LEIBHAFT VERNETZT - BIS AUF WEITERES VERTAGT ... EIN TAGUNGSBERICHT.

Vom 20. bis 22.3.98 fand in Wildbad bei Rothenburg o.d. Tauber eine Tagung der Evang. Akademie Tutzing mit dem Titel "leibhaft vernetzt - Neue Erfahrungen mit Kommunikationstechnologien" statt. Acht Referentinnen stellten im Laufe dieses Wochenendes acht Aspekte des Internet mit seinen kulturellen, soziologischen, politischen Implikationen in Vorträgen mit anschließender Diskussion vor. Die Kulisse des zur Tagungsstätte umgebauten Sanatoriums der Jahrhundertwende und das naheliegende Städtchen Rothenburg ließen von Anfang an keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Cyberspace mit seinen Disney-World-Realitäten immer auch schon off-line, d.h. immer schon vor dem Bildschirm und ganz 'ohne Netz' zu finden ist.

Anwendungen von "neuen (Kommunikations-)Technologien" präsentierte am ersten Abend der Autor und Audiokünstler Dr. Martin Burckhardt (Berlin). Er kommentierte seine Medienkunst höchst eloquent, erläuterte den 'Schnitt' als Technologie von digitalisierten Klängen als "genetische" und ästhetische Operation (er hatte in einer frühen Arbeit eine "unschuldige" Mädchenstimme, den Tasso rezitierend, sequenziert) und bestätigte wieder einmal die Selbstinszenierung des männlichen Künstlers, der den weiblichen Lolita-Körper, das Pygmalion-Modell und mediale Technologien auf einer metaphorischen Ebene unreflektiert verschaltet und instrumentalisiert. Seine "Versuchsanordnungen" stellen den Menschen als Objekt aus, das (im Sinne von F. Kittler) mit belebten Ton-Maschinen kommuniziert. Mittelpunkt seines epistemologischen Klangraums ist das Hybride, zwar auf die traditionellen Konnotationen der Hybris und der "Mischungen/Kreuzungen" hinweisend, aber letztlich die unrühmliche Karriere des Begriffs in der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts und seine Bindung an den essentiellen biologischen Körper vernachlässigend. Erschreckend dabei seine Definition des Medium-Begriffs: "Der Raum, in dem wir tief verwickelt drinsitzen und das auch in uns drinsitzt."

Aufklärung im besten Sinne versprach nach dieser 'künstlerischen' Einführung der anschließende Fachvortrag von Prof. Dr. Jörg-Martin Pflüger (Bremen), der mit Unterstützung der Studienleiterin der Evang. Akademie, Karin Andert, die Tagung konzipiert und organisiert hatte. Schwierig war bei seinen Ausführungen (wie in dieser Thematik beinahe üblich) der unterschiedliche Kenntnisstand des Publikums. Grundlegende Differenzierungen und dabei zugleich eine historische Perspektive einführend, fokussierte er zunächst das Tagungsthema der "neuen Technologien" auf die Entwicklung des PC und seiner Vernetzung. Eine wenn auch nicht innovative, so doch stringente Struktur seines Vortrags (der Computer als Automat, Werkzeug, Medium) und einige Literaturhinweise legten einen guten Grund für die Vortragsreihe am nächsten Tag.

Dr. Barbara Becker (Bonn) eröffnete den Samstag unter dem vielversprechenden Titel "Inszenierung von Identität in virtuellen Räumen: Imaginäres, Text, Körper" mit einem Einblick in die Welt der MOOs und MUDs. Diese sind virtuelle Räume, in denen die teilnehmenden Subjekte ihre eigene virtuelle Identität entwerfen und mit anderen TeilnehmerInnen plaudernd und spielend in Kontakt treten können. Die primäre Darstellungsform dieser virtuellen Räume erfolgt auf einer textbasierten Oberfläche. In den meisten Fällen, so Becker, wird auf Stereotype bei der Konstruktion der eigenen virtuellen Person zurückgegriffen (z.B. durch die Anlehnung an gängige Schönheitsideale). Einen Grund für die Neukonstruktion der Persönlichkeit in der VR (virtual reality) sieht Becker in der Flucht vor den realen sozialen und körperlichen Gegebenheiten. ("Flucht aus dem Körpergefängnis") Die Referentin stellt des weiteren die Frage, wie sich jene Selbstkonstitution wiederum auf den Subjekt-Begriff auswirkt, wobei hier zwischen dem virtuellen und dem realen Subjekt zu unterscheiden sei. Das virtuelle Subjekt befindet sich in einem ständigen Prozeß der Transformation, so daß es sich in der VR permanent im Akt des Schreibens neu konstituiert. Das Medium und die Sprache prägen dabei die Struktur des Selbstentwurfes, wie man sich dies jedoch vorzustellen hat, blieb offen.

Im Anschluß an Becker versuchte Dr. Gerhard Fröhlich (Linz) einen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Zivilisierung im Sinne von Norbert Elias herzustellen. Fröhlich vertritt die These, daß digitale Technologien neue Formen des von Elias beschriebenen Fremdzwanges erzeugen. Der Mensch am PC ist gezwungen, seine körperlichen Bedürfnisse nach Bewegung und Triebbefriedigung zu unterdrücken, um Effizienz am Computer zu erlangen. Die Abhängigkeit und Disziplinierung, die Arbeiten am Computer mit sich bringen, werden nicht mehr wahrgenommen. Obwohl das Konzept von Fröhlich innerhalb der Kategorien von Elias schlüssig scheint, wurde aber das soziologisch terminologische Dilemma zwischen Fremdzwang und Selbstzwang nicht gelöst, sondern allein in den Bereich der Medien verschoben.
Kurzfristig eingesprungen war Dr. Volker Grassmuck, der über Spiele und Kultur in Japan referierte. Sein Vortrag hängt im Netz und kann dort nachgelesen werden.

Dr. Peter Purgathofer (Wien) beschloß den Abend mit einer Präsentation von zahlreichen Anwendungsbeispielen im Multimediabereich. Von einem elektronischen Kongreß-Guide über die digitale Fotolabor-Software bis hin zu den Spielewelten von Myth und Riven boten die professionelle und sympathische Darbietung viel Anregung zur eigenen Lust an Multimedia-Anwendungen.

Der letzte Tag war den politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Internet vorbehalten. Unterschiedlicher hätten die Positionen der beiden Referenten nicht sein können: Prof. Dr. J. C. Nyiri (Budapest) hob die integrativen und den Nationalstaat auflösenden Tendenzen der Vernetzung hervor, Dr. Lutz Ellrich (Freiburg) zielte auf die ambivalenten Implikationen der vernetzten Gesellschaft vor der Jahrtausendwende ab. Während Nyiri auf die Anbindung und Revitalisierung regionaler Räume via WWW und e-Mail insistierte (sein Beispiel war der virtuelle Student auf dem Dorfe, wie etwa an der virtuellen Universität Budapest, die lokale Gemeinschaften stärken können, machte Ellrich auf die faschistisch geprägte Tradition der "heißen Gemeinschaften" aufmerksam, die Verschwörungstheorien und kollektive Ängsten einen gar nicht zu überschätzenden Vorschub leisten. Völlig unterschiedlich wurden hier auch Konzepte des Subjekts verhandelt, oszillierend zwischen einerseits dem zu entlarvenden Mythos des Users als Einzelgänger - überspitzt formuliert: der Mensch als virtuelles und zugleich authentisches 'Herdentier' - (Nyiri) und andererseits dem Surfer als Subjektivitätskonzept neuer Maskeraden und polyvalenten Identitätsproduzenten, der den narzißtischen Entwurf des New Age der 80er Jahre ablöst.

Insgesamt wäre der Tagung zu wünschen gewesen, daß 1.) Begriff und Tradition des Leibhaft(ig)en von einschlägigen medientheoretischen Körperkonzepten (Baudrillard, Flusser, Turkle, Haraway etc.) differenziert worden wäre, daß 2.) Gesellschafts- und Naturwissenschaften nicht auf von ihnen gerade entdeckte, aber nichtsdestoweniger antiquierte Text-, Schrift- und Literaturbegriffe abstellen, die in ihrer Funktion als das utopische Dritte in dieser Diskussion so nicht mehr haltbar sind, und 3.) daß letztlich auch Konzepte der Subjektivität, Identität oder Individualität nicht einer eindimensionalen unreflektierten Meditation medialer Transformationen preisgegeben werden, sondern gerade in ihrer Vielschichtigkeit und "Modernität" einer intensiven Diskussion bedürfen. Die Frage einer Journalistin: "Was fühlen Sie, wenn Sie vor dem Bildschirm sitzen und sich im Netz bewegen?" kam da als Tagungs-Dreingabe gerade recht. Obgleich die Vorträge zahlreiche Anregungen boten, muß eine weiterführende Reflexion der leibhaftigen Vernetzung auf eine nächste Runde vertagt werden.

Sigrid Nieberle, Margit Roth (München)

sigrini@aol.com
Margit.Roth@lrz.uni-muenchen.de

(6. April 1998)