der literarischen Trias, der Rezipient und sein Verhalten, spielt in vielen Beiträgen immer wieder eine Rolle, bleibt aber weitgehend abstrakt (möglicherweise auch mangels empirischer Daten zum Nutzerverhalten). In dieser Hinsicht ist Roberto Simanowskis Beitrag – möglicherweise unfreiwillig – aufschlussreich. Simanowski ruft dazu auf, durch »close reading« der Netzliteratur ihr ästhetisches Recht zu verschaffen, unterläuft diese Forderung aber im Zuge seines Beitrages, indem er sich auf Beispiele beruft, die genau dieses »close reading« unmöglich machen. Andererseits allerdings hat Simanowski durch seine teilweise exzellenten und sehr gründlichen Analysen von Netzliteratur in dem von ihm herausgegebenen Online-Journal Dichtung Digital[3] gezeigt, dass derartige Lektüren notwendig und fruchtbar sein können. Simanowski rückt in diesem Beitrag jedoch davon ab und eröffnet einen impliziten Gegensatz zwischen Lesen und der von ihm schon in seinem Buch Interfictions vorgestellten Grundmerkmale von digitaler Literatur, nämlich der Interaktivität, der Intermedialität und der Performanz. [6] Genau diese drei Elemente zu betonen heißt aber auch, implizit die Frage nach der Lesbarkeit einer literarischen Form zu stellen, die auf Variabilität durch Kommunikation, auf die Verbindung unterschiedlicher Medien und/oder Zeichensysteme und auf Bewegung setzt. Leider bleibt dieser Aspekt zugunsten der Ausarbeitung eines weiteren Terminologievorschlags weitgehend unausgeführt, obwohl gerade die Subversion des traditionellen Leseverhaltens die angeführten Beispiele miteinander verbindet. Die schon erwähnten Beiträge von Philippe Bootz und Jean Pierre Balpe, aber auch die Kritik Marie-Laure Ryans an zu avantgardistischen (und deshalb unter dem Aspekt der Lesbarkeit sperrigen) Experimenten fügen diesem Punkt weitere Perspektiven hinzu, ohne dass jedoch in bezug auf das Nutzer-/Leserverhalten konkretere Schlüsse gezogen oder alternative Konzepte vorgestellt würden. |
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Die Lücken des Netzes |
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Dass dieser Aspekt etwas stiefmütterlich behandelt wird, hängt auch damit zusammen, dass die theoretischen Modelle und Analysen sich hauptsächlich auf Kriterien stützen, die letztlich einer eher traditionellen Auffassung von Ästhetik als Theorie einer autonomen Kunst geschuldet sind. Inwieweit Erzählstrukturen durch das neue Medium verändert werden, welche Folgen die Programmierbarkeit und Veränderbarkeit von Texten für die Darstellungsformen von Literatur hat und wie sich Netz- und Computerliteratur im Verhältnis zu verwandten ästhetischen Phänomenen verhält oder von diesen abzugrenzen ist, das sind die (bestimmt nicht unwichtigen) Themen, die extensiv diskutiert werden. Dazu gehört auch die unvermeidliche Terminologiedebatte (unter anderem thematisiert in der Einführung und in Simanowskis Beitrag, zugespitzt in Frank Furtwänglers kritischer Mikroanalyse des Terminus’ »ergodisch«, der im gesamten Band fröhliche Urständ feiert), [7] deren unverminderte Aktualität deutlich macht, dass die Kriterien der Genre- oder sogar Gattungsbildung noch weitgehend unklar sind. |
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Ein echtes Defizit aber weist der Sammelband bei aller Internationalität, der Bandbreite der Themen und auch der behandelten Beispiele im Feld der Vernetzung auf. Diskutiert wird nahezu nur die Literatur, nicht aber das Netz und seine Implikationen. Dessen Berücksichtigung müsste sich nicht nur auf die soziale Vernetzung durch Computer beziehen, sondern auch die Frage nach Intertextualitätsformen behandeln (wie sie die Projekte von Wardrip-Fruin umsetzen) sowie das in vielen Netzliteratur und -kunstprojekten vorhandene gesellschaftskritische Potential und die selbstreferentielle Reflexion der Möglichkeiten des Mediums. Mit einer einzigen Ausnahme, Friedrich W. Blocks Beitrag zu »Humor – Technology – Gender«, wird dieser Komplex, der dann auch verschiedene Aspekte des User-Verhaltens zu berücksichtigen hätte, nahzu völlig ausgeblendet. Block verweist mit den Beispielen der Installation Die Amme von Peter Dittmer und Cornelia Sollfranks subversiver Aktion Female Extensions, bei der sie durch die Schöpfung multipler weiblicher Identitäten einen Netzkunstwettbewerb mit fiktiven Beiträgen übersäte, auf das ironische und gesellschaftskritische Potential von Computer- und Netzkunst. Überhaupt stellt die Frage des Humors und der Ironie ein insgesamt noch wenig berücksichtigtes Thema in den Untersuchungen zu diesem Feld dar, das dann auch weiter zum Fragenkomplex der politischen Implikationen der (selbst)reflexiven Funktionen von Netzliteratur führen würde, die Gendolla und Schäfer auch in ihrer Einleitung als eine wesentliche Funktion von Literatur generell bestimmen (S. 27). |
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Der Sammelband schließt mit Beiträgen von Laura Borràs Castanyer zum E-Learning und Thomas Kamphusmann zur »Business-Communication«, die beide aus dem durch die anderen Aufsätze aufgefächerten Rahmen herausfallen, dennoch aber ihre Berechtigung haben, weil sie über den ästhetischen Kontext hinaus auf Anschlussmöglichkeiten zu anderen Wissenschaften verweisen, die Bedeutung der vernetzten Kommunikation im Netz unterstreichen und – wie das von Kamphusmann vorgeschlagene Analysemodell von der (real-life-)Unternehmenskommunikation zeigt – Dimensionen ihrer Komplexität ahnen lassen. Susanne Berkenhegers zwischen den beiden Beiträgen abgedruckter humorvoller Selbsterfahrungsbericht über ihre Netz-Autoren-Leser-Existenz und ihren Versuch, durch Provokation Chats literarisch zu gestalten, um daraus schließlich ein akustisches Theaterstück zu machen, bündelt noch einmal aus subjektiver Perspektive die Multiplizität der Rollen, die der User im kommunikativen Raum des Internets einnehmen kann. Implizit wirft sie durch den von ihr praktizierten Medientransfer vom Internet zum Theater zudem die noch näherer Erforschung harrende Frage der Einflussnahme der Netzliteratur auf klassische Literaturformen auf. |
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Quo vadis, Netzliteratur? |
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Trotz der Konzentration auf eher traditionelle literaturwissenschaftliche Fragestellungen ist das Spektrum der lebhaften theoretischen Diskurse und kreativen Vorschläge zur Analyse neuer, auf programmierbaren Medien basierender ästhetischer Phänomene, das der Band The Aesthetics of Net Literature versammelt, anregend und könnte dazu angetan sein, die etwas abgeflaute Diskussion um die computerbasierte Literatur und Poesie (mit Anschlussmöglichkeiten zu anderen Fächern) wiederzubeleben. Alle Beiträge zeichnen sich ausnahmslos dadurch aus, dass sie ihre Thesen entlang der konkreten Phänomene entwickeln. Eine Lektüre sollte daher auch nur mit unmittelbarer Zugriffsmöglichkeit auf Computer und Internetanschluss erfolgen, damit man sich einen Eindruck von den besprochenen Projekten verschaffen kann. |
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Nach der Anfangszeit eher abstrakter Utopien zu den möglichen Implikationen einer digital vernetzten Gesellschaft ist nun offensichtlich eine Phase der Rückbesinnung auf empirische Analysen und fundierte Theorien- und Methodenbildung innerhalb der bestehenden Wissenschaftstraditionen eingetreten, die zwar weniger öffentlichkeitswirksam daherkommt, aber für die Etablierung dieses Feldes im Kontext der Geistes- und Kulturwissenschaften umso wichtiger sein könnte. Dass die Perspektiven noch erweitert werden können, dass es sich eigentlich bei der elektronischen Literatur um ein Feld handelt, das Gattungen und Systemgrenzen zu überschreiten versucht und daher nach interdisziplinärer Forschung von Literatur-, Kunst-, Musik-, Kommunikations- und Sozialwissenschaften, nicht zuletzt auch der Informatik verlangt, zeigt, dass das Thema bei weitem noch nicht erschöpft ist. |
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[1] |
Diese Entwicklung mag unterschiedliche Gründe haben, einer davon ist vermutlich, dass aufgrund der Multimedialität der neuen Medien eine rein sprachbasierte Literatur zunehmend in den Hintergrund rückt.
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[2] |
Man denke an den Pegasus-Literaturwettbewerb, der von der Wochenzeitung Die Zeit drei Jahre lang, von 1996 bis 1998, ausgelobt und entsprechend medienwirksam präsentiert wurde.
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[3] |
Landow 1994: 14, ähnliches findet man auch bei Bolter 1991: 123.
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[4] |
Paradigmatisch für diese Visionen kann Ted Nelsons als ›Megadatenbank‹ geplantes Projekt Xanadu angeführt werden, das möglichst alles jemals Geschriebene dokumentieren und miteinander verlinken sollte, um intertextuelle Bezüge transparent zu machen und die Historizität der Textproduktion offenzulegen, mit freiem Zugang und Schreibberechtigung für jedermann. Inzwischen ist das Projekt auf eine zugangsbeschränkte, kostenpflichtige Datenbank ›eingedampft‹ worden [1].
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[5] |
Vgl. Reither 2003; Funkhouser 2007, die aber beide schwerpunktmäßig die jüngere Geschichte der Vorläufer digitaler Poesie behandeln. Verwiesen sei hier außerdem noch auf die Website von Florian Cramer, die historische kombinatorische und permutatorische Experimente als programmierte Poesie präsentiert [2] und seine noch nicht erschienene Dissertation Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts (Cramer 2006).
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[6] |
Simanowski 2002.
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[7] |
Espen Aarseth, einer der Pioniere der wissenschaftlichen Beschäftigung mit digitaler Literatur, prägte in seinem Buch Cybertexts. Perspectives on Ergodic Literature 1997 den Terminus, mit dem er Literatur bezeichnet, die auf keinem fixierten Textkörper beruht. Es ist überhaupt erstaunlich, dass sich viele Beiträge auf sehr frühe theoretische Studien zur elektronischen Literatur berufen, zwischenzeitlich in der Forschung Geleistetes aber häufig ignorieren.
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