»Eigentlich wollte ich nur das Weltall ein bißchen anritzen«

Intra- und intertextuelle Bezüge in Nelly Sachs'
szenischer Dichtung Simson fällt durch Jahrtausende



"Eigentlich wollte ich nur das Weltall ein bißchen anritzen" diese Erklärung, geäußert von der "Frauenstimme, die einmal Delila gehörte" (191, 1 Bild), verweist über den unmittelbaren Zusammenhang hinaus auf die Offenheit aller weiteren Geschehnisse. Die überwältigende Fülle der Ereignisse, Ideen und Verweise, die auf den ersten Blick scheinbar ungeordnet hervorquellen, die LeserInnen gleichsam wie Delila zu überschütten drohen, bilden ein Charakteristikum dieser szenischen Dichtung von Nelly Sachs und gleichzeitig eine Herausforderung an die LeserInnen. Bislang wurde die Auseinandersetzung mit diesem Stück jedoch kaum aufgenommen. Die szenischen Dichtungen von Nelly Sachs fanden im Vergleich zu ihren Gedichten insgesamt sehr wenig Beachtung. Einzige Ausnahme ist Eli, ein Werk das sowohl an mehreren deutschen Bühnen zur Aufführung gebracht als auch als Hörspiel bearbeitet wurde. Die weiteren szenischen Dichtungen hingegen wurden wenig oder überhaupt nicht aufgenommen. So wurde auch das 1959 entstandene Stück "Simson fällt durch Jahrtausende" nur einmal, 1960, als Hörspiel im Süddeutschen Rundfunk inszeniert. 1 Parallel dazu wurden die szenischen Dichtungen auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang wenig beachtet. 2
In diesem Beitrag soll versucht werden, aus den verschiedenen Stränge dieses Stückes eine der möglichen Interpretationen zu erarbeiten, dabei insbesondere den zahlreichen Anspielungen auf andere Texte zu folgen, und auf diese Weise intertextuelle Bezüge als Leitfaden der intratextuellen Zusammenhänge zu lesen.

1 Ein erster Überblick über die szenische Dichtung

"Simson fällt durch Jahrtausende" ist unterteilt in ein Vorspiel und 14 Bilder, die auf verschiedenen Ebenen der Realität das Schicksal Simsons andeuten.
Das Vorspiel nimmt direkt Bezug auf die biblische Erzählung von Simson (Ri13-16), mit dem Schwerpunkt auf der Überwältigung Simsons. Delila schert Simson kahl und beraubt ihn so seiner Kräfte, seiner Einheit mit Gott. (text1) Im ersten Bild wird anschließend deutlich, daß die im Vorspiel angedeutete Geschichte nicht wiederholt sondern vielmehr fortgesetzt wird. In einem "Zwischenreich" reflektieren die Personen des Vorspiels über die Geschehnisse und Handlungen, sie zweifeln an der Sinnhaftigkeit ihrer Taten und staunen über die unerwarteten, weitreichenden Folgen. (text2)
Die 13 folgenden Bilder spielen auf unterschiedlichen Realitätsebenen: die Bilder 2,3,4,5,6,7,8,11,12 zeigen ein Geschehen in der Realität des 20 Jahrhunderts, während die Bilder 3,9,10,13,14 abstrakte Reflexionen zu diesem Geschehen enthalten, jenseits der erfahrbaren Realität.

Eine einfache Einteilung der einzelnen Bilder hinsichtlich der Orte, der Handlung und der handelnden Personen zeigt die Verteilung zwischen abstrakten und reellen Szenen, macht aber gleichzeitig deutlich, daß eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich ist.

Szenisches BildPersonenOrt der Handlung
VorspielDelila, Simson, Fürst, Philister, BäckerNirgendwo-Schatten
1 BildStimmenZwischenreich-abstrakt
2 BildNina, ManesWohnstube
3 BildLastträger, Weib, Greis, Chöre, StimmenNirgendwo-abstrakt
4 BildNina, WerachWohnstube
5 BildManes, Hausierer, RektorSchule, Treppe
6 BildBarbier, ManesBarbiersalon
7 BildNina, ManesWohnstube
8 BildStimmendunkler Korridor
9 BildAusrufer, Lastträger, Tod, eine Alte, Chöre
Stimmen
Fischauktion, gerahmt von wogendem Schlafleib
dunkler Korridor
10 BildManes, Stimmen aus dem PublikumMeerhafter Spiegel
11 BildHausierer, Manes, Stimmedunkler Korridor
12 BildNina, FeuerwehrmannWohnstube
13 Bildeine Alte, AuktionatorMeerlandschaft, Gewitterwolke
14 BildManes, KindMeerlandschaft, Gewitterwolke

Mit dem zweiten Bild tritt die Handlung in unsere Zeit des 20. Jahrhunderts, die Bilder der vordergründigen Haupthandlung zeigen Ausschnitte aus dem Leben des Schuldieners Manes und seiner Frau Nina. Manes, ein großer und überaus starker Mann, der sich in der Vergangenheit als Held erwies - er rettete 37 Kinder aus dem brennenden Schulgebäude - leidet an Fallsucht, Absencen, in denen er sich zurückerinnert an eine unbestimmte Vergangenheit, die es ihm aber erschweren, das Alltagsleben zu bewältigen. Darüberhinaus läßt ihn diese Krankheit für seine Umgebung unberechenbar ja sogar gefährlich erscheinen, ein Prozeß, der Manes immer mehr in die Rolle des Außenseiters drängt. Während Manes trotzdem an seinem Alltagsleben festhalten will, versucht seine Frau Nina gerade diesem Alltagsleben zu entfliehen, sie hofft auf eine bessere Zukunft ohne ihren Mann. Ihre Chance sieht sie darin, Manes in eine psychiatrische Anstalt einzuliefern, ein Vorhaben, bei dem sie von ihrem Liebhaber Werach unterstützt wird. Obwohl es Nina in der Folge gelingt, Manes in eine Klinik einweisen zu lassen, scheitern ihre eigenen Lebensträume.

So weit läßt sich die der offensichtlichste Handlungsstrang dieser szenischen Dichtung zusammenfassen, während sich das Stück darüber hinaus in zahlreichen Bildern, Verweisen und Assoziationen entfaltet, die sich einer schnellen Zusammenfassung entziehen. Besonders die abstrakten Bilder vermitteln Reflexionen, stellen zahlreiche Verbindungen und Anspielungen her, die einerseits den unmittelbaren Zusammenhang aufsprengen andererseits jedoch auch Kontinuität gewährleisten. Wie wichtig es für eine Interpretation ist, diese Verbindungen nachzuvollziehen, wird bereits im Aufbau der szenischen Dichtung dadurch angedeutet, daß sowohl der Beginn als auch das Ende dieser szenischen Dichtung im Bereich der abstrakten Reflexionen liegen - was mit Simson begann endet mit Manes.

Die Frage nach den Beziehungen und Verknüpfungen der einzelnen Bilder der szenischen Dichtung erweist sich als schwierig, obwohl das Stück nicht umfangreich ist. Vor allem auf Grund der komplexen und zum Teil sehr abstrakten Darstellung, der stark assoziativen und sehr bildreichen Sprache, den rasch wechselnden und sich vielfältig überlagernden Bildern und Anspielungen wird es notwendig, die einzelnen Linien und Verbindungen je einzeln herauszufiltern.


2 Computerunterstützte Analyse

Bei der Aufgabe, die vielfältigen Bezüge aufzuzeigen, erweisen sich Computerprogramme als ein wertvolles Hilfsmittel. Sie ermöglichen es, innerhalb kurzer Zeit den Text nach verschiedenen Kriterien zu sortieren, zu gliedern und zu durchsuchen.
Darüber hinaus gewährt der Einsatz von Computerprogrammen eine Beschränkung des "Wissens", das jede/r LeserIn mitbringt, das damit jeden Lesedurchgang bestimmt und in der Folge die Auswahl aus den grundsätzlich möglichen Interpretationen festlegt. Die Daten können mit Hilfe von Computerprogrammen auf dem Hintergrund von genau festgelegtem Wissen in mehreren Untersuchungsschritten analysiert werden, wodurch viele Elemente und Kombinationsmöglichkeiten deutlicher hervortreten. In diesem Interpretationsprozeß bleibt die Rekonstruktion transparent, die Ergebnisse werden für andere nachvollziehbar, kritisierbar sowie interpretierbar.

Die erste Aufgabe für eine computerunterstützte Analyse ist es, die relevanten Elemente und Textebenen zu bestimmen, sowie die Texte aufgrund dieser Entscheidungen mit dem notwendigen Wissen anzureichern.
Wenn es darum geht, Wortfelder und Bilder zu ermitteln, bietet sich das Wort als Einheit für die Untersuchungen an. Häufigkeit, Verteilung und Kombinationen von Wörtern können mit Hilfe von Computerprogrammen schnell und umfassend ermittelt werden und im Anschluß ist es möglich, diese Daten im Hinblick auf die Strukturen und Sinnlinien der szenischen Dichtung zu interpretieren.
Allerdings sind die flektierten Wortformen, so wie sie im Text vorkommen, noch keine ausreichende Datenbasis für eine computerunterstützte Bearbeitung des Textes. Mit Ausnahme von wiederholten Redewendungen und wörtlichen Zitaten läßt die Vielfalt der flektierten Wortformen nur sehr eingeschränkt inhaltliche Zusammenhänge erkennen. Deshalb werden in einem ersten Arbeitsschritt die Textdaten mit zusätzlichen Informationen angereichert, indem zur flektierten Wortform zusätzlich die grammatikalischen sowie inhaltlichen Grundformen hinzugefügt werden.
Jedes Wort bildet somit einen eigenen Eintrag mit folgenden Bestandteilen:

Beispiele des aufbereiteten Textes aus dem Vorspiel:

Referenz WortLemmaSynonym
V_1_R_25 Haupt Haupt Kopf
V_1_DELILA_39 Zieht ausziehen weggehen
V_1_DELILA_40 die der,die,das  
V_1_DELILA_4 Sonne Sonne Sonne
V_1_DELILA_42 aus *ausziehen  
V_1_DELILA_4 seufzen seufzen klagen
V_1_DELILA_49 Asche Asche Staub
V_1_DELILA_83 Kopf Kopf Kopf
V_1_DELILA_87 Brenne brennen brennen
V_1_DELILA_92 versengt versengen brennen


3 Intra- und intertextuelle Beziehungen



Mit dem auf diese Weise aufbereiteten Text ist es möglich, verschiedenste Verbindungen innerhalb des Textes - die intratextuellen Beziehungen - aufzufinden. Besonders Wortwiederholungen treten deutlich hervor, die sich im Anschluß zu Wortfeldern zusammenfassen lassen.

3.1 Intratextuelle Bezüge

Die folgende Grafik gibt einen Überblick über die Häufigkeit der wichtigsten wiederholten Wortfelder in der szenischen Dichtung.



Aus dieser Grafik ist klar ersichtlich, daß zahlreiche Wortfelder bereits im Vorspiel beginnen, d.h. der Anfang wird dadurch betont, daß im Verlauf des Stückes immer wieder darauf zurückgegriffen wird und einzelne Wortfelder weitergeführt werden. Da jedes szenische Bild mindestens vier dieser wiederholten Wortfelder enthält, wird ferner deutlich, daß diese Wiederholungen einen starken Zusammenhalt des Stückes bewirken.

Bevor die Wortfelder im einzelnen betrachtet werden können, ist es notwendig, weitere Leitlinien zu finden, die sowohl eine Auswahl als auch eine Zusammenstellung der einzelnen Wortfelder ermöglichen.

3.2 Intertextuelle Bezüge

Mit dem Terminus "intertextuell" werden die Beziehungen eines Textes zu anderen Texten bezeichnet. Während es in der Theorie der Intertextualität einigermaßen unumstritten scheint, daß die Beziehung zwischen Texten im Mittelpunkt des Interesses steht, so gibt es keinen Konsens darüber, welche Art von Beziehungen unter dem Begriff Intertextualität miteingeschlossen werden sollten. Der Spannungsbogen reicht von Intertextualität als allgemeine Eigenschaft von Texten, als etwas, das jedem Text zukommt, bis hin zur spezifischen Eigenschaft einzelner Texte, d.h. der Begriff wird auf explizite Bezüge zwischen einem Text und bestimmten Prätexten eingeschränkt. 4

Im Folgenden wird die einschränkende Betrachtung für die Textbeschreibung herangezogen, d.h. es werden nicht Beziehungen dieser szenischen Dichtung zu allen anderen Texten gesucht, sondern nur jene zu bestimmten Prätexten. Dabei bieten sich vor allem die Beziehungen zu zwei Texten an: als erstes das lyrischen Werk von Nelly Sachs und als zweites die biblische Erzählung von Simson. 5
Die so ermittelten intertextuellen Beziehungen lassen sich dann als Leitlinien durch das Werk verfolgen.


Die Bezüge zur Lyrik von Nelly Sachs

Die Gedichte von Nelly Sachs bieten einige notwendige Hinweise zu Interpretationen von sprachlichen Bildern und Bildelementen, insofern sich diese innerhalb des Gesamtwerkes von Nelly Sachs "zu absoluten Setzungen mit autonomer Zeichenfunktion" entwickeln. "Als Assoziationssignale vermitteln sie bestimmte semantische Werte, die nicht aus dem jeweiligen Einzelkontext zu erschließen sind".6

Die folgende Grafik zeigt die wichtigsten der übereinstimmenden Wörter der szenischen Dichtung "Simson fällt durch Jahrtausende" und der Lyrik Nelly Sachs'.



Im Hinblick auf eine eigenständige Bedeutung innerhalb des Gesamtwerks von Nelly Sachs seien davon beispielhaft erwähnt:
Fisch: bezeichnet häufig die Opfer, vor allem die stummen Opfer, die ihren Schmerz nicht ausdrücken, oder nicht ausdrücken können.7
Stein: als Aufbewahrungsort von Zeit und Erinnerung 8
Sand: das Geschick der ewigen Ruhelosigkeit 9

Dieser Rückbezug auf die Lyrik von Nelly Sachs läßt vor allem einzelne Bildkombination der szenischen Dichtung verständlich werden.(text3)
Im Hinblick auf größere Zusammenhänge werden hingegen die Bezüge zur biblischen Simson Erzählung besonders wichtig.

Die Bezüge zur biblischen Simson Erzählung (Ri 13-16)

Der Zusammenhang mit der biblischen Erzählung von Simson klingt bereits im Titel der szenischen Dichtung an. Simson, ein israelitischer Held, tritt aus der fernen Vergangenheit heraus und fällt in, oder durch unsere Zeit.
Die zahlreichen Verbindungen zur biblischen Erzählung bieten eine Leitlinie, die es ermöglicht, die zahlreichen Geschehen und Reflexionen in einem Zusammenhang zu lesen

Der Schwerpunkt der biblischen Erzählung von Simson (Ri 13-16), liegt in seinen Auseinandersetzungen mit den Philistern. Diese Kämpfe zeichnen Simson als einen übermenschlich starken, aufbrausenden, jedoch in seinem Wesen direkten Menschen, der mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet ist. Seine Gegenspieler, die Philister, hingegen, verstehen sich auf List, sie suchen die Schwachstellen in Simsons Umgebung, um ihn zu überwinden. Diese Grundelemente der Handlung finden in der Bibel bereits eine Deutung. Hinter Simsons Auseinandersetzungen mit den Philistern steht das rettende Eingreifen Gottes zugunsten Israels durch diesen auserwählten Mann. In Form von Erzählerkommentaren wird diese Interpretation immer wieder den LeserInnen vermittelt.
Wie fast alle biblischen Erzählungen schildern auch diese Texte die Ereignisse sehr knapp und lassen viele Leerstellen offen, die von den LeserInnen je ergänzt werden müssen. Vor allem in Hinblick auf die Beziehungen Simsons zu anderen Menschen sowie zu Gott begnügen sich die biblischen Schilderungen mit der Andeutung einer Rahmenhandlung, während die Gefühlsebene fast vollkommen fehlt. Diese Leerstellen bieten dann auch vorrangig die Freiräume und Ausgestaltungsmöglichkeiten für eine literarische Verarbeitung des Stoffes

Der Vergleich des biblischen Textes mit der szenischen Dichtung von Nelly Sachs beginnt wieder auf der Ebene der Wörter.
Ähnlich wie zuerst bei den intratextuellen Zusammenhängen werden nun beide Texte miteinander verglichen und die Übereinstimmungen aufgelistet.
Die folgende Grafik gibt einen Überblick über die Häufigkeit der wichtigsten gemeinsamen Wortfelder des biblischen und literarischen Textes.



Von der Anzahl der in den einzelnen szenischen Bildern aufgenommenen Wortfelder zeigen sich große Unterschiede, wobei die erste Hälfte der szenischen Dichtung deutlich mehr übereinstimmenden Wortfelder aufweist als die zweite Hälfte. Berücksichtigt man zusätzlich noch die Häufigkeit, mit der die einzelnen Wortfelder auftreten, so tritt dieser Unterschied noch etwas deutlicher hervor. Das Schicksal Simons verschmilzt immer mehr mit dem des Manes und lockert dabei die Rückbindung an die biblische Sprachwelt, führt in anderen Bildern weiter.

Wie sich die Bezüge auf die einzelnen Wortfelder verteilen zeigt die nächste Grafik:



Diese Verteilung der Wortfelder im Text zeigt deutlich, daß der Text dadurch strukturiert wird.
Verbindende Funktion haben vor allem jene Wortfelder, die den Text regelmäßig durchziehen oder Inklusionen bilden, so z.B. "Sonne, Feuer, Löwe, Kind, Liebe, Tod" während andere Wortfelder nur einen Abschnitt des literarischen Werkes prägen, z.B. "Kraft, fesseln".
Die meisten der Wortfelder werden bereits im Vorspiel eingeführt und in den einzelnen szenischen Bildern wieder aufgenommen. Dabei bilden sie selten feste Anknüpfungen, es sind meist assoziative Entsprechungen, angedeutete Parallelen, die die LeserInnen auffordern, die Beziehungen herzustellen.
Die überaus dichte lyrische Sprache bringt kaum zufällige Verwendungen von Wortfeldern, selbst wenn ein sprachliches Bild in einer sprichwörtlichen Redewendung aufgegriffen wird, legt sich das Assoziationsfeld des gesamten Bildes nahe.

3.3 Die Interpretation der Bilder

Für die Interpretation der Wortfelder werden sowohl ihre Verbindung zur biblischen Erzählung als auch ihre spezielle Konnotation im Blick auf das Gesamtwerk von Nelly Sachs herangezogen.
So lassen sich die häufig wiederholten Wortfelder zu fünf inhaltlich-thematischen Bildern zusammenfassen, die die szenische Dichtung prägen: Trotz der verschiedenen Schwerpunkte, mit denen die einzelnen Bilder innerhalb der szenischen Dichtung vorkommen, sind sie nicht in einer logischen Abfolge verteilt, sondern sie sind vielmehr gleichzeitig gegenwärtig als je unterschiedliche Dimensionen des Lebens, der Reflexion. Was im biblischen Text als Erzählung über einen Einzelnen, sein Leben und Schicksal dargeboten wird, wird in der szenischen Dichtung zum Ausgangspunkt nicht nur der Darstellung des Lebens von Manes sondern auch der daran anschließenden Ausweitung hin auf allgemeine Reflexionen.


Bild der Stärke und Einheit

Im Zentrum dieses Bildes steht Simson/Manes selbst, er ist ein "Held", ein "Riese".
Zum Bild der Stärke zählen die Wortfelder: Kraft, Sonne, Löwe, Gold, die stark miteinander verknüpft sind.



Die Verteilung und Häufigkeit,10 mit der die Wortfelder in den einzelnen szenischen Bildern vorkommen, zeigt, daß sich die Bilder der Kraft am Beginn der szenischen Dichtung häufen, schnell schwächer werden, mit dem 7. Bild abbrechen und erst gegen Ende wieder vereinzelt aufgenommen werden.

Sonne
In enger Verbindung zu Simson steht Sonne. Die erste Verbindung stellt die Übersetzung des hebräischen Namens her: "Simson heißt Sonne" (187). Mit dieser Verbindung eröffnet sich gleich zu Beginn des Vorspiels der szenischen Dichtung ein weites Feld an Assoziationen. Der Ursprung der Sonne ist der Kopf Simsons, seine Haare werden seine Sonnenkraft genannt, seine Verbindung zu Gott, Zeichen der Gegenwart Gottes in Simson. Sonne ist sowohl der Name als auch ein Symbol für die Eigenart Simsons, seine Kraft; ihre symbolische Verbindung zu Simson sind seine Haare, gleichzeitig auch Ort seiner Verwundbarkeit.
Das Bild dieser Einheit wird am Ende der szenischen Dichtung im 14. Bild erneut aufgegriffen, hier ist die zerbrochene Einheit wiederhergestellt.
Gold
Eine Assoziation zu Sonne bildet Gold, zum einen als Farbassoziation (Sonne-gelb-strahlend-Gold) zum anderen im Hinblick auf die Wertschätzung. Die Haare, die Sonnenkraft sind Simsons größter Besitz und dafür bekommt Delila Gold angeboten "mit Gold wiegen sie mir deine Haare auf, mit Gold die Sonnenkraft" (187) Delila bricht die Einheit von Simson-Kraft-Sonne auf und eröffnet damit die folgenden Ereignisse.
Auch in den weiteren Szenen wird das Wortfeld Gold/Geld im Zusammenhang mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ein erfülltes Leben, aufgenommen. Im abstrakten dritten Bild erkauft Geld die Möglichkeit zur Flucht zum Leben; in den Bildern 2,4 und 6 träumt Nina von ihrem finanziellen wie sozialen Aufstieg. Geld/Gold zu besitzen eröffnet die Möglichkeit "stark" zu sein, das Leben zu gestalten.
Löwe
Auch der Löwe gehört in das Assoziationsfeld der Stärke. Er ist selber ein Symbol für Stärke, und seine Überwindung zeugt weiters von der Stärke Simsons. Darüberhinaus erinnert seine Erscheinung - er große Kopf mit der Mähne, die Farbe des Fells - an die Sonne, Delila nennt ihn die "brüllende Sonne" (187) und betont damit den Zusammenhang dieses Bildes.

Kraft
In den realitätsnahen Bildern der szenischen Dichtung wird die Stärke des Schuldieners Manes direkt angesprochen, er erscheint als "Riese" mit "Riesenkräften" (text4)



Bild der Entkräftung

Im Zentrum dieses Bildes steht Delila, die Übersetzung ihres Namens bedeutet "Kräfteverminderin" 11 Auch bei ihr ist ihr Name eng verknüpft mit ihrem Wesen.12

Zu diesem Bild zählen das Abschneiden der Haare, das Binden mit Stricken, und das Angeln sowie die sehr direkten Hinweise des Wortfeldes töten/sterben.



Die Verteilung dieser Wortfelder zeigt einen Schwerpunkt zu Beginn der szenischen Dichtung und einen zweiten in den szenischen Bildern 6 und 7 und deutet damit an, daß sich hier etwas wiederholt.
Abschneiden der Haare
Wie die biblische Erzählung so erzählt auch das Vorspiel der szenischen Dichtung von der Entkräftung Simsons dadurch, daß Delila seine Haare abschneidet.
In der Beziehung zwischen Manes und Nina bezeichnet im 6. Bild das Haareschneiden ebenfalls einen Wendepunkt. (text5) Was zuerst ein ganz "normaler" Besuch beim Barbier erscheint, gewinnt im Verlauf des Dialogs zwischen Manes und dem Barbier immer mehr zeichenhafte Bedeutung.
"Was reden Sie da--Ihre Stimme klingt so schwach
Wenn ich recht verstehe wollen Sie Ihrer Frau die
abgeschnittenen Haare schenken--" (211)
Dieser Besuch beim Barbier erweist sich im 7. Bild dann deutlich als Akt der Entkräftung, Manes verzichtet auf Ninas Wunsch hin auf seine Kraft. (text6)

Noch einmal wird im 9. Bild das Haarschneiden aufgenommen, diesmal als Geste, während die verbale Äußerung sich auf das Schicksal der Fische - "der Opfer" bezieht.Das Haareschneiden wird hier deutlich im Zusammenhang mit gewaltsamer Überwindung gebraucht. Das Einzelschicksal tritt dabei in den Hintergrund und wird ausgeweitet auf das Schicksal von vielen, den schweigenden Opfern.

LASTTRÄGER
Er macht mit der Hand eine Bewegung des Haarschneidens:
Deine Schürze ist blutig
vom Schweigen der Fische--
ALTE
Alles Schweigen blutet-- (222)

Am Ende desselben szenischen Bildes wird das Bild "Haar" nocheinmal in einer sprichwörtlichen Redewendung aufgegriffen.
AUSRUFERSTIMME
Nun reiße ich die Verbindung ab
hing nur an einem Haar (224)

Innerhalb des Bildes der Entkräftung fügt sich auch dieser kurze Ausruf ein, nicht nur sprichwörtlicher sondern auch "wörtlich" Gebrauch im Sinne der Bildwelt der szenischen Dichtung, die Haare sind Simsons Verbindung zu seiner Stärke, seinem Gott.


Binden mit Stricken
Auch dieses Bild ist bereits in der biblischen Erzählung eng verknüpft mit der Überwindung Simsons, vor allem mit den verschiedenen Versuchen, ihn zu bezwingen (Ri15,9ff; 16,4ff).
Dieses Geschehen findet bereits Eingang in das Vorspiel und wird später im 5. szenischen Bild, im Dialog des Hausierers mit Manes, erneut aufgegriffen. Ähnlich wie bei den Versuchen in der biblischen Erzählung, Simson zu bezwingen, geht es hier um die Frage, ob Manes die Stricke des Hausierers zerreißen kann.
MANES
Er befühlt die Stricke:
Möchte wohl mal probieren, ob die so unzerreißbar sind.
Knote mir die Hände gut - Wir wollen sehn - (207)

Während im 5. Bild nicht berichtet wird, wie dieser Versuch endet, findet sich später im 7. Bild rückblickend ein Hinweis darauf. Manes versucht das Vertrauen Ninas wieder zu erlangen und ihr die zerrissenen Stricke zu erklären:
Laß dir doch nicht Angst machen von zerrissenen Stricken
Das sind so dumme Kunststückchen aus Straßenstaub
gemacht (216)

Die übertragene Bedeutung von binden und gebunden sein, angewandt auf den zwischenmenschlichen Bereich, kommt im 7. Bild zur Sprache. Was in der biblischen Erzählung angedeutet wird, als Delila Simson darum bittet, sich ihr anzuvertrauen, d.h. auch sich an sie zu binden, wird im 7. Bild explizit reflektiert. Wie Simson entscheidet sich auch Manes dafür, sich der Frau anzuvertrauen, sich "binden" zu lassen.
Eine noch allgemeinere Reflexion findet sich bereits im 3. Bild, hier wird im sprachlichen Bild von Knoten schlingen und lösen, Sinn und Zweifel des Lebensweges angedeutet.(text7)


Angeln
Dieses Bild der Entkräftung, Überwältigung ist eng verbunden mit dem Bild der Fische - der Opfer. Bereits im Vorspiel benennt Delila ihre Handlung in diesem Bild: "mit Angeln ziehe ich die Kraft aus deinem Haupt" (187) und stellt so die Verbindung zur Entkräftung explizit her.
Verstärkt aufgenommen wird "angeln" dann im 9. Bild, im Bild der Fischauktion. Hier lautet bereits die Regieanweisung "ein Schattenbild im Hintergrund, wo ein Köder (Manes) am Angelhaken ins Wasser geworfen wird", und auch bei der Beschreibung der Opfer wird das Angeln angesprochen: "diesen Dorschkopf .... wurde geangelt mit dem Dorn der Erinnerung" (222)


Bild der unbeherrschten Kraft

Aus der Entkräftung folgt in der Bildersprache der szenischen Dichtung nicht nur ein kraftloser Zustand, es wird auch eine nun ihres Zusammenhangs entrissene Kraft freigesetzt, die unbeherrschbar ist.
Zu diesem Bild zählen die Wortfelder: Feuer, fallen, Bienen




Feuer
Im biblischen Text ist Feuer eine Bedrohung, eine von Menschen eingesetzte Waffe - Simson verbrennt die Felder der Philister, diese verbrennen seinen Schwiegervater, seine Frau, deren Haus (Ri 15). Von einer Feuerkatastrophe wird auch in der szenischen Dichtung berichtet, es ist Manes, der 37 Kinder aus dem brennenden Schulhaus rettet. Neben dieser reellen Dimension des Feuers, das verzehrt und immer zu einem gewissen Grad unbeherrschbar ist, kommt in der szenischen Dichtung eine symbolische Dimension hinzu.
Im Vorspiel sind es die Haare Simson, die, nachdem Delila sie abgeschnitten hat und sie sich für Gold aufwiegen lassen will, von selber zu brennen beginnen und sogar noch Delila in Brand setzen(Vorspiel, 190).
Besonders deutlich wird der Aspekt des Verzehrtwerdens wird im abstrakten 3. Bild. Der Lebenszustand einer jungen Frau, vor dem sie flieht, wird als "brennen" beschrieben. (text8)
Ebenso sagt Nina gleich im nächsten szenischen Bild von sich selbst "Ach - wie ich brenne - " (205) In dieser Verwendung reicht das Bild nah an die Bilder der Sehnsucht heran, das verzehrende Brennen ist die negative Kehrseite der Sehnsucht, zugleich eine unbeherrschbare Begleiterscheinung des Schwach-seins.
Verstärkt ist dieser unkontrollierbar Zustand in Manes vorhanden, seinen unbeherrschbaren Zustand beschreibt Nina folgendermaßen:
"Seitdem er die sechste Klasse aus der Feuersbrunst rettete
37 Kinder--alle herumirrend wie die Wespen--
seitdem schlagen ihm die Flammen aus dem Kopf.
Seine Riesenkraft sitzt nun in seinem Kopf" (203)

fallen
Bereits im Titel der szenischen Dichtung findet sich der Hinweis auf "fallen". Am Ende des ersten Bildes, im Anschluß an die Reflexionen, beginnt dieser Fall:
STIMME die einmal Simson gehörte:
Ich falle--ich falle
Jahrtausendbäume biegen sich
mit Sonnenlaub--
Ich falle durch Schlafwasser
Mein Leib ist nur ein Blitz--ein Schrei . . . (193)

Damit wird angezeigt, daß dieses Schicksal Simsons weitergeht, durch die Zeiten hindurch. Das Fallen wird in den weiteren szenischen Bildern zum Schicksal des Manes, das in seiner Krankeheit, der Fallsucht, zum Ausdruck kommt. Unbeherrschbar und unberechenbar überkommen Manes diese Absencen.
So beschreibt auch Nina diese Krankheit:

NINA
...Wenn's noch eine andere Krankheit wäre,
so eine reelle--Lungen--Nieren--Herz--Blinddarm, das
ist zu operieren--
aber Fallsucht--
da ist keine Ordnung drin (4 Bild, 201f)

Was lange wie eine unüberwindbare Behinderung aussieht, versucht der Hausierer im 11. Bild
nutzbar zu machen, er will Manes in einem Zirkus unterbringen, und das "Fallen" in einer geplanten Show ausnutzen.

HAUSIERER
Du bist gar nicht krank Manes--das bißchen Verrücktheit
findet guten Platz auf einem Elefantenrücken. Sie legen sich
auf einen Wink und du fällst auf eine Gewitterwolke nicht
viel härter jedenfalls. Das Publikum aber stirbt vor Begeisterung .... (11 Bild, 230)
Auch wenn dieser Vorschlag ungenutzt bleibt, hier zeigt sich erstmals die Möglichkeit einer Wende: vom passiven Fallens hin zu einer aktiven, geplanten Tätigkeit.

Bienen
In der biblischen Erzählung entwickelt sich im Kadaver des von Simson erschlagengen Löwen ein Bienenvolk, eine zahllose Menge.
Im Bild der Bienen wird neben der unberrschbaren Menge der "Bienen" mit ihrem Produkt, dem Honig, der vielleicht einzige Ertrag der Entkräftung angedeutet. Bereits Simson nahm sich vom Honig aus dem Löwenkadaver (Ri 14,5-9), darauf verweist Delila im Vorspiel der szenischen Dichtung. Mit Bezug auf die biblische Erzählung wird jedoch deutlich, daß dieser Honig, der aus dem unreinen Kadaver stammt, nicht unbedingt positiv zu bewerten ist, zumal er streng genommen für den biblischen Simson, als Nasiräer, unantastbar sein hätte müssen. Es bleibt ein fragwürdiger Ertrag. Darauf wird im 3. Bild angespielt:
Bienen-Waben bilden
Summen - Summen -
Honig produzieren aus Wunden (3 Bild, 200)

und im 13. Bild steht der Honig, ähnlich den Fischen, als abstrakter Ertrag dem unstillbaren Hunger der "Weltgeschichte" zur Verfügung.



Bild der Schwäche, des Besiegt-seins

Zu diesem Bild gehören die Wortfelder Tod, Nacht, vergessen, Fisch
sowie das Bild der ausgebreiteten Arme.




Die Verteilung der Wortfelder zeigt, daß der Schwerpunkt der Bilder der Schwäche in den abstrakten szenischne Bildern, Bild 3 und 9, liegt. In diesen Bildern wird das Schicksal Simsons, aber auch das der Opfer allgemein, verstärkt reflektiert.
Nacht
Nacht steht für das Schicksal Simson, Nacht ist der Bereich, in den er von Delila gestürzt wird, der ihn umschließt. In der biblischen Erzählung kommt dies mit dem "Blenden" Simsons zur Sprache (Ri 16,21), der besiegte Simson ist schwach und blind. Ein Anklang an das Blind-sein findet sich in der Reflexion des 9. Bildes, hier ist es "ein Dorschkopf mit zwei blinden Perlenaugen"(222), der die Assoziation zu Simson entstehen läßt.
Im Vorspiel wird der Zusammenhang zwischen der Auslieferung Simsons durch Delila und der Nacht als Bereich seines Besiegtseins explizit deutlich gemacht im einzigen Zitat, das die szenische Dichtung dem Bibeltext entnimmt."Philister über Dir" ruft Delila dreieimal aus, beim drittenmal fügt sie noch hinzu "Nacht über dich"(187) Diese Nacht wird im folgenden verknüpft mit einer materiellen Vorstellung "ein Stück aus seiner Nacht hat mich getroffen" - schreit ein Kriegsknecht im Vorspiel.
Für Manes ist die Nacht sein Lebensbereich, der sich ihm nur manchmal öffnet: "Die Wände der Nacht weichen zurück--" (5Bild, 208), oder Nina beschreibt, wie Manes mit " ausgebreiteten Armen in die Nacht" (4 Bild, 203) fällt.


Vergessen
Auch dieses Wortfeld ist deutlich mit einer Variation des bereits oben genannten Zitats an dieses bild angeschlossen: "Vergessen über dir" (9 Bild, 224). Vergessen ist der letzte Bereich des Besiegtseins, ausgelöscht sein selbst aus der Erinnerung.
Bei der abstrakten, verallgemeinernden Reflexion des 9. Bildes, des Fischmarktes, werden entsprechend "verweinte Mäuler aus dem Meer der Vergessenheit"(220) zum Verkauf angeboten.

Fisch
Fische finden sich als Bild für die Opfer vor allem im 9. Bild, dann erneut im 13. Bild. Eng damit verbunden ist die Figur einer Alten, die zusammen mit ihrem Kätzchen durch die Zeit schreitet, sie je kommentiert, und die die Opfer - die Fische - immer ihrer Katze als Futter gibt. Diese Szene deutet nur an, wieviel an stets gleichbleibendem Leid sich im Lauf der Geschichte ständig wiederholt.

EINE ALTE humpelt, von einer Katze gefolgt, der sie
Fischköpfe gibt:

Friß mein Kätzlein, friß
Meine Schürze ist blutig
vom Schweigen der Fische
Alles Schweigen blutet-- (221)

die ausgebreiteten Arme
Ausgebreitete Arme finden sich fast ausschließlich als Beschreibung einer Körperhaltung, meist in den Regieanweisungen: eine Gestalt liegt am Boden, mit ausgebreiteten Armen. (text9)
Der explizite Verweis zu "gekreuzigt" wird erstmals im 4. Bild von Nina hergestellt:
NINA nachdenklich:
... fällt mit ausgebreiteten Armen in die Nacht
gekreuzigt von der Luft
speit Schaum aus unsichtbarem Meer
Augen einem anderen Himmel zugedreht-- (203)

und noch einmal im 10. Bild von Manes in einer Gestik, die als "Gekreuzigt" beschrieben.
Hier gehen die biblischen Assoziationen über den Text von Ri 13-16 hinaus und weisen auf Jesus als eines der Opfer.

Im 14. Bild allerdings wird dieselbe Gestik auch aktiv verwendet. Mit ausgebreiteten Armen ruht Manes auf einer Gewitterwolke und greift nach den Blitzen (237), die Passivität ist hier am Ende überwunden. Ganz ähnlich der biblischen Erzählung, Ri 16,29f, als Simson zwischen den Säulen des Tempels stehend, sich mit seinen Armen rechts und links gegen diese stemmt und zum Einsturz bringt.


Bild der Sehnsucht und der Hoffnung


Dieses Bild schließt den Zyklus und bildet einen Gegenpunkt zu den Bildern des Besiegtwerden und der Niederlage. Zumindest in der Sehnsucht gibt es eine Rückkehr zu den Bildern der Stärke und Einheit.
Zu den Bildern der Sehnsucht und der Hoffnung gehört die Suche nach Identität, das Wortfeld Liebe, erinnern, die Hoffnung auf ein Kind und die Suche nach Gott.



Suche nach Identität
Die Suche nach Identität wird gebildet von den Wortfeldern: fragen, Spiegel

Am Beginn der szenischen Dichtung werden vor allem Fragen an die Identität Simsons gestellt.
DELILA
O diese Finger,
dieser rätselhafte Leib
an den ich Fragen stellte wie an einen Toten
der niemals Antwort gibt-- (Vorspiel, 188)

Die Reflexion Delilas im 1. Bild steht in diesem Zusammenhang, weitet das Objekt des Fragens jedoch noch weiter aus.
FRAUENSTIMME die einmal Delila war:
Eigentlich wollte ich nur das Weltall ein bißchen anritzen
mit meiner Fragerei, eine Luke aufkratzen
denn die Neugier plagte mich arg--hinter die Kraft zu gucken--
Was sah ich--Schwäche--Asche-- Krähenfutter- (1 Bild, 191)

Ebenso wie an Simson werden an Manes wegen seiner Andersartigkeit häufig Fragen gestellt. Auch sein Handeln, sein Wesen scheint der Umgebung rätselhaft zu sein. Werach (4 Bild), der Hausierer, der Rektor (5 Bild), sie alle versuchen sich ein Bild von Manes zu machen.

Das Wortfeld Spiegel reiht sich in dieses Bildfeld ein, die Reflexion im Spiegel ermöglicht es den BetrachterInnen, sich selbst zu erkennen. Besonders deutlich wird dies erneut im Vorspiel, als Simson in einer Kupferscheibe sein Spiegelbild erblickt und dadurch seine neue - schwache - Identität erkennt.
DELILA
Sieh dich in der Kupferscheibe an !

SIMSON
Träume ich--kahl--bin ich mein eigner Urahn schon
geworden? (188)

Das eigene Spiegelbild wird am Ende der szenischen Dichtung im 12. Bild für Nina wichtig. Es bildet eine Stück ihrer Identität, von der sie sich verabschieden will.
FEUERWEHRMANN
Zögern Sie doch nicht--Laß fahren Lieb laß fahren--
Was--auch noch dem Spiegelbild Gute Nacht sagen (233)

Verstärkt aufgenommen wird das Bild des Spiegels im 10. Bild, hier fordert bereits die Regieanweisung: Bühnenbild: Nichts als spiegelnde Fläche. Meerhafter Spiegel.
Manes, mit dem Rücken gegen den Zuschauerraum, sieht die Zuschauer gleichsam hervorwachsen im Spiegel.
"
In diesem szenischen Bild ist es Manes, der Fragen an die Zuschauer stellt, der deren Identität aufdeckt, erst am Ende wird dieses Rollenverhältnis durch eine Anfrage aus dem Zuschauerraum wieder geändert, und erneut steht die Identität Manes in Frage:

GREIS aus dem Publikum:
Mein Herr, Sie werfen hier Fragebomben
gerade ins Angesicht des Publikums.
Ich aber frage Sie:
Haben Sie einmal daran gedacht
daß David doch der Liebling seines Herrn war
trotz der Uria-Geschichte
trotzdem er begehrte das Weib seines Nachbarn
Sie gebar ihm dazu noch Salomon--
auf diesem Zweig sang das Christkind--
Aber Sie--Sie sind wahrscheinlich nicht
der Liebling Ihres Herrn
Fallfrucht--ha--ha-- (228)

Mit der Erwähnung von König David und Jesus, der aus diesem Geschlecht stammt, wird Manes in Frage gestellt, wer im Vergleich dazu ist Manes? Verstärkt wird dies weiters durch die Anspielung auf das Fallen als Fallfrucht und den damit verbundenen negativen Konnotationen.

erinnern
Erinnern ist in der szenischen Dichtung keine Tätigkeit, die auf Ereignisse der nahen Vergangenheit verweist, sondern bezeichnet ein weit ausholendes Zurückgreifen in die Geschichte, es überbrückt Jahrtausende. So schildert z.B. Nina das Verhalten Manes'

NINA abwesend:
Zuweilen ist es, als rücke er Jahrtausende wie Bäume fort
schaut sich um--weit zurück-- (4 Bild, 204)


Diese Bewußtseinsentrückung ist eng verbunden mit der Fallsucht, sie markiert einen Grenzbereich der Realität, in dem sich Manes an einen Urzustand erinnert. Dieses Erinnern erweist sich als rückwärtsgerichtete Sehnsucht in der momentanen, hoffnungslosen Lebenssituation. (5. Bild)
Ähnlich zeigt sich die Situation im 8. Bild, der psychiatrischen Anstalt. Die Patienten dort teilen alle diese Art der Erinnerung, sie erinnern sich an ihre biblische Vergangenheit.

EINE STIMME
Ich bin die Posaune von Jericho
Erinnere mich ganz deutlich an den Garten Eden
das war die helle Unwissenheit--

ZITTERNDE GREISENSTIMME
...ich bin blind--Darum erinnere ich mich an Simson
drehe die Mühle-- (218)

Diese Äußerungen, die das Leben im Krankenhausalltag andeuten, gewinnen ihre Wirkung aus der Unterscheidung "verrückt - normal", die jedoch nicht lange aufrechterhalten sondern deren Relativität deutlich gemacht wird.

EINE STIMME
Arzt im weißen Rock
du willst daß wir uns an vorgestern erinnern
aber wir--wir erinnern uns an Gott-- (218)

Diese Erinnerung an den Urzustand, die Verbindung zu Gott und zu einer verlorengegangenen Einheit, ist es, die von der Gesellschaft als "verrückt" erklärt wird. aus der Perspektive der Betroffenen jedoch bezeichnet es den Zustand ihrer Sehnsucht.


Liebe
Bereits in der biblischen Erzählung fällt auf, daß - gemessen an biblischen Erzählungen - oft von der Liebe Simsons die Rede ist (Ri 14,16; 16,4.15). Unter Berufung auf seine Liebe fordern Simsons Frauen, daß er sich ihnen anvertraut, ihnen seine Geheimnisse kundtut; und jedesmal erfüllt Simson diesen Wunsch. Dies bildet einen sehr deutlichen Hinweis darauf, wie sehr Simson diese Zuneigung erstrebt. In der Darstellung der biblischen Ereignisse im Vorspiel der szenischen Dichtung verweist zwar nichts auf Liebe, in den weiteren Bildern ist Liebe jedoch ein wesentlicher Aspekt der Sehnsucht des Manes: ...es ist die Liebe um die es geht. (10 Bild, 229)
Manes ringt um die Liebe und Zuneigung Ninas, die er allerdings nicht bekommt.(text10)
Im Vergleich mit der biblischen Erzählung fällt neben der Parallele Simson-Manes auch die zwischen Delila und Nina auf: Nina ist wie Delila Zentrum des Liebens andere, Manes und Werach lieben sie, von ihr selber hingegen wird nirgends ausgesagt, daß sie liebt.
Darauf spielt m.E. auch die Anrede des Feuerwehrmanns im 12. Bild an, als alle Hoffnungen Ninas - wörtlich in der Sintflut - unterzugehen drohen:
"Zögern Sie doch nicht -- Laß fahren Lieb laß fahren --" (233 )
dies umgangssprachliche, oberflächliche Anrede drücken etwas von dem aus, was aus der geliebten Frau geworden ist.

Kind
Im Bild des Kindes kommt sehr deutlich die Sehnsucht, aber auch die Hoffnung zum Ausdruck. Dieses Bild bildet eine Inklusion: es steht am Beginn der biblischen Erzählung - jedoch zeitlich vor jenen Ereignissen, die in der szenischen Dichtung aufgenommen werden - und verstärkt am Ende der szenischen Dichtung. Die biblische Erzählung beginnt mit der fast erloschenen Hoffnung eines alternden Ehepaars; göttliches Eingreifen ist notwendig, bevor Simson geboren wird - er ist die Hoffnung und Sehnsucht seiner Eltern (Ri 13). Ähnlich wird das Kind Ninas zur Hoffnung für Manes, und dieses Kind ist es auch, das am Ende erkennt, daß Manes seine Einheit wiedergewonnen hat:
DAS KIND
Laß doch rollen Vater
Ich werf dir den Ball wieder hinauf
So spielen wir--
Mir war so langweilig im Bett
alles schwarz zugeklebt
aber du liegst in der Sonne
die geht aus deinem Kopf--rot--grün--gelb-- (14 Bild, 238)

Gott
In der biblischen Erzählung steht Gott hinter allen Geschehnissen, er ist es, der Simson lenkt, ihm seine Siege über die Feinde gewährt. Dies ist die Interpretation, die den LeserInnen in Form von kommentierenden Erklärungen immer wieder von seiten der Erzählstimme nahegelegt wird.
In der szenischen Dichtung finden sich ebenfalls zahlreiche Verweise auf Gott, jedoch gibt es kein so einheitlich, in sich geschlossenes Bild von Gott. Die zahlreichen Verweise auf ihn, lassen seine Existenz, seine Größe nur erahnen. Im Vorspiel zeigt sich Gott in Parallele zur biblischen Erzählung als naher, im Menschen Anwesender Gott. Delila verweist auf den Gott Simsons als brennbaren, versengenden Gott, als einen Gott, der seinen Sitz in Simson hat, wobei diese Einheit auch zerstört werden kann.
In den weiteren Bildern zeigt sich Gott als Geheimnis, so z.B. im 3. Bild:
STIMME AUS DER ECKE
Die Welt ist voller Zeichen.
Diagramme im Sand, Tetragramme--vier Buchstaben die
vor Geheimnis lodern. (196)

Dieser Gott bleibt jedoch nicht auf Simson noch auf Menschen beschränkt, er kann vielmehr überall sein:
CHOR DER TOTEN
Sand, Muschel, Meer
Fischblut, Fischblut
Alles Gehäuse für das Geheimnis-- (9Bild, 221)

4 Die thematischen Schwerpunkte der szenischen Bilder

Nachdem die Wortfelder und Bilder einzeln besprochen wurden, läßt sich die Frage nach dem Gesamtzusammenhang dieser szenischen Dichtung stellen. Der bereits eingeschlagene Versuch, die szenische Dichtung entlang eines Vergleichs mit dem biblischen Text zu verstehen, wird im folgenden beibehalten.

Übersicht
szenisches BildThema
VorspielDelila bricht die Einheit "Simson-Gott" auf
1 BildReflexion der "großen" Taten
2 BildSehnsucht nach Leben
3 BildSehnsucht nach Leben
4 BildWer ist Manes?
5 BildWer ist Manes?
6 BildSehnsucht, Selbsthingabe
7 BildSehnsucht nach Leben im Widerstreit
8 BildErinnerung
9 Bilddie Opfer
10 BildAktualisierung
11 BildAufforderung zur Zukunft
12 BildScheitern
13 BildAufforderung zur Zukunft
14 Bildwiedergefundene Einheit


Die szenische Dichtung beginnt und endet in einem Bereich jenseits der erfahrbaren Realität, diese Welt ist nur in Trance und bewußtseinsüberschreitender Erinnerung möglich. Im Vordergrund steht die Gegenwart, deren Bewältigung im Streben nach Liebe und Anerkennung, mit der Erfahrung der Enttäuschung und Auslieferung. Diese Erfahrungen werden häufig reflektiert, vor allem anhand der Parallele zur biblischen Erzählung von Simson. Nachdem das Vorspiel diesen Prätext explizit aufnimmt, setzt das 1. Bild mit den Reflexionen dazu die Geschehnisse der folgenden Bilder in Gang.
Das 2. Bild zeigt am Beispiel des Alltags von Nina ihre Unzufriedenheit und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben. Ausdruck ihrer Sehnsucht sind u.a. ihre Übungen, ihren Körper schön zu erhalten und begehrenswert zu sein
NINA
Sie stellt das Grammophon an:
Meine Übungen--eins und zwei und drei
Leichter werden--leichter werden--
Auf und ab... (194)

Manes hingegen scheint ohne große Hoffnung, seine Philosophie ist es, das Leben zu ertragen "manchmal glaube ich, wir müssen diesen dicken Felsen durchschmerzen - bis wir durch sind - dann tagt es" (195) Das Thema der Sehnsucht nach Leben wird im 3. Bild aufgenommen und in einer abstrakten Szene reflektiert. Inmitten einer irrealen Landschaft und Gesellschaft zeigt diese Bild eine junge Frau, die zum Leben drängt, während ein Greis alles einsetzt, seinen Weg zum Tod zu vollenden.
Das 4. Bild wechselt zurück zu Nina, sie erwartet ihren Geliebten, Werach, aber ihr Denken und Reden beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Frage "wer ist Manes?". Werach nimmt an diesen Überlegungen nur insofern Anteil, als er ein Ziel verfolgt, er will Nina für sich, und dazu unterstützt er Nina bei ihren Überlegungen, sich von Manes zu trennen. Die Frage nach dem Wesen Manes' wird im 5. Bild fortgesetzt. Diesmal steht Manes' im Zentrum des Interesses des Hausierers sowie des Rektors, seines Vorgesetzten, für sie erscheint Manes unter dem Aspekt des Bedauerns. Der Hausierer hat Verständnis für die Krankheit, der Rektor hingegen sieht nur den großen und starken Mann, der seine Stärke nicht mehr effizient einsetzen kann
REKTOR
Ja solche Leute gibt es--hat es immer gegeben.
Aber schade um Ihren kraftvollen Körper
der anderen Dienst auf Erden tun könnte
Man sah ja was er leisten konnte unter der Feuersbrunst
Immer durch die Flammen--und wieder durch die Flammen--
Ein ganzes Heer von Helden steckt in diesem Körper (208)

Das 6. Bild zeigt die Reaktion des Manes auf die ständig erfahrene Ablehnung. Er ist darum bemüht, sich anzupassen, und somit die Zuneigung Ninas wiederzugewinnen. Während der Barbier Manes ganz als Kunden betrachtet, der "schmuck sein" will, ist es für Manes ein letzter Versuch, sich an Nina zu binden. daß dieser Versuch fehl schlägt, wird gleich anschließend im 7. Bild deutlich. Nina löst sich von Manes, sie ist entschlossen dazu. Manes sieht sein Schicksal, freiwillig gab er seine Kraft auf und erkennt sich nun schwach und ausgeliefert, ausgedrückt in einer deutlichen Anspielung an den biblischen Text:
MANES geisterzarte Stimme:
Ich wollte dir nur sagen, Nina
daß die Philister über mir sind .... (215)

In diesem szenischen Bild wird explizit ausgeführt was in der biblischen Vorlage als auch im Vorspiel ungesagt bleibt: die Erkenntnis, daß die Selbst-Aufgabe, die Preisgabe des Geheimnisses, umsonst war, das Unglück sich dadurch nicht wendet, vielmehr den Untergang erst endgültig besiegelt.

Manes fordert durch seine Nicht-Normalität seine Mitmenschen zu einer Stellungnahme auf. JedeR sieht Manes aus ihrer/seiner Perspektive und versucht eine Antwort zu finden. Diese reichen von: gefährlich, dumm (Werach) über arm und krank (Rektor), ein bißchen verrückt (Hausierer) bis hin zu schmuck und ein bißchen durcheinander (Barbier). Einig scheinen sich alle dahingehend, daß sie etwas mit Manes machen wollen, sie wollen sein Schicksal in die Hand nehmen, alle liefern ihn damit je auf ihre Weise aus.
Blickt man auf die Personen, die als Widersacher auftreten, so fällt im Unterschied zur biblischen Erzählung auf, daß die typischen Figuren der "Feinde" aufgesplittert und zu individuellen Personen ausgestaltet werden.Spricht der biblische Text noch von den Philistern, oder den Fürsten der Philister im allgemeinen, so wandelt bereits das Vorspiel der szenischen Dichtung diese in einzelne Personen: neben dem Fürst kommen z.B. auch ein Kriegsknecht und ein Bäcker vor. In den einzelnen szenischen Bildern werden diese Personen noch stärker individuell dargestellt: Werach, der Hausierer oder der Barbier erhalten als Widersacher eine je eigene Rolle. Dadurch wird die kontrastierende schwarz-weiß Zeichnung der biblischen Erzählung aufgebrochen. Auch die Widersacher werden für die LeserInnen in ihren Handlungen verstehbar, die Grenze zwischen gut und böse, richtig und falsch verschwimmt.

Wie die Auslieferung geschieht wird in der szenischen Dichtung nicht ausgeführt, das 8. Bild gewährt - räumlich und zeitlich durch eine ungewisse Ditanz getrennt - einen kurzen Einblick in eine psychiatrischen Klinik. Manes ist aus dem normalen Alltag ausgesondert, in jenen gesellschaftlich nicht geschätzten Zwischenbereich, in dem die Erinnerung übermächtig ist. Eine der Stimmen in dieser Szene deutet mit einem Bezug zum biblischen Text an, daß dieser Aufenthalt mit der Zeit der Gefangenschaft des biblischen Simsons parallel gesetzt werden kann.
ZITTERNDE GREISENSTIMME
...Ich bin blind--Darum erinnere ich mich an Simson
drehe die Mühle--siehst du so--die Luft bekommt Schläge
damit sie aufwacht--
Erinnerung mahlt--so-so-so-- (218)

Im Bild des Fischmarkts reflektiert das 9. Bild das Thema des Ausgeliefert-werdens und der Opfer. Es ist ein zeitloser, sich immer wiederholender Vorgang, die Geschichte der immer neuen Opfer.
Als Kristallisationspunkt der Reflexion taucht hier erstmals "eine Alte" auf, die scheinbar zeitlos die Ereignisse betrachtet. Sie verkörpert eine Instanz, die unverändert über den Ereignissen steht, die die Geschichte und Zeit überblicken kann. Durch diese Funktion rückt sie in die Nähe der "Erzählstimme" der biblischen Erzählung, die scheinbar "objektiv" das Geschehen kommentiert und einordnet (9,13,14 Bild).

In diesem Bild wird erstmals auch ein Ende des Zyklus' angedeutet. Mit dem Ausruf "vergessen über Dir" (224) zeichnet sich ab, daß sich das Geschehen aus der Erinnerung entzieht, und damit abgeschlossen werden kann.
Mit dem 10. Bild wechselt die Handlung plötzlich in die Gegenwart der Aufführung, und nimmt die ZuseherInnen/LeserInnen mit hinein. Manes wendet sich direkt an ein Publikum. Indem er aber nur einzelne, fiktive Personen exemplarisch anspricht, kann die Unterscheidung zwischen realem und fiktivem Geschehen von den ZuseherInnen nicht mehr eindeutig getroffen werden. Damit fällt die Distanz weg, niemand kann mehr unbeteiligte/r, neutrale/r Betrachter/in bleiben. Manes fordert Antworten und er thematisiert das Ausweichen-wollen, nicht Hinhören-wollen und nicht Beteiligt-werden am Schmerz:
MANES
Nun wollen Sie wieder alle aufstehn
O ich habe ein feines Gefühl
Unsichtbar soll die Folterung bleiben
Höchstens ihr Blut in schwarzen Zeitungsbuchstaben verfärben--
dann ist's zu ertragen--
Ich sage Ihnen im Vertrauen:
Das Salzkorn im Vergrößerungsspiegel
ist eine galoppierende Erde
die singt vor Schmerz-- (227)

Das 11. Bild kehrt zurück in die erzählte Welt des Manes, der Hausierer bietet ihm erstmals eine neue Zukunft an, eine Arbeit beim Zirkus "offenes Dach". Vergleicht man das mit der biblischen Erzählung so zeigt sich die Parallele zum Ende der Erzählung (Simson soll beim großen Fest zur Belustigung der Gäste auftreten) und verstärkt damit die Hinweise auf das Ende im 9. Bild. Doch noch ein Thema wird in diesem Bild explizit eingeführt, das Kind, und es ist allein dieses Kind, das Manes an der Rede des Hausierers wahrnimmt, darin liegt für ihn Zukunft.
Das 12. Bild wechselt zu Nina und zeigt ihre gescheiterten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, sie gehen in der Sintflut unter, selbst das Kind entschwindet ihr. Ninas Lebensenergie ist erschöpft, sie, die immer tänzelte, gibt auf: "Schwerer werden--schwerer werden-- (233)"
Das 13. Bild wendet sich erneut Manes zu, jenseits der erfahrbaren Realität wird ihm nun, von "der Alten" das Ende gezeigt
ALTE
Steh auf--Faulpelz
der Elefantenrücken ist schon ganz durchsichtig geworden
hast gut durchschmerzt-- (236)

Dennoch versucht Manes noch im 14. Bild dieses Ende abzuhalten, er wehrt sich, sieht keine andere Zukunft, bis ihm das Kind zeigt, daß er seine verlorengegangene Einheit bereits wiedergefunden hat.
DAS KIND
Laß doch rollen Vater
Ich werf dir den Ball wieder hinauf
So spielen wir--
Mir war so langweilig im Bett
alles schwarz zugeklebt
aber du liegst in der Sonne
die geht aus deinem Kopf--rot--grün--gelb--
Alles andere liegt schon im Grab--
Vater--an deinen Füßen hängen Würmer
Ich nehme einen mit und dazu ein bißchen Gewitter
Dann lege ich mich wieder in mein Bett
sonst glaubt die Mutter ich bin ins Meer gefallen--

Es geht.

MANES
Das ist gut--nun kann ich eingehn--eingehn
Das Kind hat einen Wurm
und ein bißchen Gewitter mitgenommen-- (238)



Zusammenfassung

Die Gestalt des Manes führt den biblischen Simson fort, als einen, der die Einheit mit seinem Gott, mit seinem Leben verloren hat, dem sein ganzes Heldentum und seine Riesenkräfte verloren gingen. Die Nacht, die ausweglose Situation in der er sich befindet ist nicht seine eigene Schuld, er wurde verraten und ausgeliefert. Es ist aber auch nicht die Schuld Delilas/Ninas, auch sie sucht nach Leben. Die biblischen Feinde werden aufgeteilt auf viele, die mit der Andersartigkeit Manes nicht zurechtkommen und die je ihren eigenen Beitrag zum Schicksal Manes beitragen.

Diese szenische Dichtung von Nelly Sachs kann als sehr sensible Interpretation der biblischen Simson Erzählung gelesen werden. Sie ist weit davon entfernt, nur einige der Leerstellen zu füllen oder eine plakative Lösung anzubieten. Vielmehr verdeutlicht sie vieles von dem, was in der Bibel offen bleibt in Bildern, die viele Assoziationen aber keine eindeutige Zuordnung erlauben, und überträgt es damit in die Welt der Lesenden.