Reinhard Kaiser: Literarische Spaziergänge im Internet. Bücher und Bibliotheken online. Frankfurt a.M.: Eichborn 1996. 192 S. DM 29,80

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Das Buch wird als "Reisebericht" angekündigt, der über die Expedition des Verfassers ins "Netz der Netze" auf der Suche nach "der neuen Bibliothek" Rechenschaft ablege. Die Erwartungen, die diese genregeprägte Ankündigung hervorruft, werden nicht erfüllt; was den Lesern statt dessen geboten wird, scheint zunächst weniger spannend zu sein, wenn auch ebenso lehrreich: ein Kompendium mit zahlreichen kommentierten Internet-Adresssen zum Thema 'Literatur', mit Adressen allgemeiner Nachschlagewerke und Hilfsmittel zum Literatur- bzw. Kulturbetrieb und mit nützlichen Informationen über Suchmaschinen, über die Grundausstattung eines Internet-Zugangs u.a. Man findet also einiges mehr, als der Untertitel vermuten läßt. Die Informationen werden so präsentiert, daß sie auch für Neueinsteiger verständlich sind, da der Autor technisches Vokabular nur sparsam verwendet und meistens kurz erklärt. Spannend wird das ganze dann, wenn man Kaisers Anregungen aufnimmt, selbst auf die Reise geht und die Adressen ausprobiert.

Einleitend gibt sich Kaiser als 'vorsichtig positiv' eingestellter Benutzer des Internet zu erkennen. Er teilt weder die uneingeschränkte Euphorie einiger Befürworter noch die vehemente Ablehnung der Gegner und verweist statt dessen pragmatisch auf Nutzen und Nachteile dieses neuen Kommunikationsmittels für seine Zwecke: Zu den Vorteilen zählen der schnelle und überregionale Zugriff auf Informationen und die Tatsache, daß man im Internet, diesem großen, immer im Bau befindlichen "Basar" (S. 20), mittlerweile zu so ziemlich jedem Thema etwas finden kann. Einer der Nachteile hängt eng damit zusammen: die vielbeschworene 'unüberschaubare Informationsflut'. Sie wird besonders deutlich in den Newsgroups, die insofern 'machtfreie' Foren darstellen, als jeder so viel und so oft zu einem Thema sprechen bzw. schreiben kann, wie er will. Da 'Filter' wie etwa Redaktionen oder übergeordnete Kommentare fehlen, kann jeder Benutzer, je nach seiner Zielsetzung und Schmerzgrenze, selbst entscheiden, was für ihn relevant ist - allerdings muß er sich dazu erst durch die Fülle von Äußerungen hindurchlesen.

Kaisers Buch übernimmt demgegenüber eine solche Filterfunktion: Aus der Fülle vorhandener Internet-Adressen zum Thema 'Bücher', 'Bibliotheken' und 'Literatur' wählt der Verfasser einige aus, die ihm interessant - gut gemacht, informativ oder auch nur kurios - erscheinen. Der Schwerpunkt der aufgenommenen Adressen liegt auf der im Internet nicht gerade breit vertretenen deutschsprachigen Literatur, aber auch exemplarische Adressen anderer Länder, allen voran natürlich des angelsächsischen Sprachraums, werden berücksichtigt. Die Adressen bieten Material für zwei unterschiedliche Typen von 'literarisch Interessierten': für diejenigen, die sich einen Überblick über aktuelle Produktionen verschaffen und evtl. auch als Autoren einen geeigneten Platz für eigene Texte finden möchten, und für wissenschaftlich Interessierte, denen es eher um Möglichkeiten der Informationsgewinnung, um Bibliotheksrecherche und elektronisch verfügbare 'Klassiker' geht.

Kaisers Hinweise erfassen denn auch vier unterschiedliche Gruppen von literarischen online-Texten, von denen die erste dem wissenschaftlich interessierten Netz-Benutzer, die anderen dem 'literarischen Spaziergänger' besonders wichtig sein dürften: (1) Online-Editionen von Klassikern bzw. 'freien' Autoren, also Autoren, deren Werk nicht mehr dem Copyright unterliegt; diese Texte dominieren im Internet, auch wenn gerade im deutschsprachigen Bereich noch das allermeiste fehlt und die Auswahl eher zufällig zustande kommt - abhängig von den Interessenten für einen Autor oder ein Werk. Das "Projekt Gutenberg Deutschland" kann hier stellvertretend für mehrere, auch kleinere Initiativen genannt werden, die literarische Texte elektronisch aufbereiten (nach unterschiedlich 'zitierfähigen' Quellen und in unterschiedlichen Formaten). (2) Online lesbare Versionen von Texten zeitgenössischer Autoren, die zuerst oder zeitgleich in Buchform erschienen sind. Da sich mit Texten im Internet (noch?) kein Geld verdienen läßt, veröffentlichen Autoren, die auf den Buchverkauf angewiesen sind, ihre Texte nur selten vorab oder parallel mit einem im Handel befindlichen Buch. (3) Beiträge zu sog. "E-zines", elektronischen Zeitschriften. (4) Selbständig erscheinende E-Literatur, die sich ihrerseits in zwei Gruppen einteilen läßt: (a) Texte, die formal von gedruckter Literatur nicht zu unterscheiden sind. Die Verfasser nutzen das 'filterfreie' Forum, um überhaupt an ein Publikum zu gelangen - so z.B. in der bei Kaiser nicht erwähnten "Autorenecke", betreut von Karin Klapdor - oder um ihre Texte zur Diskussion zu stellen - z.B. "The Poetry Message Board", wo Autoren ihre Gedichte veröffentlichen und Leser sie kommentieren (erreichbar über "inkspot" S. 104) oder in der äußerst fruchtbaren englischsprachigen Lyrik-Newsgroup "rec.art.poems" (S. 44). (b) Hypertext-Projekte einzelner oder mehrerer Autoren und 'animierte' Literatur, hier vor allem Lyrik. Diese Variante literarischer online-Texte ist sicher der spannendste Bereich von online-Literatur, weil hier das neue Medium kreativ genutzt werden kann - sei es, daß 'nur' die Hypertext-Strukturen eingesetzt werden, sei es, daß die Texte durch Einbinden von Graphiken, Filmen oder Tönen audio-visuell erweitert oder daß - wie im Fall der "Dynadichte" oder "Gedilme" Olaf Kochs (S. 93) - Texte und ihre Erscheinungsformen programmiert werden. Hier gibt es bereits einiges zu entdecken, aber auch noch viel ungenutztes Potential.

Kaisers Erläuterungen und Kommentare der Adressen sind überwiegend beschreibend-informativ, seltener wertend. In einigen Fällen sind sie recht kurz und daher nicht sehr aussagekräftig, meist vermitteln sie aber vorab schon einen guten ersten Eindruck von dem, was den Benutzer einer Seite erwartet. Deutlich wird, daß sich technische Probleme oft mit der Hardware relativieren, die der Benutzer verwendet. So kann die Rezensentin in die häufige Klage des Autors über die Langsamkeit der Übertragung nicht einstimmen: Ausgestattet mit einem ISDN-Anschluß, bauten sich auch die Seiten zügig auf, die Kaiser als besonders schwerfällig kritisiert.

Kaiser kann, wie er selbst einräumt, nur eine Auswahl einschlägiger Adressen bieten, hat aber wohl tatsächlich repräsentative wie exemplarische Seiten erfaßt, auch wenn man bei der eigenen Recherche immer wieder auf Seiten im Internet stößt, die man für mindestens ebenso interessant hält wie die von Kaiser gewählten - gerade im Bereich aktueller Literatur. Zudem entwickelt sich die 'Szene' so schnell, daß es bereits wieder eine ganze Reihe neuer Adressen gibt, die sich aufnehmen ließen.

Damit stellt sich schließlich die Frage nach dem Sinn einer gedruckten Sammlung von Internet-Adressen. Wie Kaiser selbst einräumt (S. 27), kann eine gut gewartete Web-Seite besseres leisten, insofern sie schnell aktualisiert werden kann. Dieser Nachteil einer schnellen Verfallszeit des gedruckten Buches ist nicht von der Hand zu weisen, zumal er leider schon jetzt - nach einem knappen 3/4 Jahr seit Kaisers Aktualisierung im Juni 1996 - spürbar ist: In einigen Fällen waren die Adressen nicht mehr zugänglich (z.B. das "Orakel im Netz", S. 84 oder das "Netville-Bookware-Magazin", S. 98). Einen gewissen Ausgleich für diesen Mangel bieten Kaisers Ergänzungen, die einige Korrekturen und einige neue Adressen enthalten. Der Vorteil von Kaisers Buch liegt aber wohl eher in zwei anderen Möglichkeiten: Es kann literarisch Interessierten, die bislang Berührungsängste vor dem neuen Medium hatten, den Einstieg erleichtern; und die ohnehin aktiven Netz-Benutzer können 'in Ruhe', ohne laufende Gebührenuhr, kompakte Informationen lesen und sichten, bevor sie dann selbst einsteigen, ausprobieren und - z.B. mithilfe der aufgeführten Suchmaschinen - auch neue Wege für ihre eigenen literarischen Spaziergänge im Internet finden.

Simone Winko, Hamburg

Veröffentlicht am 1.3.97