Chronik der aktuellen Debatte um die Kafka-Manuskripte |
"Liebster Max, meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlaß (...) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka."(FN1)
Bereits die Lektüre dieses Testamentes stellt eine Überschreitung des in ihm formulierten Gebotes dar und spiegelt Kafkas zeitlebens ambivalente Haltung zum eigenen Schreiben. Max Brod entschied sich 1924 gegen die Vernichtung und begann stattdessen sofort mit der Publikation. 1939 rettete er die Manuskripte vor den Nationalsozialisten nach Palästina, 1956 wiederum - angesichts der drohenden Suezkrise - in die Schweiz.(FN1) Von dort holte ihn schließlich 1961 der englische Germanist Malcolm Pasley im Auftrag der Erben nach Oxford. In der Bodleian Library befinden sich heute ca. zwei Drittel des Nachlasses.(FN3) Die anderen Manuskripte sind z.T. im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (so z.B. die "Process"-Handschrift) und in Privatbesitz.
Am 1. Januar 1995, also siebzig Jahre nach Kafkas Tod, wurden die Rechte an seinen Schriften frei, und die Debatte um die Manuskripte begann. Seit 1982 erscheint im S. Fischer Verlag die Kritische Kafka Ausgabe (Herausgeben von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit), die inzwischen bis auf die Brief-Bände, die Hebräisch-Studien und die Amtlichen Schriften Kafkas vollständig vorliegt.(FN4) Mit dem Freiwerden der Rechte wurde auch anderen Verlagen ein Zugriff auf die Texte möglich: der Stroemfeld Verlag kündigte bereits 1995 eine Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte an. Inzwischen ist neben dem Einleitungsband, "Drei Briefe an Milena Jesenská" auch der "Process" erschienen.
Die beiden Ausgaben beruhen auf radikal verschiedenen Editionsprinzipien. Die Kritische Kafka Ausgabe folgt den traditionellen Prinzipien einer Historisch-Kritischen Ausgabe, d.h. Konstitution eines lesbaren, linearen Textes, Trennung von Text und Apparat, vollständige Dokumentation des handschriftlichen Materials und Verzeichnung der handschriftlichen Varianten im Apparatband. Die Frankfurter Kafka Ausgabe, herausgeben von Roland Reuß und Peter Staengle, dagegen veröffentlicht Faksimiles mit einer diplomatischen Umschrift unter Verzicht auf die Konstruktion eines normalisierten Lesetextes. Auf der einen Seite also Transformation der Handschrift in diskrete Zeichen, auf der anderen Seite im technischen Sinn des Wortes Abbildung. Die ganze Spannbreite der Edition ist hier vertreten - für den Literaturwissenschaftler ein weites Erkenntnisfeld.
Doch aus der Konkurrenz der beiden Ausgaben - v.a. um den Zugriff auf die Manuskripte - entstand eine Polemik, die von einer sachlichen Diskussion weit entfernt ist. Die folgende Chronik und Dokumentation zeichnet die aktuelle Debatte um Kafkas Manuskripte nach. Zu wünschen wäre außerdem nicht nur ein sachlicher Vergleich der beiden Ausgaben, ihrer grundsätzlichen Editionsprinzipien und deren theoretischen Implikationen. Auch eine Untersuchung der hermeneutischen Konsequenzen, die sich aus den unterschiedlich "edierten Texten" ergeben, könnte für die Kafka-Forschung von großem Gewinn sein.
02.12.94 Brief von Sir Malcolm Pasley an KD Wolff (Stroemfeld Verlag): Ablehnung der Bitte des Verlags, die Kafka Manuskripte zu reproduzieren (Brief vom 16.11.94). (1)
18.01.95 Brief von KD Wolff an Sir Malcolm Pasley: Sendung des Einleitungsbandes der Frankfurter Kafka Ausgabe(FN5). Bitte um persönliches Treffen und namentliche Nennung der Kafka-Erben. (2)
05.02.95 Brief von Sir Malcolm Pasley an KD Wolff: Ablehnung der Bitte um Reproduktion, erklärt Briefwechsel für beendet. (3)
30.03.98 Brief von Roland Reuß an Sir Malcolm Pasley: Hinweis auf Erscheinen der "Process"-Ausgabe(FN6) und Bitte um Reproduktionserlaubnis. (4)
27.04.98 Öffentlicher Aufruf von Harold Bloom (Sterling Professor of Humanities, Yale University, Berg Professor of English, New York University): Aufforderung an Sir Malcolm Pasley, Reproduktionserlaubnis für die Kafka-Manuskripte zu erteilen. (5)
28.04.98 Öffentlicher Aufruf von Louis Begley (früherer Vorsitzender des Amerikanischen P.E.N.): Unterstützung des Appells von Harold Bloom an Sir Malcolm Pasley. (6)
06.05.98 Artikel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: erste Presse-Reaktion auf öffentlichen Aufruf von H. Bloom und L. Begley. (7)
11.05.98 Brief von KD Wolff an die Bodleian Library: Frage nach Eigentums- verhältnissen der Kafka-Manuskripte. (8)
14.05.98 Brief von Mary Clapinson (Keeper of Western Manuscripts. Bodleian Library, Oxford): Eigentum an den Manuskripten aufgeteilt zwischen der Bodleian und den Erben. Nach der Katalogisierung des handschriftlichen Materials werden Vorbereitungen für eine Faksimile-Edition getroffen, deren Ausschreibung für die Publikation öffentlich erfolgt. (9)
20.05.98 Brief von KD Wolff an Mary Clapinson: Bitte um persönliches Treffen zwecks Diskussion der Reproduktionspläne. (10)
20.05.98 Brief von KD Wolff an die Erbinen (Helena Rumpoltová / Prag, Vera Saudková / Prag, Marianne Steiner / London): Bitte um Gelegenheit zu persönlichem Gespräch. Rechtfertigung gegenüber den in der Presse erhobenen Verwürfen. (11)
19.06.98 Brief von Mary Clapinson an KD Wolff: Reaktion auf Appell des P.E.N.- Zentrums (Ost) (13). Z. Zt. Katalogisierung des handschriftlichen Materials, daher nur Zugang zu einzelnen Manuskripten möglich. (14)
14.07.98 Brief von KD Wolff an Mary Clapinson: Bitte um Treffen zwecks Besprechung des Stroemfeld-Projektes. (16)
07.08.98 Brief von Mary Clapinson an KD Wolff: Erneute Darlegung der Eigentumsverhältnisse. Angebot eines Treffens. (19)
Annette Schütterle (München)
6.10.1998
[Home] [Neuigkeiten] [Zeitschrift] [Internet] [Neue Zeitschriften] [Termine] [CDROM] [Suchen]